Eva
Silvester. Wie immer lädt Ash & Coal seine Kunden zu einem großen Fest in der Villa ein. Eva steht im Gästehaus am Fenster und beobachtet, wie ein Auto nach dem anderen die Einfahrt hinauffährt. Mehrere Stretchlimousinen. Gäste in Abendgarderobe laufen zum Eingang der Villa. Die Herren im Frack. In der dezenten Außenbeleuchtung glitzern die Pailletten und der Schmuck der Damen.
Eva hat sich für ein schlichtes, schwarzes Kleid entschieden, aber die Spitze am Dekolleté ist transparent und überlässt kaum etwas der Fantasie. Ein paar diamantene Ohrringe, ein schmales Armband mit Diamanten besetzt. Schlichte Eleganz. Nicht protzig. Sie trägt noch eine Schicht Puder auf, der ihrem Gesicht einen nahezu gespenstischen Weißton verleiht. Dann schminkt sie sich. Die Kajalstriche um die Augen, die tiefroten Lippen und die betonten Wangenknochen verleihen ihr einen ernsten, fast schon männlichen Touch, genau so, wie sie es mag. Stark und unabhängig. Das komplette Gegenteil der anderen Eva.
Sie wartet noch, bis der Strom der Gäste versiegt.
Als sie das Gästehaus verlässt, spürt sie sofort die Kälte an ihren bloßen Armen und Beinen. Sie atmet die Winterluft ein. Die Nacht verschluckt sie, doch dann erreicht sie das Haus, und da ist es warm. Drinnen riecht es nach Parfüm und Bowle mit hochprozentigem Alkohol. Eine Geräuschkulisse aus Stimmen und Hintergrundmusik erfüllt den Raum.
Sie mischt sich unter die Gäste. Es dauert eine Weile, bis sie Carl ausfindig machen kann. Er steht an der Bar, in seinem Frack wirkt er wahnsinnig attraktiv. Wie bei einer hungrigen Schlange erwacht in Eva der Wunsch, ihn zu besitzen. Carl unterhält sich gerade mit einer Frau in den Fünfzigern, die groß und kurvig ist und ein rotes Samtkleid trägt. Ihr schwarzes Haar wellt sich über die Schultern. Seine Mutter? Unmöglich. Sie sehen sich in keiner Weise ähnlich. Außerdem hat er mal erwähnt, dass seine Mutter nicht mehr lebt. Eine Geliebte? Wohl kaum. Dafür ist sie viel zu alt. Trotzdem spürt Eva etwas wie Intimität zwischen den beiden.
Sie nähert sich. Carl ist ins Gespräch vertieft, erklärt gerade irgendwas, sagt: Bitte Amanda, würdest du mir helfen? Die Frau schüttelt ärgerlich den Kopf und antwortet etwas. Es hat den Anschein, als würde sie ihn zurechtweisen. Die Frau dreht sich um. Ihre Blicke treffen sich. Eva hebt verächtlich die Augenbrauen, doch Amanda sieht sie unbeeindruckt eiskalt an. Sie wirkt aggressiv, fast bedrohlich. Doch als sie sich wieder Carl zuwendet, lächelt sie. Ihre Wangen heben sich, und ihre Augen funkeln. Eva kann nicht verstehen, warum sich diese Kuh nicht verzieht, mit dem nächsten Gast einen Small Talk beginnt, damit Carl Zeit für Eva hat. Aber jetzt bemerkt sie etwas auf Höhe von Carls Hüfte. Seine Finger sind in Amandas Finger verschränkt. Er hält ihre Hand!
In ihrem Kopf beginnt es zu rauschen. Es kommt etwas hoch und füllt ihre Lunge – etwas, das ganz schnell raus muss. Eva würde am liebsten laut losschreien, zwingt sich aber, ganz unnatürlich still zu sein. Sie drängelt sich durch eine Menge der Partygäste, tritt dabei jemandem auf den Fuß und erreicht endlich die Toilette. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, stützt sie sich mit beiden Händen aufs Waschbecken und lässt einen Schrei los.
Das ist nicht gerecht. Sie hat Carl vor diesem Luder Alex Brisell gerettet, ihn vor den Sektenmännern beschützt und ihr Leben riskiert, als sie den Film vernichtet hat, den sie benutzen wollten, um ihn lächerlich zu machen. Soll das der Dank sein?
Es ist, als hätte jeder Muskel in ihrem Körper Feuer gefangen. Die Wut verbrennt sie bei lebendigem Leibe. Sie atmet bewusst langsamer, versucht sich zu beruhigen.
Sie betrachtet ihr Spiegelbild und frischt den Lippenstift auf. Ist bemüht, ihre verhärteten Gesichtszüge zu glätten. Sie trägt noch mehr Parfüm auf, doch der Duft jagt ihr Angst ein, als gehöre er in eine andere Zeit, eine längst vergangene Epoche. Die Vergangenheit und die Gegenwart fließen ineinander, bis kleine Punkte vor ihren Augen tanzen.
Irgendwie muss sie das aufhalten. Sie lehnt sich an die Wand, lässt sich in die Hocke sinken und holt die Dose mit den Tabletten aus der Handtasche. Es sind nur noch ein paar wenige übrig. Sie schluckt gleich zwei, ohne Wasser. Lange hockt sie so da und konzentriert sich auf ihre Atmung, bis sich ihr Körper nach und nach entspannt.
Als Eva hinauskommt, steht Carl noch immer an der Bar. Allein. Kaum kommt sie in seine Nähe, fällt ihr auf, dass er nach After Shave riecht. Das ist ganz neu. Für wen hast du diesen Duft aufgelegt, Carl? Unauffällig huscht sie hinter ihn und schiebt ihren Arm unter seinen.
»Sollen wir den Leuten was zum Reden geben?«, flüstert sie ihm ins Ohr.
Er fährt herum und sieht sie irritiert an.
»Ich mach nur Spaß«, sagt sie. »Du siehst müde aus. Soll ich dir helfen, die Gäste zu unterhalten?«