Am nächsten Morgen rief Donna von der Polizei an und berichtete, dass sie die Razzia bei Sanctum durchgeführt hätten. Ted und Louise säßen nun in Untersuchungshaft, darüber hinaus hätten die Polizeibeamten drei Personen befreien können, die noch im Tumbler eingesperrt waren. Sie hätten auch Beweise gefunden, dass in mehreren Einrichtungen von Sanctum Experimente mit Medikamenten stattgefunden hätten. Die amerikanische Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde sei in die Ermittlungen eingeschaltet worden. Viel mehr hatte Donna nicht mitzuteilen, aber ich begriff, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis Sanctum der Aufmacher in jeder Zeitung war.
Brett und ich atmeten auf. Er erzählte, dass er in die Stadt fahren und eine neue Klientin abholen müsse, und fragte, ob ich mir schon zutraute, ein paar Stunden allein zu sein. Ich versicherte ihm, dass ich das schaffte. Er ließ mir sein Handy da, damit ich mit Dani sprechen konnte, während er weg war, und auf dem Heimweg wollte er mir ein neues Smartphone besorgen.
»Und weißt du was, da hat dir jemand eine SMS geschickt«, sagte er. »Jemand, der sich Finn nennt. Kennst du den?«
»Ja, von Sanctum.«
»Woher hat er meine Nummer?«
»Die hat er von mir. Für den Fall, dass mir etwas passiert.«
»Ja, für den Fall«, gab Brett zurück und schüttelte den Kopf.
Ich rief die Nachricht ab. Kannst du das bitte an Alex weiterleiten? Gut gemacht. Bin wieder zu Hause. Clean. Wenn du wieder in der Stadt bist, lade ich dich auf einen Drink ein.
Ich mochte Finn. Schnell schrieb ich eine Antwort und nahm die Einladung an.
Brett war gerade losgefahren, da fand ich Olivers Handynummer und rief Elena an. Sie war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden und ziemlich gut drauf. Eigentlich wollte ich nicht über Sanctum reden, aber eine Sache bereitete mir doch noch Kopfzerbrechen.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich. »Bist du immer noch abhängig? In dem Fall könnte ich dir gern helfen, damit du die richtige Hilfe bekommst.«
»Die einzigen Drogen, die ich in den letzten Monaten genommen habe, sind die Medikamente von Ted. Mein Vater hat Kontakt zu einem sehr guten Arzt, bei dem habe ich einen Termin. Aber eigentlich fühle ich mich schon ganz gut.«
Da fiel mir wieder Olivers beengte Wohnung in Mountain View ein, wo im Treppenhaus die Kakerlaken über die Wände krabbelten.
»Versprich mir, dich zu melden, falls du in Geldnot bist.«
»Wir kriegen das schon hin. Mein Vater hat gerade einen Job bei einem IT -Unternehmen angenommen. Mit gutem Gehalt. Jetzt sind Ted und Louise hinter Gittern, da kann alles nur besser werden.«
Wir beschlossen, uns möglichst bald zu treffen.
Seit dem ausgiebigen Regen am Heiligen Abend war es trocken geblieben. Die Sonne brannte auf Half Moon Bay. In der Wettervorhersage hieß es, dass sich wieder eine Regenfront auf die Küste zubewegte. Deshalb beschloss ich, diesen letzten schönen Tag zu genießen. Am Nachmittag ging ich runter zum Strand und zog die Schuhe aus. Vereinzelt kamen kühle Windböen auf. Mir ging es gut, ich fühlte mich wieder frei.
Ich legte mich auf den Rücken in den Sand, die Kapuze unter dem Kopf. Die Nachmittagssonne war angenehm. Ich schloss die Augen, ließ mich wärmen, bohrte die Zehen in den Sand und blinzelte in den Himmel hinauf. Kein einziges Wölkchen. Nur transparente Schichten in verschiedenen Blautönen, so weit das Auge reichte. Eine ganze Zeit lang lag ich einfach so da, meine Gedanken waren bei Dani. Eigentlich sollte ich längst bei ihr sein, überlegte ich, denn sie fehlte mir schrecklich. Ich setzte mich auf, angelte das Handy aus der Jackentasche und rief sie an. Während ich auf das Meer hinausblickte und die Zehen immer tiefer in den Sand grub, erzählte ich ihr alles, was bei Sanctum passiert war.
Leise erwiderte sie etwas, verstummte dann aber wieder.
»Hallo, bist du noch da?«, fragte ich.
»Ja, sorry. Ich hab da nur draußen ein Auto vorbeifahren sehen. Ich glaube, das ist hier schon ein paarmal vorbeigekommen, aber ich kann mich auch täuschen.«
»Echt? Das klingt aber verdächtig.«
»Ach was, hat bestimmt nichts zu bedeuten. Wir sind hier ganz sicher. Der Zaun rund ums Haus ist extrem hoch. Überall gibt es Bewegungsmelder und Überwachungskameras, und durch die Bäume im Garten kann man nirgendwo hineinsehen. Hinter dem Haus ist ein großer Wald. Es fühlt sich hier an wie im Niemandsland, wir sind vollkommen isoliert.«
»Aber fährst du denn nie irgendwohin?«
Sie seufzte.
»Nein, das traue ich mich wegen Erik nicht. Wir bewegen uns nur im Haus und im Garten. Steve übernimmt die Einkäufe. Manchmal machen wir einen Spaziergang im Wald.«
»Das ist ja total verrückt.«
»Ja, aber ich habe ja Steve. Es wird sich alles regeln. Kannst du nicht herkommen und ein paar Tage bleiben? Du fehlst mir so.«
»Ja, das habe ich auch vor. Ich werde morgen früh aufbrechen.«
Ich stand auf und ging zurück zum Haus. Durch die Jacke wärmte mir die Sonne den Rücken. Überall tanzte das Licht, über den Sand, über die Steine an der Strandpromenade und in der Wiese. Ich musste daran denken, was Dani erzählt hatte, dass da ein Auto mehrmals am Haus vorbeigefahren war. Das konnte natürlich vollkommen harmlos sein, aber verunsichert war ich trotzdem.
Bevor ich ins Haus ging, unterhielt ich mich kurz mit Mark, der im Garten stand. Als ich schließlich zur Haustür ging und die Hand auf die Klinke legte, zögerte ich, ohne recht zu wissen warum. Die Sonne spiegelte sich wie orangefarbene Glut in der Fensterscheibe. In meinen Augen brannte es. Auf einmal stand ich unter Hochspannung. Mir war heiß, gleichzeitig fröstelte ich.
Und da geschah es. In meinem Bauch begann es zu brennen. Ein Gefühl, als würden sich Flammen in meinem Herzen, im ganzen Körper verteilen. Als würde ich innerlich Feuer fangen. Es war so schlimm, dass ich vor der Tür in die Knie ging. Und es war exakt dasselbe Gefühl, das ich in dieser Nacht gehabt hatte, als ich Dani aus der Krypta rettete.
Mark bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmte und kam angelaufen.
»Was ist los, Alex?«
»Mir war gerade nicht gut. Wird schon besser.«
»Brauchst du einen Arzt?«
»Nein, nein, das ist bestimmt eine verspätete Reaktion auf alles, was passiert ist. Könntest du vielleicht mit ins Haus kommen und ein bisschen bei mir bleiben?«
»Ja, klar.«
Als wir hineingingen, war ich auf der Hut. Die Sonnenstrahlen, die durch den Spalt der Jalousien fielen, tauchten den Raum in Streifen, die Schatten legten sich über die Möbel. Doch im Haus schien alles ruhig zu sein, hier lauerte keine Gefahr – also mussten sich meine bösen Vorahnungen auf Dani beziehen.
Ich rief sie an.
»Sieh mal aus dem Fenster, ob dieser Wagen da jetzt steht.«
»Warum?«
»Ist nur so ein Gefühl. Bitte, sieh nach, dann kann ich aufhören, mir Sorgen zu machen.«
»Auf der Straße vor unserem Haus ist ziemlich viel Verkehr, da darf man gar nicht parken. Aber neben dem Haus ist ein kleiner Parkplatz, wo man sogar Meerblick hat.«
»Dann schau nach, ob der Wagen dort parkt.«
»Okay.«
Es war viel zu lange still in der Leitung. Schließlich hörte ich ihre Stimme wieder.
»Da steht tatsächlich ein Wagen, der so aussieht. Ein schwarzer SUV . Aber das muss nichts heißen.«
»Wo ist Steve?«
»Er ist hier. Mach dich nicht verrückt, Alex. Hier kommt keiner rein. Das ist komplett unmöglich.«
Dass sie sich so sicher wähnte, machte mich nur noch nervöser. Jetzt konnte ich nicht länger warten. Ich musste zu ihr.
»Bleib im Haus. Ich mache mich mit Mark sofort auf den Weg. In einer Stunde sind wir da.«
»Hab nichts dagegen. Ich möchte dich sowieso bei mir haben.«
»Geh nicht raus, bevor wir da sind. Und gib mir noch mal deine Adresse, damit ich sie ins Navi eingeben kann.«
Das tat sie.
Mark begleitete mich gern. Auf dem Weg zu seinem Wagen hatte ich noch einmal dieses Gefühl, innerlich zu brennen. Die tief stehende Sonne wurde im Lack von Marks Auto reflektiert und stach mir in die Augen. Plötzlich war die Luft kühl und siedend heiß auf einmal. Die Hitze kochte in meinem Bauch hoch. Ob ich Fieber hatte? Mark öffnete mir die Wagentür und setzte sich hinters Steuer. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihm nach seiner Schussverletzung manche Bewegungen schwerfielen.
»Hast du eine Pistole dabei?«, fragte ich ihn.
Er wies auf sein Holster und grinste breit.
»Ohne die geh ich nie aus dem Haus. Schon gar nicht nach den letzten Ereignissen.«
»Nicht auszudenken, dass dich dieses Schwein beinahe umgebracht hätte.«
Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, doch dann lächelte er.
»Das ist das Berufsrisiko. Daran führt kein Weg vorbei. Ich war unvorsichtig, aber das wird mir nicht noch mal passieren.«
Da kam mir ein Gedanke – oder war es eher eine Art Gefühl? –, dass die Gefahr, in der sich Dani gerade befand, etwas anderes war. Dass wir dem, was passieren würde, völlig unbewaffnet gegenüberständen. An meiner Stirn pochte es. Ein Gefühl wie Durst quälte mich. Ich fragte mich, ob das alles nur Einbildung war, in der letzten Zeit hatte ich ja ausgesprochen stark unter Druck gestanden. Aber ich wurde das Gefühl, dass etwas Schlimmes bevorstand, einfach nicht los. Das war auch kein zeitversetzter Schock, der auf diese albtraumartigen Tage in der Sanctum-Klinik zurückzuführen war. Sondern etwas ganz Neues. Etwas Schreckliches. Ich drehte mich zu Mark um.
»Ich muss so schnell wie möglich zu Dani. Gib Gas!«
Meine Stimme war energischer als beabsichtigt. Aber Mark lächelte nur.
»Ich werde auf die Tube drücken«, sagte er.
Der Weg nach Santa Cruz war unglaublich schön. Golden glitzerten die Baumspitzen der Zypressen im Sonnenuntergangslicht. Hoch oben am Himmel segelten Raubvögel mit weit ausgebreiteten Schwingen. Doch die traumhaft schöne Landschaft konnte mich nicht beruhigen. Mark versuchte, mich mit Small Talk abzulenken, doch ich nahm kaum wahr, was er sagte. Meine Gedanken waren einzig und allein bei Dani, eingehüllt von meiner innigen Liebe zu ihr. Und ich rief mir wieder in Erinnerung, dass ich sie um ein Haar verloren hätte.
Als wir die Hälfte der Strecke gefahren waren, wurde mein Gefühl, dass irgendeine Gefahr lauerte, immer intensiver. Das machte etwas mit meinem Körper, meine Atmung veränderte sich. Es brannte in mir, wurde immer heißer, flammte auf. Ich versuchte, das Gefühl auszuschalten, es vorüberziehen zu lassen, doch das gelang mir nicht.
»Bist du an diesem geheimen Ort in Santa Cruz schon mal gewesen?«, fragte ich Mark.
»Einmal habe ich da einen Kurzbesuch gemacht.«
»Ist es dort wirklich unmöglich einzubrechen?«
»Ja, vollkommen unmöglich. Der Zaun ist extrem hoch, und sie haben Überwachungskameras und Bewegungsmelder installiert.«
»Stell dir vor, du wolltest Erik kidnappen, wie würdest du vorgehen?«
Er blinzelte und überlegte eine Weile.
»Ich würde wohl versuchen, sie unter irgendeinem Vorwand aus dem Haus zu locken.«
»Und wie?«
»Keine Ahnung.«
Ich versuchte, Dani anzurufen, um ihr zu sagen, sie solle auf keinen Fall in den Garten gehen. Sie hatte von einem Wald hinter dem Haus gesprochen. Da könnte ein Scharfschütze im Baum hocken, Dani erschießen, runterspringen und sich Erik schnappen. Aber Dani ging nicht ans Telefon. Ich hinterließ ihr in Eile eine Nachricht. Sind fast da. Geh nicht raus.
Etwas schoss mir in den Kopf. Gefahr.
Ich wählte ihre Nummer noch einmal. Nichts. Warum ging sie nicht ran?
Auf dem Navi konnte ich sehen, dass wir nur Minuten von dem Haus entfernt waren.
Der Geruch von verkohltem Holz war das Erste, was ich wahrnahm. Beißender, frischer Rauch.
Vor uns ringelte sich eine dicke Rauchsäule in den rötlichen Abendhimmel.
»Da brennt es irgendwo«, sagte ich zu Mark.
Erst wusste er nicht, was ich meinte, doch dann sah er es auch.
»Waldbrände sind hier an der Tagesordnung«, sagte er. »Allerdings nicht im Januar. Und auch nicht so dicht an der Autobahn.«
Wir waren fast am Ziel. Der Brandgeruch wurde immer durchdringender. Es sah aus, als brenne es hinter einem der Grundstücke auf der linken Seite der Straße. Wie eine Giftwolke quoll der Rauch aus dem Wald. Mir fiel etwas ein, was ich irgendwo mal gelesen hatte. Von allen Waffen ist Feuer die teuflischste.
»Ich glaube, der Wald hinter Danis Haus brennt!«, schrie ich.
»Oh Gott! Du hast recht«, rief Mark.
Das Navi meldete: Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt links.
Der rote Himmel war inzwischen stahlgrau.
Asche regnete auf unsere Windschutzscheibe.
Da, wo sich Danis Haus befinden sollte, war nur eine dichte Rauchwolke zu sehen. Hinter dem Grundstück leckten die Flammen an den Baumwipfeln der Mammutbäume.
Da begriff ich, was geschehen war. Ich hätte geschrien, wenn ich Luft in der Lunge gehabt hätte.