Hawk Hill, Marin Headlands, Kalifornien
Die Versammlung der Männer findet weit oben in den Bergen statt. Das Naturreservat erstreckt sich achtzig Kilometer nördlich der Golden Gate Bridge bis nach Point Reyes. Dort findet man ein ausgedehntes Wanderwegenetz vor, doch keiner der Pfade führt an dem exklusiven Bunker der Sekte vorbei.
Hawk Hill ist ein Zufluchtsort, der seinesgleichen sucht. Oben auf dem Berggipfel, wo die Männer jetzt stehen, hat man einen ungetrübten Ausblick auf die Marin Headlands. So weit das Auge reicht, sieht man nur eine unglaubliche Weite, eine wilde, hügelige, grasbedeckte Landschaft. Im Frühjahr, wenn die kalifornische Mohnblume blüht, leuchten die Headlands orangefarben, aber nun ist die Erde strohgelb blass. Durch die Luft dringt das rhythmische Summen der Grillen. Der Wind trägt einen leichten Duft von wildem Fenchel und Eukalyptusrinde. Eine Erdmaus rennt vorbei, kollidiert beinahe mit den Schuhen der Männer, bleibt aber unbemerkt. Oben am Himmel kreisen die Bussarde. Sie senken ihre Flugbahn immer mehr, nähern sich den Männern und geben heisere Schreie von sich.
Die Männer stehen im Halbkreis um Dough Marwood, ihren Anführer. Er hält eine flammende Rede, aber seine Stimme klingt ernst. Die Finanzen haben sie bereits abgehandelt, das Pflichtprogramm ist erledigt. Die heutige Zusammenkunft schließt nun mit etwas anderem. Mit Träumen. Mit Zukunftsvisionen.
Dough verstummt. Er setzt ein nachdenkliches Gesicht auf, als hätte ihn soeben eine göttliche Botschaft erreicht.
»Wenn das Kind bei uns ist, bringen wir es nach Hawk Hill und segnen es«, sagt er. »In diesem Augenblick wird es das ewige Leben erlangen. Es wird der König des Berges sein, wird von hier aus die Zukunft schauen.«
Die anderen Männer nicken, doch Adam Wahlberg sieht skeptisch aus.
»Ich weiß, ich habe das schon mal angesprochen, aber darf ich fragen, was daran so wichtig sein soll?«, fragt er. »Dass wir zusammenkommen, um alles Geschäftliche zu besprechen, leuchtet mir ein, aber ich habe immer den Eindruck, das Kind ist das wichtigste Thema auf der Tagesordnung.«
Dough lächelt nachsichtig.
»Unser Einfluss auf die Welt ist nicht so groß, wie er sein könnte, Adam. Es gibt so viele Bedrohungen; die Feministenlesben, die Schwulen, die Schwarzen mit ihren Protestbewegungen und dann diese idiotischen Umweltaktivisten – um nur einige zu nennen. Lauter lachhafte Menschen, die ein ganz und gar sinnloses Leben führen. Sie kämpfen für Dreck und beschmutzen die ganze Gesellschaft damit. Sie sind genauso ein Elend wie Läuse, und um sie zu vernichten, benötigen wir klarere Machtstrukturen. Unser allererster Anführer hat das alles bereits vorhergesagt. Er hat auch gesehen, dass dieses Kind groß werden und uns in die Zukunft führen wird. Aaron und ich sind nicht unsterblich. Wenn wir nicht mehr existieren, braucht ihr einen potenten Ersatz. Dieses Kind hat das Potenzial, es kann zu etwas Großem erzogen und gezüchtigt werden. Glaubst du an Gott, Adam?«
»Ja, ganz fest. Ich habe eine christliche Erziehung genossen.«
»Gut. Obwohl wir nicht Christen im traditionellen Sinne sind. Das Christentum ist zu einem inhaltslosen Wohltätigkeitsverein mutiert. Wir haben eine andere, innigere Beziehung zu Gott. Du musst wissen, dass Gott unserem Orden die Verantwortung für den Zustand dieses Planeten anvertraut hat. Und jetzt hat er uns ein heiliges Kind geschenkt. Was also könnte wichtiger sein?«
»Nichts natürlich«, erwiderte Adam.
Ein anderes Ordensmitglied, Thomas Jackson, steht ein wenig abseits und hört nicht mehr zu. Er beobachtet die Bussarde am Himmel, ist fasziniert von deren kreisendem Tanz.
Dough ruft seinen Namen.
»Sind deine Jungs bereit, Tom?«
»Ja, alles ist vorbereitet. Tut mir leid, was da bei Sanctum passiert ist. Das kam total unerwartet.«
»Egal. Im Augenblick ist das zweitrangig. Adam wird es in die Hand nehmen.«
Adam Wahlberg räuspert sich, um die Aufmerksamkeit der anderen zu gewinnen.
»Wollt ihr wissen, was ich in dieser Situation tun werde?«
»Nein, damit vergeuden wir nur unsere Zeit«, sagt Dough. »Leg das Experiment vorübergehend auf Eis. Schließ diesen Scheißladen in Sausalito.«
»Das hatte ich sowieso vor. Aber was soll mit … Alexandra Brisell geschehen?«
»Sie ist unwichtig. Wir konzentrieren uns auf das Kind. Wenn die Reportage erst läuft, wird sie vor Scham sterben, dass sie sich jemals mit Asher abgegeben hat.«
»Und Eva?«
»Die schöne Eva ist ein Elefant im Porzellanladen. Mit ihr hat Axel alle Hände voll zu tun. Wir hoffen, dass sie sich etwas beruhigt, wenn sie das Kind sehen darf.«
»Nils Wallin sollte ihr mal eine ordentliche Dosis Beruhigungsmittel verschreiben«, schlägt Adam vor. »Ansonsten könnte es sein, dass sie uns die Hölle heißmacht.«
Der Anführer Dough geht zu Adam und legt ihm väterlich die Hand auf die Schulter.
»Du bist jung, Adam. Ein bisschen impulsiv. Mit der Zeit wirst du es lernen. Eva braucht etwas wesentlich Potenteres als Beruhigungsmittel, um auch nur annähernd so etwas wie Muttergefühle zu entwickeln. Vielleicht ein paar ordentliche Elektroschocks. Ich werde mit Nils Kontakt aufnehmen. Du konzentrierst dich darauf, den Skandal bei Sanctum klein zu halten.«
»Es ist gerade ein Tag seit der Razzia vergangen, und schon stürzen sich Polizisten und Presse auf mich. Sogar ein Redakteur von der San Francisco Chronicle hat angerufen und möchte einen Kommentar für seine Zeitung. Die Huffington Post genauso.«
»Sag denen einfach, der Vorfall sei auf das Fehlverhalten eines ungelernten Mitarbeiters zurückzuführen«, schlägt Dough vor. »Erklär ihnen, dass ihr die Personalpolitik bei Sanctum verschärfen und bei den Einstellungen künftig rigoroser sein werdet. Betone, dass ihr jeden Tag Leben rettet. Kauf dir einen Arzt, der eine Studie mit hervorragenden statistischen Ergebnissen vorlegt, 95 Prozent der Patienten gelingt der Weg aus der Abhängigkeit, so was in der Art. Je entspannter du mit den Behörden umgehst, desto größer wird deine Macht. Hol dir Hilfe von Kommunikationsprofis. Oder wende dich an Aaron. Was willst du? Ganzseitige Anzeigen, in denen Sanctum gelobt wird? Reklame im Fernsehen? Du bekommst alles von uns, was du brauchst, Adam.«
Langsam bewegen sich die Männer auf den Bunker zu. Die Sonne ist jetzt hinter den Bergen verschwunden. Um diese Jahreszeit wird es früh dunkel.
Einer der Bussarde segelt zu den Männern hinab, begibt sich in den Sturzflug und schreit. Doch ganz schnell dreht er wieder ab und fliegt zu seinem Schwarm zurück. Hier gibt es nichts zu holen. Kein Sterben, kein böser, plötzlicher Tod. Der Wind greift den Vögeln unter die Schwingen, hebt sie in die Lüfte. In einer perfekt synchronen Bewegung bilden sie einen Kreis, steigen auf und verschwinden in den Wolken.