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Eva

Vermutlich hatte Edna Carls Handy gefunden. Er hat mehrmals versucht, Eva anzurufen, aber sie geht nicht ran. Bei diesem Treffen wird sie die Bedingungen stellen. Sie hat nicht vor, sich wie eine Dienstmagd in sein Büro beordern zu lassen.

Sie ist ein bisschen nervös, sie stöhnt, ihr Mund ist trocken. Wallins Rezept ist immer noch nicht da. Aber sie wird diese Unterredung trotzdem über die Bühne bringen, auch ohne Medikamente.

Sie hat hin- und herüberlegt, was sie anziehen soll, und sich am Ende für einen schwarzen Blazer und eine schwarze Hose entschieden. Sieht fast wie eine FBI -Agentin auf Netflix aus. Sie hat das Gästehaus geputzt und ein paar Kerzen ins Fenster gestellt. Auf dem Steinweg, der zum Haus führt, hat sie Schnee geschippt. Alles ist vorbereitet. Der Laptop und die Handtasche mit der Pistole stehen auf dem Schreibtisch. Die Zusammenfassungen, die sie ausgedruckt hat, liegen daneben. Sie hat zwei Stühle bereitgestellt. Eine Kanne Wasser und Gläser. Sehr professionell.

Als sie im Flur auf und ab tigert, fällt ihr Blick auf ihr Spiegelbild.

Sie gibt eine gute Figur ab. Ihre Augen sind strahlend blau, offen.

Das Klopfen an der Tür ist laut und ungeduldig, es sieht Carl gar nicht ähnlich.

Langsam öffnet sie, bleibt in der Tür stehen und lässt ihn einen Moment lang in der Kälte draußen. In seinen Augen funkelt etwas ganz Finsteres, etwas wie Wut, Verächtlichkeit. Sie blinzelt an ihm vorbei und betrachtet die Bäume, die rund um die Rasenfläche stehen.

»Heute haben wir einen schönen Tag«, sagt sie und lächelt ihn an. »Ich habe dich schon erwartet, Carl.«

Sie macht einen Schritt zur Seite und lässt ihn eintreten.

Bevor er den Mund öffnen kann, hält sie eine Hand hoch.

»Ich weiß, warum du hergekommen bist. Du möchtest dich über Sanctum unterhalten. Aber gib mir die Chance, mich vorab zu erklären. Ich habe einiges zu sagen.«

»Aus der Reportage wird nichts mehr«, sagt er schroff. »Sanctum ist eine durch und durch korrupte Organisation. Ich werde die Zusammenarbeit sofort einstellen. Morgen fliege ich nach San Francisco zurück. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

»Ich wusste, dass Sanctum kriminell ist, Carl«, sagt sie. »Verzeih mir, dass ich dir das verschwiegen habe. Aber ich hatte einen guten Grund.« Sie legt sich die Hand aufs Herz. »Ich kann dir versichern, dass das, was ich dir zeigen will, sehr interessant sein wird. Setz dich. Und gib mir wenigstens ein paar Minuten.«

Jetzt fühlt sie sich ruhiger. Sie schenkt ihm ein Glas Wasser ein.

Widerwillig setzt er sich zu ihr an den Tisch.

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich da reingezogen habe«, fährt sie fort. »Aber leider führte kein Weg daran vorbei.«

»Reingezogen in was? Wovon sprichst du?«

Sie nahm vor ihm Platz.

»Was ich dir jetzt zeigen werde, unterliegt strengster Geheimhaltung. Ich verlasse mich darauf, dass du das vorübergehend noch für dich behältst. Ich führe nämlich einen Spezialauftrag für den Geheimdienst aus.«

»Geheimdienst? Soll das ein Witz sein?«

»Nein, überhaupt nicht. Bevor ich mehr erzähle, möchte ich noch klar sagen, dass ich das, was zwischen uns am Heiligen Abend passiert ist, wirklich wollte. Das hatte nichts mit meinem Job zu tun. Und alles, was ich dir über meine Kindheit erzählt habe, stimmt auch. Auf jeden Fall werde ich dir die Nummer meiner Kontaktperson beim Geheimdienst geben, die dir bestätigen wird, wer ich bin. Am Ende werden sie dich wegen einer Zeugenaussage vermutlich sowieso ansprechen.«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Für solche Sachen habe ich keine Zeit.«

Sie holt die Pistole aus ihrer Handtasche. Er weicht zurück. Sie lacht auf.

»Beruhige dich, ich habe nicht vor, dich zu erschießen! Aber ich kann dir versichern, dass die PR -Leute bei Sanctum nicht mit so was in der Handtasche herumlaufen. Wenn du mir jetzt immer noch nicht glaubst, wird dich dieses Material hier vielleicht überzeugen.«

Eva legt die Pistole in ihre Handtasche zurück und überreicht Carl ihren Bericht über Sanctum. Skeptisch nimmt er die Papiere in die Hand.

»Lies zuerst das hier.«

Sie kann die Gedanken förmlich sehen, die durch seinen Kopf schießen. Er ist nicht leichtgläubig, das imponiert ihr. Aber was sie vorzulegen hat, wird ihn überzeugen. Sie hat überschlagen, dass er etwa fünf Minuten für die erste Zusammenfassung brauchen wird, aber nach weniger als einer Minute blickt er bereits auf.

»Hast du noch mehr, was deine Schlussfolgerungen untermauert?«

»Einiges. Videoaufnahmen, Fotos und Tonmitschnitte. Aber eins nach dem anderen.«

Mit gerunzelter Stirn liest er weiter, die Blätter in der Hand. Seine Hände sind grob, seine Finger breit und lang, die Nägel kurz geschnitten und sauber. Er konzentriert sich jetzt vollkommen auf das Material, das vor ihm liegt. Das ist seine Art, alles, was er tut, macht er mit äußerster Konzentration. Sicher und ruhig. Sie hat nicht vor, diesen Mann zu verlieren. Während er liest, schließt sie die Augen und ruft sich den Duft in Erinnerung, mit dem er durch die Tür kam. Der Duft, der bald schon zu ihrem wird.

Etwas in ihrem Brustkorb zwickt. Sie wird fahrig. Zum ersten Mal seit Langem hört sie die andere Eva in ihrem Kopf wie am Spieß schreien. Das liegt an den zärtlichen Gefühlen, die sie für Carl hegt, die sie sich selbst nicht erlauben darf, denn sie locken die andere Eva ans Licht. Der Schrei dauert nicht länger als eine Sekunde, dann hört sie nur das leise Knacken der Elektroheizung und das Geraschel, als Carl umblättert. Als alles wieder still ist, hat die andere Eva keinen Grund mehr zu stören.

Carl legt das letzte Papier auf den Tisch und blickt auf.

»Und was ist dein Titel beim Geheimdienst, wenn ich fragen darf?«

»Agentin. Eigentlich dürfte ich darüber gar nicht mit dir sprechen, ich überschreite jetzt wirklich Grenzen.«

»Auch wenn das interessant klingt, wirklich neu ist es für mich nicht. Ich weiß schon aus anderen Quellen, dass Sanctum ein korrupter Verein ist.«

»Es geht aber gar nicht um Sanctum, sondern um die Leute, die dahinterstecken. Eine internationale Sekte, die aus sehr einflussreichen, rechtsextremen Männern besteht. Sie nennen sich die Wächter des Wanderfalken . Hast du schon mal davon gehört?«

Und in diesem Augenblick gewinnt sie seine hundertprozentige Aufmerksamkeit.