Ich habe ganz still auf dem kalten Boden gelegen. Jemand war mit einer Taschenlampe unterwegs. Der Lichtkegel fiel auf die Bäume und warf unheimliche Schatten auf mich. Ich hörte, wie eine Männerstimme den Hund beruhigte, wahrscheinlich war es ein Wachmann. Nach einer Weile hörte ich die Tür wieder zuschlagen, und das Licht in dem Häuschen wurde hell.
Ich blieb liegen, bis die Kälte durch meine Kleider drang und ich Schüttelfrost bekam. Als ich schließlich aufstand, war mir ganz schwindelig. Um mich drehte sich alles. Dann war mir, als sehe ich mich selbst von außen unter den riesengroßen Bäumen stehen. Mein Schatten war so mickrig im Vergleich zu ihren großen, knorrigen Silhouetten. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Wachmann in seinem Häuschen schon im Halbschlaf sein möge. Jemand hatte mal erwähnt, dass die Schichten sehr lang seien.
Alles war so erstaunlich still. Kein einziger Windstoß zwischen den Blättern. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden. Ich bewegte mich tastend vorwärts, hangelte mich von einem Baumstamm zum nächsten und bewegte mich so ganz langsam auf dem kleinen Pfad vorwärts. Als ich aus dem Gebüsch wieder herauskam, lag der Rasen grau und menschenleer vor mir. Vom Boden war die Feuchtigkeit aufgestiegen und bildete nun einen gespenstischen Nebel, der über dem Rasen waberte. Jetzt ließ sich auch der Mond wieder blicken. Sein Licht spiegelte sich überall. Der Tau glitzerte in einem Spinnennetz, das über die Zweige eines Busches gezogen war. Ich hörte eine Eule schreien.
Dann schlich ich zum Hauptgebäude zurück. Ich atmete so laut, dass ich die ganze Zeit Angst hatte, das würde mich verraten. Aber ich wusste, dass alle in der Klinik schliefen, die Wachmänner auch, sogar der Schäferhund, der in seiner Hundehütte erledigt auf der Seite lag. Ich ging zur Haustür, wo am Eingang die Insekten im Lichtschein der Lampe schwirrten. Schnell gab ich den Code ein, und glücklicherweise gelang es mir, im Dunkeln in mein Zimmer zurückzufinden, ohne Lärm zu machen.
Als ich die Zimmertür hinter mir schloss, setzte ich mich mit einem meiner Smartphones aufs Bett. Immer noch kein Netz. Stundenlang lag ich dann wach und versuchte, einen Plan zu schmieden, wie ich Elena befreien konnte. Das Zimmer, in dem sie sie gefangen hielten, lag im Souterrain. Konnte ich ihr durch das kleine Fenster hinaushelfen, ohne dass uns jemand erwischte? Ich spielte mit dem Gedanken, die Polizei anzurufen, doch verwarf ich ihn schnell wieder. Ted hatte mit Sicherheit eine ausgeklügelte Strategie, wie er verheimlichte, was da im Tumbler geschah. Ein paarmal hatte ich schon Eltern in der Klinik gesehen, die zu Besuch kamen. Das Personal schien darauf trainiert zu sein, solchen Besuchen ganz entspannt zu begegnen. Sie betonten immer wieder, dass alles, was dort geschah, sinnvoll und freiwillig sei. Also musste ich direkt mit Elena Kontakt aufnehmen.
Mir fiel etwas sehr Gefährliches ein – etwas so Riskantes, dass ich es mir sofort wieder aus dem Kopf schlug. Und dann, ganz langsam und sanft schlief ich ein, es war wie ein Abgleiten in die Bewusstlosigkeit.
Ich schlief tief und fest, bis mich ein Sonnenstrahl weckte, mit einem Kitzeln im Gesicht. Eine Mitarbeiterin stand in meinem Zimmer und sagte, dass ich verschlafen hätte, es gäbe bereits Frühstück. Sie wartete auf mich, während ich mich anzog. Von uns wurde erwartet, dass wir frisch geduscht und fertig angezogen dastanden, wenn sie morgens kamen und die Türen aufschlossen. Ich war todmüde, ausgelaugt und fragte mich, wie viele Stunden Schlaf ich wohl bekommen hatte.
Als ich den Flur betrat, merkte ich, dass an diesem Morgen irgendetwas anders war. Dann fiel mir wieder ein: Es war ja Silvester. Im Speisesaal stand ein Grüppchen Leute und hängte Luftschlangen an der Decke auf, andere pusteten Luftballons mit dem Aufdruck Happy New Year! auf. Die gekochten Eier auf der Theke im Frühstücksraum waren inzwischen kalt, also trank ich nur eine Tasse Kaffee und half den anderen bei den Vorbereitungen. Allerdings war ich nicht bei der Sache, weil sich in meinem Kopf alles um meine Aktion in der bevorstehenden Nacht drehte.
Später nahm ich Finn noch einmal beiseite. Dabei standen wir zufällig vor der Besenkammer, und ich öffnete die Tür, für den Fall, dass jemand fragen würde, was wir da taten.
»Jetzt erzähl mir, was da im Tumbler geschieht. Aber die Wahrheit, sonst passiert was«, sagte ich halb im Spaß. Doch offenbar jagte ich ihm trotzdem Angst ein, denn er machte einen Satz zurück.
»Hey …«, raunte er. »Fahr mal runter. Ich erzähl’s dir ja. Schau mich nicht so an.«
»Bitte, ich muss das wissen.«
»Okay. Ich habe nur Gerüchte darüber gehört, aber es ist sehr verdächtig. Es heißt, sie schließen diejenigen da ein, die Stress machen und geben ihnen Medikamente, die sie gefügig werden lassen sollen.«
»Machen sie da mit den Abhängigen einen kalten Entzug?«
»Nein, das passiert hier in der Klinik. Deshalb bekommt man am Anfang auch ein eigenes Zimmer. Ich war heroinsüchtig. Der Entzug war die Hölle. Ich habe gefroren und geschwitzt wie ein Schwein, hab gekotzt und mich eingeschissen, und das fast eine Woche lang. Immer war einer bei mir im Zimmer. Später bin ich dann in einen Schlafsaal verlegt worden.«
Da ging mir ein Licht auf.
»Da warst du in Zimmer 18, wo ich jetzt wohne!«
»Woher weißt du das?«
»Die Worte an der Wand. Kapitalistenschweine .«
Finn grinste.
»Ja, aber … stimmt doch!«
»Erzähl mir mehr vom Tumbler.«
»Es ist eine Strafe, wenn man da hinmuss. Mehr weiß ich nicht.«
»Hey komm. Du bist da gewesen.«
»Das war nur Angstmacherei. Die hatten gar nicht vor, mich dazubehalten. Mein Vater passt total auf mich auf, er ist ein Riesentyrann.«
»Seit wann machen die das schon?«
»Das Haus stand eigentlich leer, aber letzten Sommer haben sie es renoviert. Im Frühjahr fing es dann mit den Strafen an.«
»Und was haben sie mit dir gemacht?«
»Sie haben mich eine Nacht lang am Bett festgebunden. Dann ist Ted gekommen und hat mich gefragt, ob ich meine Tat bereue, und du kannst dir vorstellen, was ich geantwortet habe. Ich hab aber noch andere Dinge gehört.«
Ängstlich warf er einen Blick über die Schulter.
Ich bat ihn weiterzuerzählen.
»Dass sie mit Drogen herumexperimentieren, die für den Entzug gedacht sind. Die Leute von uns, die im Tumbler landen, werden als Versuchskaninchen benutzt. Es geht nur um Geld. Wenn sie mit ihren Experimenten die perfekte Entzugsdroge entwickeln, werden sie Marktführer.«
»Das ist ja total krank. Wer steckt denn dahinter?«
»Ich glaube, Ted und Louise. Manchmal kommt auch noch ein anderer Psychiater her.«
Wir hatten uns schon viel zu lange von der Gruppe abgesondert, aber noch war keiner der Mitarbeiter in Sicht.
»Was ist mit Elena geschehen?«, fragte ich weiter.
Finn sah mich mit großen Augen an.
»Woher weißt du von Elena?«
»Ich habe ihren Vater kennengelernt.«
»Scheiße, jetzt kapiere ich, warum du dich so auffällig benimmst.«
»Erzähl mir von ihr.«
»Sie war erst drogenabhängig und wurde dann clean. Da haben sie sie hier angestellt. Sie hat ihre Kontakte benutzt, um für uns Gras reinzuschmuggeln. Das hat sie ein paarmal gemacht, damit die Stimmung besser wird. Sie war echt cool. Aber Ted hat es gemerkt. Sie war die Erste, die sie im Tumbler eingesperrt haben. Danach hab ich nie wieder was von ihr gesehen.«
»Weißt du, dass ihr Vater seit einem halben Jahr nichts mehr von ihr gehört hat? Der ist völlig am Ende. Warum hast du keinem davon erzählt?«
»Warum sollte ich? Wenn ich noch ein paar Wochen mitlaufe, entlassen sie mich. Ich geh kein Risiko ein. Ich kann dir sagen, aus diesem Junkie-Hotel kommst du nicht zum Hintereingang raus.«
»Wie viele haben sie außerdem noch in den Tumbler geschickt?«
»Außer Lisa zwei, glaube ich.«
»Aber gibt es denn keinen, der da ein Auge drauf hat? Die Ämter? Oder die Eltern?«
»Zu den Eltern sagen sie, dass die Abhängigen isoliert werden müssen und nicht gestört werden dürfen. Nur zu ihrer eigenen Sicherheit. Einmal war einer vom Sozialpsychiatrischen Dienst hier, und da hat Ted ihm die Klinik vorgeführt. Ich hab beobachtet, wie Louise und ein paar andere vom Personal zum Tumbler gerannt sind. Wahrscheinlich haben sie da geputzt. Was weiß ich.«
Ich lehnte mich an die Wand, schloss die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Kannst du mir den Kontakt von demjenigen geben, der dir von den Experimenten erzählt hat?«, fragte ich.
»Kommt gar nicht infrage.«
»Warum nicht?«
Er musste nichts sagen, sein Blick sprach Bände.
»Das war Elena, stimmt’s?«
»Jepp. Sie war genauso neugierig wie du. Dass du hier so herumspionierst, macht mir voll Angst.«
»Mir auch«, sagte ich.
Wir sahen uns ziemlich nervös an, denn wir waren uns darüber im Klaren, wie gefährlich allein dieses Gespräch war.
»Aber ich konnte schon von viel schlimmeren Orten als dem hier abhauen … wie hast du das genannt? Junkie-Hotel?«, sagte ich.
Amüsiert lachte er.
»Wir sollten gehen. Ich höre wen kommen.«
»Moment«, sagte ich.
Ich holte eine Rolle Toilettenpapier aus dem Putzraum, riss ein paar Blätter ab, zog einen Stift aus der Handtasche und kritzelte drei Handynummern darauf – Bretts, Stans und Danis – was für ein Segen, dass ich so ein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis hatte, im Stillen dankte ich Gott dafür.
»Wenn mir etwas zustößt, musst du eine von diesen Personen anrufen – am besten gleich alle drei. Sag einfach, dass Alex in Schwierigkeiten steckt und Hilfe braucht. Versprichs mir, bitte.«
»Und wo soll ich das deponieren? Die haben mich ständig im Visier.«
»Dir wird schon was einfallen.«
»Ich darf das Handy nur im Notfall benutzen … und wenn einer vom Personal zuhört.«
»Finn … denk dir was aus.«
Er nahm die Toilettenpapierblätter und steckte sie sich in die Hosentasche.
»Okay, aber stell nichts an, Alex. Jetzt müssen wir zu den anderen zurück.«
Schnell liefen wir durch den Flur hinüber in den Gemeinschaftsraum. Da standen Ted und Louise mit Partyhüten auf dem Kopf vor der Gruppe, sie trugen Lamettagirlanden um den Hals.
»Setzt euch in Bewegung!«, rief Louise, als sie uns erblickte. »Wo habt ihr gesteckt?«
»Wir mussten ein paar Sachen in den Putzraum zurückbringen«, erklärte Finn.
Jetzt ging es um die guten Vorsätze fürs neue Jahr, die jeder sich hatte überlegen sollen. Einer nach dem anderen wurde gezwungen, sich vor die Gruppe zu stellen und den anderen zu sagen, wie sein neues Jahr aussehen sollte. Doch meist fiel immer derselbe Satz. Ich verspreche, dass ich clean bleibe .
Als ich an der Reihe war, sagte ich kurz angebunden, dass auch ich clean sein und einen festen Job haben wolle, dann setzte ich mich schnell wieder hin.
»Dann hoffen wir mal, dass du dir einen neuen Job suchen wirst«, sagte Ted und zog die Augenbrauen hoch. »Und nicht zu diesem beschissenen Chef zurückgehst.«
»Nein, bestimmt nicht«, sagte ich und schluckte.
Jetzt war Liam an der Reihe, ein stiller Junge, der Gerüchten zufolge schon in mehr Heimen gewesen war, als man zählen konnte. Ein Sponsor übernahm die Kosten für seinen Aufenthalt in der Klinik, darauf ritt Louise beharrlich herum. Liam stellte sich vor die Gruppe, lief rot an und brummelte vor lauter Nervosität ein paar Worte, die niemand verstehen konnte.
»Aber wie stellst du dir denn dein Leben im neuen Jahr vor?«, fragte Ted.
»Wird schon irgendwie werden«, sagte Liam.
»Ach, das denkst du«, sagte Louise. »Wie wäre es, wenn du dich einmal anstrengen würdest. Du hängst ja immer nur rum.«
Ich weiß nicht, was dann in mich fuhr. Vielleicht wollte ich provozieren, weil ich wusste, dass ich damit in Elenas Nähe kam, aber vermutlich lag es einfach daran, dass ich meine Klappe nicht halten konnte. Es gibt Auseinandersetzungen, die Aussicht auf Erfolg haben, und es gibt solche, die von Anfang an aussichtslos sind. Schon bevor ich den Mund aufmachte, war mir klar, dass ich damit mein Schicksal besiegelte. Und dennoch konnte ich mich nicht beherrschen.
»Wir arbeiten immerhin, während du im Büro nur deinen Hintern platt sitzt und Büroklammern verbiegst«, sagte ich und sah Louise provokant ins Gesicht.
Erst war es totenstill, dann wurde leise getuschelt. Finn hielt die Luft an.
Louise glotzte mich an, als sei ich eine Außerirdische.
Teds Gesicht wurde maskenhaft starr.
»Geh auf dein Zimmer, Alex«, keifte er mit zusammengepressten Zähnen.
Mit schnellen Schritten ging ich aus dem Saal und lief in mein Zimmer. Ein Mitarbeiter folgte mir dicht auf den Fersen. Er sprach kein Wort, ließ mich nur ins Zimmer und schloss die Tür. Ich setzte mich aufs Bett und vergrub den Kopf in den Händen. Mir kamen die wildesten Gedanken. Gleich kommen sie und holen mich. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Handys!
Ich holte beide Smartphones heraus. Die Zeit reichte nicht, um jemanden anzurufen oder eine Nachricht zu schicken. Ich schaltete beide Handys aus und versteckte sie zwischen Matratze und Bettrahmen, ganz weit hinten, damit sie hoffentlich niemand fand.
Dann erklangen Schritte vom Flur. Schwere Schritte, und zwar von mehreren Personen. Ich hielt mich an der Bettkante fest. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag dachte ich an Gott, obwohl ich gar nicht gläubig war. Trotzdem schloss ich die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
Niemand sonst konnte mir jetzt noch helfen.