Die Frau, die uns öffnete, war stockbesoffen. Sie trug ein langes Abendkleid. Auf dem Kopf thronte ein Glitzerdiadem aus Plastik, um den Hals hatte sie sich einen Luftballon gebunden. Als sie uns erblickte, stand ihr das Misstrauen geradezu ins Gesicht geschrieben. Von drinnen drangen laute Musik, ausgelassene Stimmen und von Haschrauch schwere Luft bis an die Tür.
Ich kroch an der Frau vorbei ins Haus und brach auf dem Boden zusammen. Elena kam hinterher und sank neben mich.
»Bitte helfen Sie uns«, sagte ich. »Wir werden verfolgt.«
Eine andere Frau, die nicht ganz so betrunken war, erschien im Flur.
»Seid ihr Freunde von Becky?«, fragte sie.
Jetzt begriff ich, dass sie uns für verspätete Gäste hielt, die betrunken waren.
Ich umklammerte ihr Bein.
»Bitte, helfen Sie uns, wir sind aus der Sanctum-Klinik geflohen.«
Das machte alles nur noch schlimmer. Die Frau zog ihr Bein weg und sah mich angewidert an. Vermutlich war ihr erster Gedanke, dass wir Drogenabhängige seien, die auf einem Trip waren.
»Sie haben uns misshandelt«, sagte ich.
Das setzte sie in Bewegung.
»Holt Becky, sie ist auf der Toilette«, sagte die Frau, die immer noch in der Tür stand. Dann hockte sie sich hin und drückte mich.
»Oh, ihr Armen. Aber ihr müsst keine Angst haben, hier seid ihr in Sicherheit.«
Sie half uns auf die Beine und führte uns zur Treppe ins Obergeschoss. Ich war völlig entkräftet und kam nur die Stufen hoch, indem ich mich ans Geländer klammerte. Elena folgte mir.
Die Frau führte uns in ein Schlafzimmer, wo wir uns auf eines der zwei Betten setzten. Der Raum kam mir nach den Stunden in der engen Zelle bei Sanctum unglaublich groß vor. Ich wollte der Frau erklären, was geschehen war, doch alles war so schnell gegangen, dass ein Teil von mir noch immer auf der Flucht war und durch den Wald rannte. Und mein einziger Gedanke war, dass ich so schnell wie möglich mit Brett oder Dani sprechen musste.
Das Fenster war gekippt, und von draußen drang frischer Nadelwaldduft ins Zimmer. Doch diesen Duft nach Freiheit konnte ich nur kurz genießen, denn eine Explosion im Untergeschoß holte mich schlagartig in die Realität zurück. Mein Herz begann zu rasen, mir trat der Schweiß auf die Stirn.
»Das sind nur die Silvesterknaller«, beruhigte mich die Frau. »Wartet hier kurz. Wir müssen sofort die Polizei verständigen.«
»Nein, Moment«, rief ich. »Ich muss jemanden anrufen, darf ich Ihr Handy leihen?«
Es war ein Gefühl, als würde mein Bewusstsein außer Kontrolle geraten und mein Kopf explodieren, wenn ich nicht auf der Stelle mit jemandem sprechen konnte, der mir vertraut war.
»Das liegt unten. Ich kann es holen. Wartet einen Augenblick.«
Stillzusitzen war beinahe so anstrengend wie zu rennen. Die Milchsäure verteilte sich überall in meinen schmerzenden Muskeln. Jeder Atemzug blieb wie ein Vogel im Netz in meiner Lunge stecken. Aber der Schwindel war weg. Elena starrte stumm vor sich hin und keuchte, als würde sie immer noch rennen.
»Wir haben es geschafft«, sagte ich.
»Ich kann es nicht fassen«, sagte sie.
Ein gedämpfter kleiner Schrei und lautes Lachen drangen vom Erdgeschoss hinauf. Der Bass der Musik dröhnte. Es war ein gutes Gefühl, mit ganz normalen, betrunkenen Menschen unter einem Dach zu sein. Aber ich war noch immer hochgradig angespannt und in Angst, dass auch jetzt noch etwas Schreckliches passieren könnte. Jederzeit könnte Ted hier mit den Hunden vor der Tür stehen und die Frau davon überzeugen, dass wir ausgebüxte Junkies seien, die ihnen Lügen auftischten. Wahrscheinlich käme er mit Verstärkung, und die Männer würden uns zu Teds Pick-up schleifen und in die Klinik zurückbringen. Meine Gedanken kreisten permanent um die engen Zellen im Tumbler. Ich konnte die Bilder nicht abstellen. Die Aufnahme in die Klinik war so leicht gewesen, es hatte einen Hauch von Abenteuer gehabt. Aber mit der Flucht von Sanctum waren alle Erinnerungen an die schlimmste Nacht meines Lebens, die Nacht, in der ich Dani aus der Krypta rettete, wieder wach geworden. Sie hatten sich in mir eingebrannt. Alles, was damals geschehen war, wiederholte sich gerade wieder. Renn, so schnell du kannst. Dreh dich nicht um. Der Tod ist hinter dir her. Er wird dich einholen.
Das Bett, auf dem wir saßen, stand unter einem großen Fenster. Im Garten war nichts zu sehen, der Rasen badete in blassem Mondlicht. Vielleicht hatten Ted und seine Lakaien die große Villa trotz aller Widrigkeiten übersehen? Ich nahm die Schattenseite des Gartens genau ins Visier. Doch es bewegte sich dort wirklich nichts.
»Bitte, Alex, starr nicht so aufs Fenster«, sagte Elena. »Da ist keiner.«
»Bist du ganz sicher?«
»Absolut.«
Jetzt hatte sie wieder etwas Farbe im Gesicht, und sie atmete auch wieder ruhiger.
Die Frau kam mit dem Smartphone in der Hand zurück. Als sie die Tür öffnete, schwappten dröhnende Musik und Rauch in unser Zimmer. Ich nahm ihr das Telefon gleich aus der Hand und wählte Bretts Nummer. Seine vertraute Stimme löste bei mir einen Heulkrampf aus.
»Oh Brett, wie gut, dass du rangehst. Ich hab Elena bei mir. Wir sind geflohen.«
»Jesus fucking Christ, Alex! Wo bist du?«, fragte er.
Und in diesem Moment wusste ich, dass alles gut werden würde.
Mit Blaulicht und Martinshorn kam die Polizei. Wir fuhren noch in derselben Nacht zurück nach San Francisco. Auf der Fahrt hing mein Blick unablässig an den Scheiben. Hinter uns blieb die Landschaft in der Dunkelheit verborgen. Ich fuhr die Scheibe ein bisschen herunter. Mit jedem Lichtmast, den wir passierten, schien die Luft wärmer zu werden. Vor uns explodierte das Hafenfeuerwerk der Stadt. Die Schatten von den Bergen bei Marin Headlands lagen in der Nacht verborgen. Erst wirkte die Stadt wie ein verschwommener, gelber Fleck, der immer größer wurde, bis sich San Franciscos Skyline wie eine glitzernde Perlenkette vor uns präsentierte.
Ich hielt Elena im Arm. Sie war ganz still. In ihrem Gesicht war nur unglaubliches Staunen zu lesen. Ich streichelte ihr über die Hand.
»Werde ich meinen Vater wirklich wiedersehen?«, fragte sie.
»Ja, die Polizei hat ihn angerufen. Er ist schon auf dem Weg zur Wache.«
»Ich kann es einfach nicht fassen.«
Das erinnerte mich daran, dass sie diejenige von uns beiden gewesen war, die schneller gerannt war, mich mitgeschleift und die letzten Schritte bis zum Haus gestützt hatte. Jetzt würde sie auch alles andere durchstehen. Genau wie Dani.
Als wir über die Golden Gate Bridge fuhren, drang die milde Luft in den Wagen und kühlte mein Gesicht. Ich sah zu Elena hinüber und lächelte sie an. Da bemerkte ich, dass sie sich allmählich entspannte. Und dann huschte sogar ein klitzekleines Lächeln über ihr Gesicht.
Über der Polizeiwache lag blauer Himmel. Das grelle Licht der Leuchtstoffröhren in der Rezeption tat gut. Als wir hineinkamen, war es wie eine Befreiung. Und da stand Brett, der auf uns gewartet hatte. Ich warf mich ihm in die Arme. Da überkam mich alles auf einmal. Meine Welt setzte sich in Bewegung, und ich musste die Augen schließen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Du kleiner Dummkopf«, sagte Brett liebevoll. »Das hätte böse ausgehen können. Was für ein Glück für mich, dass Carl in Schweden ist.«
Ich war kurz davor loszuheulen und hielt mir die Hände vors Gesicht.
»Gehts dir nicht gut?«, fragte er besorgt.
»Nein, nicht so.«
Mit diesen Worten fiel mir eine Last von den Schultern.
»Ich habe mich wie in einem Film vom letzten Silvesterabend gefühlt«, sagte ich. »Und jetzt wäre es auch beinahe schiefgegangen.«
Brett hielt mich ganz fest in seinen Armen.
»Lass es einfach raus«, sagte er.
Gerade als ich das tun wollte, sah ich Elena in dem grellen Licht stehen, blass und verloren, daher beschloss ich, noch eine Weile zu warten, bevor ich Brett mein Herz ausschüttete.
Doch kurz darauf war Oliver da, und Elena und er lagen sich gleich in den Armen, lachten und weinten abwechselnd. Der Anblick schnürte mir den Hals zu, ich brachte eine ganze Weile keinen Ton heraus. Während wir auf die Vernehmung warteten, lieh ich Bretts Handy und rief Dani an. Ich überlegte mir sehr genau, was ich ihr erzählte. Ich wollte vermeiden, dass sie überreagierte und ihren sicheren Zufluchtsort in Santa Cruz aus Sorge um mich verließ.
»Mir gehts gut«, sagte ich immer wieder. »Brett ist bei mir und kümmert sich um mich. Die Polizei hat die Lage unter Kontrolle. Ich melde mich später … sobald es geht.«
Ihre Stimme am anderen Ende der Leitung klang piepsig.
»Komm her«, sagte sie schließlich. »Bitte Alex, komm zu uns.«
»Das mache ich. Aber zuerst fahre ich nach Half Moon Bay und erhole mich zu Hause ein paar Tage.«
Die Beamtin, die mit Elena und mir sprechen wollte, war eine entfernte Verwandte von Brett. Allein diese Tatsache war schon beruhigend, ich konnte ihr also vertrauen.
»Mein Name ist Donna Miller, ich ermittle in diesem Fall«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Eigentlich heiße ich Dananza, aber wer will schon mit so einem Namen rumlaufen?«
Wir nahmen vor ihrem Schreibtisch Platz. Elena vergrub den Kopf in den Händen und begann zu schluchzen. Donna stellte ihr eine Schachtel Tissues hin.
»Bedienen Sie sich«, sagte sie. »Wir haben genug. Wir werden versuchen, es kurz zu machen.«
Dann reichte sie uns zwei Flaschen Mineralwasser. Erst als ich anfing zu trinken, merkte ich, wie durstig ich war. Die halbe Flasche trank ich in einem Zug.
Während Donna uns zuhörte, machte sie Notizen auf einem Block, den sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Die meiste Zeit erzählte Elena von ihren Erlebnissen in der Sanctum-Klinik. Ich ergänzte, was in den vergangenen Tagen geschehen war. Elena sprach klar und deutlich, aber sie knüllte ein Papiertaschentuch nach dem anderen in ihrer Hand zusammen und legte die Kugeln dann vor sich auf den Tisch.
Ich sah Donna sehr schnell an, dass sie uns glaubte. Sie unterbrach uns nur ein einziges Mal, um zu fragen, ob wir eine Pause bräuchten, aber wir wollten es lieber hinter uns bringen und uns alles von der Seele reden.
Als wir fertig waren, sagte sie, es sei notwendig, dass wir ärztlich untersucht würden, und zwar schnell. Elena überreichte ihr Teds Notizen, die sie aus der Zelle mitgenommen hatte. Donna überflog sie kurz und zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist wirklich sehr ernst«, sagte sie. »Jede Art von klinischer Forschung mit Drogen muss von den amerikanischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörden genehmigt werden, und dass Sie zu so etwas gezwungen wurden, ist einfach schrecklich.«
»Glauben Sie uns denn?«, fragte Elena betreten.
»Ja. Sanctum in Sausalito ist schon mehrfach aufgefallen. Erst vor ein paar Monaten war da dieser junge Mann, der geflüchtet und dann an einer Überdosis gestorben ist. Und dann …«
»Nathan Parks?«, fragte ich dazwischen.
»Ja. Aber jetzt werde ich Sie darüber aufklären, wie wir weiter verfahren.«
Donna legte den Stift hin und sah uns sehr ernst an, erst Elena, dann mich.
»Von Sanctum wird uns jemand anrufen und mitteilen, dass Sie geflohen sind. Er wird behaupten, dass Sie beide kriminell und drogenabhängig sind und dass Sie lügen. Dann werde ich mitspielen und ihm versichern, dass wir auf seiner Seite stehen. Einfach, um Zeit zu gewinnen. In dieser Zeit werden wir eine Razzia vorbereiten, um die anderen zu befreien, die sich noch in diesem Gebäude befinden, das Sie den Tumbler nennen. Ich hoffe, wir kriegen es hin, parallel dazu auch Razzien in anderen Sanctum-Kliniken vorzunehmen. Deshalb muss ich Sie ganz dringend bitten, ein paar Tage alles für sich zu behalten. Wir dürfen nicht riskieren, dass Sanctum davon Wind bekommt und Beweise vernichtet oder den anderen Patienten Schaden zufügt.«
Danach sprach sie mit Brett und Oliver und erteilte ihnen ein klares Verbot, irgendwelche Informationen weiterzugeben.
»Auch nicht an meinen Chef, der gerade in Schweden ist?«, fragte Brett bestürzt. »Er arbeitet mit Sanctum zusammen, ich hoffe, er befindet sich nicht selbst in Gefahr.«
»Auf keinen Fall«, sagte Donna. »Sausalito ist ja nur eine Klinik unter vielen, die das Unternehmen unterhält. Es geht doch bloß um ein paar Tage. Kümmere dich so lange um Alex und macht euch ein paar gemütliche Tage, bis das Ganze vorbei ist. Du weißt doch, wie so was geht, Brett.«
Donna wandte sich nun an Oliver.
»Wir müssen Elena ins Krankenhaus einweisen und eine gründliche Untersuchung machen lassen. Sie können aber gern mitkommen und bei ihr bleiben, wenn Sie möchten.«
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als seien all meine Kräfte versiegt. Ich wollte nur noch nach Hause. In die warme Badewanne. An Brett gekuschelt einschlafen, wenn er nichts dagegen hatte. Aber es fiel mir schwer, mich von Elena zu trennen.
»Geht nicht weg!«, bat sie mich. »Wenn du jetzt weggehst, dann kommen sie wieder und holen mich zurück!«
»Das tun sie ganz bestimmt nicht«, versprach ich ihr. »Dein Vater und die Polizei werden auf dich aufpassen. Gib mir deine Handynummer, ich rufe dich später an.«
»Tut mir leid, das hab ich ganz vergessen. Ich hab gar kein Handy mehr.«
Ich sah mich auf der Polizeiwache um, dann fiel mein Blick auf einen Flyer über das soziale Engagement der Polizeibehörde. Auf der Theke am Eingang fand ich einen Kugelschreiber und kritzelte meine Mailadresse auf die Rückseite des Flyers.
»Schick mir eine Mail, sobald du Zugang zum Internet hast. Und auf dem Handy deines Vaters kann ich dich ja auch erreichen.«
Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um und sah mich ein letztes Mal an. Ihr Gesicht badete in dem kalten Licht der Leuchtstoffröhre.
»Dann bis bald?«, fragte sie ängstlich.
»Ja, ganz bestimmt«, versprach ich.
Bei meiner ärztlichen Untersuchung konnte man nichts Auffälliges finden, außer hohem Blutdruck, was mich kein bisschen überraschte. Als Brett und ich nach Half Moon Bay zurückkamen und unser Haus erblickten, stand ein Wachmann auf dem Balkon und winkte uns zu. Es war Mark. Ich war heilfroh, weil das bedeutete, dass er sich von der Schussverletzung gut genug erholt hatte, um wieder arbeiten zu können. Erstaunlich, dass er sich überhaupt traute. Inzwischen war es drei Uhr nachts. Ich war mit den Kräften völlig am Ende und total durcheinander. Ein Bad zu nehmen, war mir jetzt viel zu anstrengend. Sogar das Zähneputzen ließ ich ausfallen. Der Tag schien kein Ende zu nehmen, jetzt wollte ich einfach nur noch ins Bett. Mein Körper befand sich im Leerlauf, und ich stand kurz davor, ohnmächtig zu werden.
Brett brachte mich ins Bett. Er setzte sich auf die Kante und nahm meine Hand.
»Tut mir leid, dass ich deinen Silvesterabend gecrasht habe, Brett«, murmelte ich noch.
Doch was er darauf erwiderte, hörte ich schon nicht mehr. Beim Anblick seiner Lippen, die sich langsam bewegten, schlief ich ein.