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Carl

Die Gäste sind längst gegangen. Mit trostlosem Blick schaut Carl aus dem Fenster hinters Haus. Draußen ist es stockfinster, und in ihm sieht es kaum anders aus. Heute Nacht wird er nicht gut schlafen. Dieser Schmerz in der Brust ist wieder da, dazu noch die ständige Unruhe und die Angst.

Er muss diese deprimierte Stimmung loswerden und sich zusammenreißen. Wenn er nur Alex zurückgewinnen könnte, dann wäre das Leben wieder schön, dann wäre es wieder etwas Besonderes. Früher war alles so einfach. Er hatte eine intensive Beziehung mit einer Frau, allerdings auf Zeit – und danach gingen beide ihrer Wege. Aber mit Alex ist alles so intensiv, dass es unmöglich ist, ohne sie einfach weiterzuleben.

Seit er in Schweden ist, schläft Carl miserabel. Manchmal erwacht er von seinem eigenen Schluchzen – das kommt aus seinem tiefsten Inneren. Im Traum ist er wieder zwölf Jahre alt. Er steht in der Küche und macht sich in die Hose, als er zusehen muss, wie sein Vater seine Mutter misshandelt. Und wenn er aufwacht, liegt er noch lange mit pochendem Herzen wach. Immer stärker hat er das Gefühl, dass er sich auf einen Abgrund zubewegt, dass ihn etwas Schreckliches erwartet.

Mensch, entspann dich , sagt er zu sich selbst, da im Dunkeln.

Er fragt sich, ob ihn das Gespenst aus seinem Traum jetzt eingeholt hat. Viele renommierte Psychologen haben geschrieben, dass Albträume von der Umgebung getriggert werden können. Aber er weiß überhaupt nicht, was ihn jetzt gerade an seine Kindheit erinnert.

Er hinterfragt sich selbst. Wann hat er angefangen, sich anders zu verhalten? Als Eva aufgetaucht ist? Oder schon früher? Carl kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Aber er erkennt sich selbst nicht mehr, in einem Schleier aus Wehmut hat er sich hilflos verfangen.

Die Stille im Haus hat etwas Hämisches. Das ist seine Villa. Mit ihr verbindet er die allerschönsten Erinnerungen. Aber jetzt kommt er sich hier wie in einem Gefängnis vor. Der Raum schrumpft jeden Tag. Der Sauerstoff wird weniger. Er hat nicht einmal mehr Spaß daran, auf der Hindernisbahn, die auf seinem Grundstück steht, zu trainieren.

Bald wird es besser , tröstet er sich selbst. In absehbarer Zeit sind sie mit den Dreharbeiten fertig. Von dieser freireligiösen Gruppierung sind keine Drohmails mehr gekommen. Und auch Brett spricht wieder mit ihm, wenn auch ungern. Aber er weigert sich standhaft, etwas von Alex preiszugeben.

Carl greift zum Handy und checkt seine Mails. Eva hat ihm einen Link zu einem Clip von den aktuellen Filmaufnahmen geschickt. Er klickt ihn an. Auf dem Video sieht er etwas blass aus, doch seine Stimme ist ganz sachlich und überzeugend.

Die Mitarbeiter hier im Haus sind entscheidend. Wir können die Räume in schönen Farben streichen, einen Swimmingpool aufstellen, die Wände mit echter Kunst vollhängen – aber dabei dürfen wir nie vergessen, dass es unsere Aufgabe ist, uns um die Menschen zu kümmern. Der Solvikhof soll ein Zufluchtsort für Frauen werden, die Gewalt erfahren haben. Ihr Leben ist ein Albtraum. Erst durch die Mitarbeiter, denen das bewusst ist, wird der Solvikhof zu einem bedeutsamen Ort.

Seine Worte klingen ehrlich und authentisch. Sie sind auch wirklich echt, aber warum kann Carl sich überhaupt nicht darüber freuen? Noch einmal versucht er sich einzureden, dass alles gut werden wird. Dass Alex ihm verzeihen wird. Amanda wird ihm helfen, so wie sie es immer getan hat.

Schließlich liest er die letzte Nachricht von Alex noch einmal. Dann kannst du dich verpissen.

Es tut zu weh zu glauben, dass sie es ernst meint. Sie sagt häufig Dinge, die ihr hinterher leidtun. Das ist eine der vielen Seiten, die er an ihr liebt – ihre Schlagfertigkeit. Er hat ihren lockeren, flirtenden Schlagabtausch immer gemocht. Aber das gehört in die Zeit, bevor sie Streit hatten, bevor Eva aufgetaucht ist. Er versucht, sich damit zu beruhigen, dass Alex immerhin geantwortet hat. Jetzt muss er sich jedes Wort gut überlegen. Muss überzeugend sein.

Er steht auf und mischt sich seinen dritten Gin Tonic. Das ist eigentlich gar nicht seine Art. Er betrinkt sich nie. In Bars geht er auch nur ganz selten. Und eigentlich macht er auch nie echte Fehler, die er hinterher bereut. Das ist jetzt tatsächlich das erste Mal.

Als er versucht, eine Nachricht an Alex zu formulieren, scheitert er kläglich. Er schreibt ein paar Sätze, löscht sie wieder, setzt neu an, aber nun wirkt jedes Wort gestelzt. Es ist unmöglich, diese Nacht mit Eva, die er nur in schrecklichen, unscharfen Bildern in Erinnerung hat, in Worte zu fassen. Er kann es nicht darauf schieben, dass er in der Situation nicht er selbst gewesen ist. Er schämt sich so. Vor Scham wird ihm schlecht. Der Druck im Brustkorb wird schlimmer, und schließlich legt er das Smartphone ganz aus der Hand.

Carl sieht Alex vor sich, stellt sich vor, was sie gerade macht. Vermutlich hat sie den Abend mit Steve und Dani in Santa Cruz verbracht. Da ist sie zwar in Sicherheit, aber vermutlich fällt ihr die Decke auf den Kopf. Und wütend ist sie bestimmt auch noch.

Er lächelt. Es ist ein gutes Gefühl, sie an einem Ort zu wissen, wo sie nichts anstellen kann. Aber er weiß sicher, dass auch ihre Gedanken beim Silvesterfest vom letzten Jahr sein werden. Bei der Kirche, der Krypta, dem Tod, der im Wald lauerte, und wie haarscharf sie an der Katastrophe vorbeigeschlittert sind. Beinahe hätten sie sich verloren. In dieser Nacht hatte er sie ganz, ganz festgehalten, seine Tränen in ihrem Haar. Seitdem hat er seine Gefühle für sie nicht mehr infrage gestellt. Und sie ist einfach nur da gewesen und hat ihn auf so wunderbare Art vollkommen glücklich gemacht.

Erst als seine Wangen feucht werden, merkt er, dass er weint.

Wenn er doch endlich wieder frische Luft atmen könnte. Alex’ Luft.

Auf einmal hat er Sehnsucht nach San Francisco, nach den warmen, langen Tagen und den kühlen Nächten. Nach allem Alltäglichen, nach dem unkomplizierten Leben. Dem Stimmengewirr auf der Sacramento Street. Alex, die zu spät im Büro auftaucht. Schon wieder. Sie sieht wie ein verschämter kleiner Hund aus, bis er in Lachen ausbricht. Sein Witz, dass sie jetzt tausendmal Entschuldigung schreiben muss.

Da kommt ihm eine Idee, und nun schreibt er ganz spontan die Antwort auf ihre SMS .

Bitte, können wir am Telefon darüber sprechen? Ich schreibe eine Million Mal Entschuldigung, wenn du mit mir sprichst. Du musst mir auch nicht verzeihen. Du darfst mich hassen – aber Alex, ich bitte dich, sprich mit mir.

Zur Sicherheit schickt er Brett dieselbe SMS und bittet ihn, sie Alex zu zeigen.

Sie wird es also lesen.

Sie wird noch immer stinkwütend auf ihn sein, aber sie wird sich das Lachen nicht verkneifen können. Und dann ruft sie ihn bestimmt an.

Plötzlich ist er todmüde. Irgendwann wird er schon einschlafen. Wenn er zurück in San Francisco ist, bringt er alles wieder in Ordnung.

Das ist sein einziger guter Vorsatz für das neue Jahr.