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Eva

In stundenlanger Kleinarbeit hat Carl das Material durchforstet und nun auch alle Tonmitschnitte angehört. Inzwischen ist es dämmrig geworden, in den Garten und die kleinen Räume des Gästehauses fällt kaum noch Licht. Eva knipst die Lampe an. Es läuft gut. Mehr als gut. Noch nie hat sie ihn so emotional gesehen – Empörung, Ekel, Ärger und blanke Wut. Sein Infekt scheint wie weggeblasen. Ihr Plan funktioniert noch besser als erwartet.

»Ich weiß, dass diese Sekte dir und deinen Freunden das Leben unerträglich gemacht hat«, sagt sie. »Aber jetzt sind wir ihnen auf den Fersen. Mit diesen Beweisen bringen wir sie endgültig hinter Gitter.«

Carl sieht aus, als sei er noch nicht ganz überzeugt. Sie ahnt schon, dass er alles wieder infrage stellen wird.

»Woher soll ich wissen, ob das stimmt? Und der Geheimdienst – du musst schon entschuldigen, aber ich finde, es klingt immer noch ziemlich abenteuerlich, dass du für ihn arbeitest.«

»Du kannst die Handynummer meiner Kontaktperson haben und nachfragen. Die Mission ist allerdings geheim, darum darfst du keinen Kontakt mit dem Hauptquartier aufnehmen, aber dieser Mann wird dir alle Informationen geben, die du haben möchtest.«

Eva kritzelt eine Nummer auf den Notizblock, reißt das Blatt ab und überreicht es Carl.

»Ich gehe gerade ein großes Risiko ein, indem ich dir das erzähle«, fügt sie hinzu. »Behalt es für dich.«

»Ihre Aussagen sind das Widerwärtigste, was ich je gehört habe. Was sie über Danis Sohn sagen … wo versammeln sich die Sektenmitglieder denn zurzeit?«

»Die Antwort wird dir nicht gefallen.«

»An dieser dramatischen Geschichte kann einem nichts gefallen.«

»In einem Bunker in den Bergen bei Sausalito.«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht.

»Direkt vor unserer Nase? Die ganze Zeit? Und du hast keinen Ton gesagt?«

»Ich habe doch gesagt, dass dir meine Antwort nicht gefallen wird. Es war notwendig. Wir brauchten Beweise.«

Er verstummt, presst die Lippen aufeinander und wendet den Blick ab.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagt sie. »Aber von dem letzten Kidnappingversuch hatte ich keine Ahnung.«

»Ich hätte sie warnen können. Stattdessen sitze ich hier und vertue die Zeit mit solch einem … Scheiß.«

»Na ja, das kommt auf die Betrachtungsweise an. Willst du, dass deine Freunde von diesen Idioten bis in alle Ewigkeit gejagt werden oder möchtest du sie stoppen? Manchmal muss man langfristig planen. Während deine hysterische Freundin im Karree gesprungen ist und alle in Gefahr gebracht hat, habe ich etwas Produktives unternommen.«

Ein angespanntes Schweigen kommt auf. Eva fragt sich, ob sie jetzt doch ein bisschen zu weit gegangen ist.

»Alex ist nicht hysterisch, und sie hat niemals jemanden in Gefahr gebracht, abgesehen von sich selbst. Aber in einer Sache hast du recht. Das wird der Sargnagel für die Sekte sein. Ich muss Alex gleich anrufen.«

Eva legt ihre Hand auf seine.

»Warte noch. Das müssen wir erst besprechen. Hör mir kurz zu.«

»Ich muss ihr alles erzählen. Da gibt es nichts zu diskutieren.«

»Ich verbiete es dir. Das Übelste mit den Undercoverjobs ist, dass man so wenig zu sagen hat. Gib mir noch ein paar Tage Zeit, bitte.«

»Was wollte die Sekte dann eigentlich mit der Reportage über mich?«

»Sie wollten dich lächerlich machen. Sich an dir rächen, weil du sie ins Gefängnis gebracht hast. Wie du in den Aufnahmen hören konntest, hat Axel gesagt, sie hätten ein anderes Drehbuch, eins, das du nicht kennst.«

»Das will ich sehen, auf der Stelle.«

»Nein, das ist meiner Meinung nach nicht nötig. Ich werde das Material sowieso komplett vernichten. Aber vorher muss ich dies hier weiterleiten«, sagt sie und zeigt auf einen Papierstapel, der auf dem Tisch liegt.

»Eigentlich müsste ich stinksauer auf dich sein, weil du mich so lange angelogen hast. Diese Enthüllung muss ich jetzt erst mal verdauen.«

»Ich hab dir ja erklärt, warum. Ein paar Tage müssen wir noch dichthalten und dem Geheimdienst Zeit lassen, das FBI zu informieren. Die Anführer der Sekte sind ja Amerikaner, deshalb müssen sie auf internationaler Ebene zusammenarbeiten, um sie einzulochen.«

Bei diesen Worten fällt ihr etwas ein. Was würde der Geheimdienst wohl sagen, würde Eva ihm das komplette Material tatsächlich aushändigen? Vielleicht wäre es noch schlauer, es gleich ans FBI zu schicken? Sie werden Feuer und Flamme sein, und mit Sicherheit dauert es nicht lange, und die Story sickert an die Presse durch. Aaron Eastman. Dough Marwood. Wahnsinn! Der Skandal des Jahrhunderts.

»Lass mich das machen. Versuch, noch ein paar Tage auszuhalten.«

»Das kann ich nicht. Alex muss es sofort erfahren. Entweder lässt du es mich ihr erzählen, oder ich nehme morgen den ersten Flieger zurück.«

Seine Sturheit verleiht ihm so einen Kleiner-Junge-Charme. Jetzt will sie ihm gar nicht mehr widersprechen. Eva stellt sich vor, Alex Brisell wäre hier, in ihren langweiligen Jeans, mit dem zerzausten langen Haar und dem Flunsch. Allein der Gedanke, was Carl sagen würde, wenn er Alex und sie nebeneinander sähe, sie vergleichen könnte, bringt sie zum Lachen. Es wäre so offensichtlich, dass Eva die Frau ist, die zu Carl passt. Intelligent und zielstrebig. Und dann stellt sie sich Alex’ Gesicht vor, als sie erfährt, dass Eva sie gerettet und die Sekte ausgeschaltet hat. Das wird eine Tragikomödie. Der Todesstoß. Eigentlich wäre es gar keine schlechte Idee, wenn Alex zu ihnen nach Schweden käme. Denn sie muss weg. Daran führt kein Weg vorbei. Für eine Konfrontation zwischen Eva und Alex wäre es allmählich an der Zeit. Ein paar sorgfältig gewählte Worte, dass Alex sich endlich verkriechen sollte, ihre Wunden lecken und ihren eigenen Weg gehen.

»Okay«, sagt sie. »Aber am Telefon darfst du keine Details verraten. Bitte sie herzukommen, dann können wir ihr in meiner Anwesenheit das Beweismaterial vorlegen.«

»Und warum können wir nicht einfach zurück nach Kalifornien fliegen?«

»Weil ich Schweden nicht verlassen darf, bevor der Geheimdienst alle Informationen hat, die benötigt werden.«

Sie steht auf, schiebt den Stuhl an den Tisch und klatscht in die Hände. Aus ihrer Sicht ist das Gespräch damit beendet.

»Und wo stehen wir jetzt?«, fragt sie.

»Sobald ich Alex erreiche, sage ich ihr, sie soll nach Schweden kommen. Du machst mit dem Material, was du tun musst. Hast du Kopien, die ich Alex zeigen kann?«

»Ich habe alles in Kopie«, antwortet sie, was gelogen ist. Sie hat nämlich nicht vor, das Material in nächster Zeit irgendwohin zu schicken, abgesehen von ein paar ausgewählten Tonaufnahmen, die sie den Sektenmännern vorlegen wird, damit sie sie in Ruhe lassen und ihr eine ordentliche Stange Geld überweisen. Eva hat längst keine Angst mehr vor ihnen. Nachdem sie die Aufnahmen zusammengestellt hat, weiß sie ganz genau – diese Männer werden ihr aus der Hand fressen und alles tun, was sie will, um zu verhindern, dass das bekannt wird.

Eva geht auf Carl zu und schmiegt sich an ihn. Das geht so schnell, dass er nicht reagieren kann. Ihre Wimpern schlagen an seine Wange. Er ist frisch rasiert. Der reine Duft seiner frisch geduschten Haut ist noch da. Aber dann windet er sich aus ihren Armen und steht nun mitten im Zimmer. Mit einem Mal sieht er sehr müde aus.

»Das war jetzt ganz schön viel für mich. Es ist schon spät, ich muss eine Nacht darüber schlafen. Ich verabschiede mich ins Bett.«

Ein Stoß kalte Luft kommt hereingeweht, als er die Tür öffnet und das Gästehaus verlässt. Eva steht so still da, dass sie fühlt, wie ihr Herz schlägt. Gleichmäßig und ruhig, wie aus einer dunklen Grotte unter der Wasseroberfläche.

Im Großen und Ganzen war das Gespräch sehr erfreulich. Jetzt ist sie die längste Zeit die Sklavin der Sekte gewesen. Sie hofft, dass sie ihnen den größtmöglichen Schaden zufügen kann – diesen Idioten, die glaubten, sie mit ihren Drohungen kleinkriegen zu können. Wahrscheinlich wird sie noch richtig Spaß an der Sache bekommen. Und sie wird es genießen, endlich wieder rauszukommen und als ganz normaler Mensch unter Leute zu gehen.

In ihrem Laptop öffnet sie einen Ordner, in dem sie besondere Fotos abgespeichert hat: Carls Frack, ihr Brautkleid, Locations in Kalifornien für prunkvolle Hochzeitsfeiern. Wenn sie das alles hinter sich haben, möchte sie Schweden schnellstmöglich den Rücken kehren. Und dann ein gemeinsames Leben mit Carl beginnen. Das wird ganz wunderbar.

Bis weit in die Nacht liegt sie wach.

Fantasiert, wie Carls Haut und seine Zunge wohl schmecken.

Sie konzentriert sich wieder auf ihren Herzschlag und stellt sich vor, dass er sie – könnte sie ihm folgen – in sein Bett führen würde.

Beim ersten Mal war Carl hitzig, von der Erregung des Moments völlig vereinnahmt. Beim nächsten Mal wird er zärtlicher sein, und auch, wenn das nicht ihrem Stil entspricht, wird es notwendig sein, um ihn zu bewegen, den allerletzten Schritt zu tun.

Sie weiß, dass es verrückt wäre, heute Nacht zu ihm zu gehen, also schläft sie so ein – nach ihm schmachtend.