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Eva

Vielleicht löst Carls Kommentar, den er nur so im Vorbeigehen fallen lässt, den Anfall aus. Oder ist es sein Gesichtsausdruck? Dieser beiläufige, arrogante Zug um den Mund, dieser unterkühlte Blick.

Eva versucht ihn anzulächeln, doch das macht es nur noch schlimmer. Auf halbem Weg gefriert ihre Mimik. Ihre Knöchel werden weiß, als sie die Hände ineinander drückt. Sie kneift die Kiefer aufeinander. Doch nichts hilft. Aus ihrer Gurgel dringt ein Laut, als wäre sie am Ersticken. Sie hustet den Ton weg.

Vor Kurzem noch stand er da und hat von Alex wie ein unglücklich verliebter Teenie geschwärmt. Jetzt sieht er Eva distanziert an und möchte lieber gehen. Einfach so.

»Aber dann wirst du ja mit allem fertig sein, wenn Alex kommt«, sagt er zu ihr in einem Tonfall, wie man mit Untergebenen spricht.

Es ist, als würde es an einer Stelle jucken, die man nicht erreicht. Ein Ziehen in der Brust, das Gefühl, gewürgt zu werden.

Tief durchatmen, immer tief durchatmen. Zähl bis zehn, bevor du etwas Unüberlegtes tust. Dieser Wutausbruch ist irrational.

Es ist einfach lachhaft. Das wird nicht funktionieren.

Ihre Blicke sind verschlossen. Sie hat den Eindruck, dass Carl ihr all ihre Gefühle ansehen kann. Die Angst und den Hass. Er absorbiert sie geradezu.

»Alles okay, Eva?«

Von ihrem trockenen Hals bleibt ihr die Stimme weg, aber immerhin kann sie nicken und andeutungsweise sogar lächeln.

Sie gräbt die Fingernägel in die Handflächen. So hart, dass sie vor Schmerz das Gesicht verzieht.

»Oh! Du blutest ja«, sagt er erschrocken.

Ein kleines Rinnsal Blut läuft aus ihrer geballten Faust.

Die Kälte in Carls Blick ist verschwunden. Eva sieht ihm ins Gesicht, beobachtet, wie sich seine Lippen über die zusammengepressten Zähne spannen und in eine Art Lächeln münden. Er strahlt eine Ruhe aus, der sie sich nur einen Augenblick genussvoll hingibt. Dann bekommt sie auch wieder Luft.

Es war haarscharf. Ein Herzschlag mehr, und sie wäre explodiert. Die andere Eva hat es gespürt. Sie ist nicht weit entfernt, sondern befindet sich tief in ihrer Brust.

»Ach so«, sagt sie. »Ich habe mich vorhin an einem Blatt Papier geschnitten.«

»Brauchst du ein Pflaster?«

Was für eine komische Frage.

»Nein, ist schon okay.«

»Gut. Dann bis morgen.«

Er lächelt. Es kostet sie viel Überwindung zurückzulächeln. Als er die Tür hinter sich schließt, lässt Eva sich erschöpft auf einen Stuhl sinken und sieht sich nach ihrem Smartphone um. Sie verlegt es doch sonst nie. Wo ist das blöde Handy?

Dann bemerkt sie es auf der Kücheninsel, geht auf wackeligen Beinen hinüber und wählt Wallins Nummer. Er ist der Einzige, der ihr jetzt helfen kann. Ohne Medikamente wird sie das alles nicht durchstehen.

»Herr Wallin, es ist schon wieder passiert«, sagt sie, kaum dass er abgenommen hat.

»Sie haben doch nichts Dummes angestellt?«

»Ich stand kurz davor. Ich brauche mehr Medikamente. Warum dauert es so lange? Bitte stellen Sie mir jetzt gleich ein Rezept aus. Sie haben es doch versprochen.«

»Ja, tut mir leid. Aber ich möchte Ihre Medikation etwas anpassen, und dafür muss ich Sie vorher untersuchen. Nach dem Wochenende hole ich Sie ab. Kommen Sie bis dahin zurecht?«

»Wie meinen Sie das? Wo wollen Sie denn hin?«

»Zurück in die Klinik, nur für eine Weile. Wir sollten Ihre Behandlung noch mal intensivieren. Es wäre voreilig, Ihnen jetzt Medikamente zu verschreiben. Nur noch ein paar Tage, dann kümmere ich mich um Sie.«

»Und was ist mit dem Kind? Und meinem neuen Job?«

»Der Plan wird gestrichen. Das Kind ist nicht mehr interessant. Eva, Sie haben einen tollen Job gemacht. Aber jetzt müssen Sie sich davon erholen und wieder zu Kräften kommen.«

»Verpiss dich«, ruft sie und drückt das Gespräch weg.

Mit Sicherheit wird er wieder anrufen. Doch sie kann ihn nicht mehr brauchen. Sie muss sich einen neuen Psychiater suchen, einen, der sie wirklich versteht. Diese verfluchte Nacht vor zwei Jahren geistert ihr wieder durch den Kopf. Warum muss sie immer daran denken? Die Medikamente haben sie aus ihrem Bewusstsein verbannt. Doch ohne Medizin nimmt sie ihre Gedankenwelt wieder ein.

Und jetzt taucht Eva noch einmal in die Erinnerungen an jenen Abend ein.

In der Wohnung war es eng. Sie hatten eine Party, die Musik war laut. Aber ihn konnte jeder klar und deutlich verstehen.

Heiraten? Machst du Witze? Sie ist mein Lieblingsflittchen, und außerdem taugt sie doch nur zur Hausfrau.

Ihr Wutanfall, und danach seine Ohrfeige, wie hat er sie bloßgestellt.

Mit einem Mal bemerkte sie, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Die Gäste kicherten leise. Die vollkommene Erniedrigung. Was für ein Glück, dass sie so dicht an der Arbeitsplatte stand, direkt vor dem Messerblock.

Was sie dann getan hat, bereut sie nicht. Es war richtig. Sie erinnert sich noch genau an das Gefühl, wie die Messerklinge durch seine Haut glitt, da war kaum ein Widerstand, es schien, als schneide sie in ein Steak. Und wie sie immer wieder zustach, bis das Blut spritzte und sie alles nur noch wie durch einen roten Vorhang sah.

Einmal hatte er zu ihr gesagt: Wenn man es nicht mit dem ganzen Körper fühlt, ist es auch nicht echt.

Und deshalb hat er es zu spüren bekommen. Ihre Liebe war echt, aber er hat sie besudelt.

Sie schließt die Augen und sieht sich selbst vor zwei Jahren. Eine Bohnenstange, sexy, mit einer vielversprechenden Zukunft. Der Hass auf den Ex ist alles, was aus dieser Zeit geblieben ist.

Sie zwingt sich aus diesem negativen Gedankenkarussell und konzentriert sich auf den Tag, der vor ihr liegt. Noch vierundzwanzig Stunden, dann wird sich ihr Leben verändern. Aber die andere Eva malträtiert sie jetzt mit ihren Bedenken. Du heißt doch gar nicht Eva. Du gehörst nicht hierher. Du wirst untergehen. Hol dir Hilfe, bevor es zu spät ist.

Sie stellt sich vor den Spiegel, da ist es am leichtesten, die andere loszuwerden. Ihr Gesicht ist rot gefleckt. An einer Seite ist die Mascara unters Auge gelaufen. Als sie den Arm hebt, um die Flecken wegzuwischen, nimmt sie den Schweißgeruch aus der Achselhöhle wahr. Sie verpasst sich selbst eine Ohrfeige, so knallhart, dass es wehtut. Und dann noch eine. Sie konzentriert sich auf ihre Umgebung, auf die Geräusche, eins nach dem anderen. Das Knarzen eines Dachbalkens. Das leise Surren des Kühlschranks. Das Säuseln des Windes in den Bäumen draußen vor der Tür. Gut. Jetzt wird es ihr gleich viel besser gehen.

Axel, Nils und die anderen Idioten können ihr mal den Buckel runterrutschen.

Sie wird die Sache schon schaukeln.

Mit oder ohne Beruhigungsmittel.