Der Artikel war zwei Jahre alt, und neben dem Text war ein Foto von einem auffällig schönen Paar in Abendkleidung abgebildet. Der Mann war blond, durchtrainiert und attraktiv. In dem Bericht hieß es, seine Begleitung hieße Andrea Zander, und das war exakt dieselbe Person, von der ich bis jetzt glaubte, sie hieße Eva Sand. Sie trug ein rotes Etuikleid, diamantene Ohrringe und ein Collier. Ihre langen Haare waren brünett, genau so wie auf dem alten Familienfoto im Hause Zander.
Erst hatte es den Anschein, als gehörten das hübsche Foto und die Headline des Artikels gar nicht zusammen. Blutiges Eifersuchtsdrama am Silvesterabend.
Im Text stand, dass das Model Andrea Zander und der prominente Fußballspieler Peter Rysk seit über einem Jahr eine Beziehung hatten. Rysk stand beim Malmö FF unter Vertrag und war erst vor Kurzem in die Nationalmannschaft aufgenommen worden. Das Foto von Andrea und ihm stammte vom Ball des Sports.
Ein paar Tage vor Silvester vor zwei Jahren hatte Andrea einige beunruhigende Posts in den sozialen Netzwerken getätigt, in denen sie Peter Rysk gedroht hatte. Es war unklar, warum niemand darauf reagiert hatte, aber das Paar hatte zu einer Silvesterparty in Peter Rysks Penthousewohnung in Ribersborg in Malmö eingeladen, trotz des brodelnden Konflikts zwischen ihnen. An diesem Abend hatte Andrea einen Wutanfall bekommen und Rysk mit einem Küchenmesser angegriffen. Ein Augenzeuge hatte berichtet, dass Rysk sie provoziert und ihr eine Ohrfeige gegeben hätte. Mit lebensbedrohlichen Verletzungen an Bauchorganen, Wirbelsäule und einer punktierten Lunge sei er ins Krankenhaus gekommen. Weitere Zeugen hätten berichtet, dass Andreas Blick »hassverzerrt« gewesen sei und sie viermal auf Rysks Rücken, Bauch und die Leisten eingestochen habe, bevor jemand sie hatte stoppen können. Rysk selbst war zu betrunken gewesen, um sich überhaupt wehren zu können.
In dem Artikel stand kein Wort darüber, was aus Andrea Zander geworden war. Allerdings wurde ihre Geschichte sehr ausführlich beschrieben. Sie war Tochter des Kunstsammlers und -händlers Ernst Zander. Schon als junges Mädchen hatte sie begonnen zu modeln, meist im Ausland. Obwohl sie bereits richtig Karriere gemacht hatte, hatte sie wegen ihres aufbrausenden Temperaments mehrere Jobs auch wieder verloren. Unter dem Artikel war noch ein Foto mit dem Haus, in dem die Tat geschehen war, dabei war Rysks Penthousewohnung eingekringelt.
Ich holte einmal tief Luft und vergaß fast, sie wieder auszuatmen. Ich konnte meinen Blick nicht von Andreas Foto losreißen.
»Hallo, Erde an Alex«, rief Dani.
»Sorry«, erwiderte ich. »Das ist doch einfach nicht zu fassen.«
»Nicht zu fassen? Das ist eine Katastrophe. Das muss doch überall in den Nachrichten gewesen sein, aber ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Du vielleicht?«, fragte sie.
Ein paar Erinnerungsfetzen an ein riesiges Medienaufgebot nach einer Messerattacke kamen schon auf. Doch, ich hatte davon etwas mitbekommen. Aber vor zwei Jahren hatten mich weder Fußball noch Promis interessiert. Das war in der Zeit gewesen, bevor Dani und ich von der Sekte verfolgt wurden und lange bevor ich Jim kennenlernte. In dieser Zeit war ich meist damit beschäftigt gewesen, interessante Typen aufzureißen und meinen Job in der Boutique nicht zu verlieren. Dani hatte sich ganz auf ihr Medizinstudium konzentriert, sie hatte solchen Nachrichten ganz sicher keine Beachtung geschenkt.
»Ich kann mich nur dunkel dran erinnern«, sagte ich. »Aber bei der Vorstellung, dass Carl jetzt allein mit ihr ist, dreh ich durch.«
Oberhalb des Artikels hatte Amanda noch einen Kommentar eingefügt.
Nach diesem Vorfall wurde Andrea Zander verurteilt und für sechs Monate in die Psychiatrie verlegt. Es gab mehrere Anhaltspunkte dafür, dass sie psychisch instabil ist. Dass Rysk sie geschlagen hat und so den Wutausbruch provoziert haben soll, wurde als mildernde Umstände gewertet. Deshalb erging ein Urteil nicht wegen »versuchten Mordes«, sondern nur wegen »schwerer Körperverletzung«. Einige Zeugen behaupteten sogar, es sei Notwehr gewesen. Als sie aus der Psychiatrie entlassen wurde, ist sie komplett von der Bildfläche verschwunden. Wahrscheinlich hat Sanctum sie aufgegabelt und in ihrem Zentrum in Arjeplog untergebracht – wo zeitgleich die echte Eva Sand untergebracht ist oder war. Peter Rysk hat den Überfall zwar überlebt, ist aber von der Taille abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Alex. Erst mal tief durchatmen. Sprich mit Carl unter vier Augen. Dann geht ihr mit diesen Infos zur Polizei. Behaltet die Nerven!
Dani nahm mich in die Arme und zog mich an sich. Sanft fuhr sie mit der Nasenspitze in mein Haar und atmete in meinen Nacken.
»Beruhige dich«, sagte sie. »Das ist alles zwei Jahre her. Wir haben keine Ahnung, ob sie immer noch gewalttätig ist. In knapp einer Stunde sind wir da. Du musst erst mit Carl reden, dann rufst du die Polizei an und bittest sie, Andrea abzuführen. Oder wollen wir die Polizei jetzt sofort verständigen?«
»Nicht bevor ich mit Carl gesprochen habe. Wie wissen ja gar nicht, wozu Eva – oder Andrea oder wie ich sie jetzt nennen soll – in der Lage ist. Dani, das drücke ich Carl jetzt rein!«
»Dazu hast du auch guten Grund, finde ich. Aber wenn du dir mal vorstellst, wie sie groß geworden ist? Ernst Zander als Vater und Jim als Bruder. Da tut sie einem fast schon wieder leid.«
»Mir nicht. Sie ist durch und durch böse. Jetzt verstehe ich alles. Sie ist eigentlich nur die Marionette der Sekte. Die haben sie uns auf den Hals gehetzt, um Carl wegzulocken, damit sie an Erik rankommen. Das ist so widerwärtig, Dani.«
»Bald haben wir es überstanden«, sagte sie und wollte mich damit trösten. »Wir werden sie von Carl wegholen. Alles wird wieder gut.«
Am Bahnhof stiegen wir in ein Taxi und fuhren zu Ash & Coals Villa, die am Rande von Lund lag. Dani saß auf der Rücksitzbank und unterhielt Erik, der sich auf dieser wirklich langen Reise geradezu vorbildlich benommen hatte. Ich saß auf dem Beifahrersitz und stierte durch die Scheibe. In dem schummrigen Licht der Straßenlaternen verschwamm die Umgebung draußen vor mir. Der Asphalt glänzte vom Frost. Jede Bewegung auf der Welt schien verlangsamt. Das Taxi fuhr wie in Zeitlupe, wir kamen irgendwie gar nicht vorwärts. Ich hatte einen Metallgeschmack im Mund und leichte Kopfschmerzen. Mein Magen knurrte, weil ich dieses zellophanverpackte Sandwich im Flieger nicht gegessen hatte. Und ununterbrochen produzierte mein Hirn Schreckensbilder, was Andrea möglicherweise gerade jetzt mit Carl anstellte.
Endlich sah ich, wie sich das Dach von Carls Villa vor dem Himmel abzeichnete. Es war saukalt.
»Am liebsten würde ich sofort zu ihm ins Haus rennen«, sagte ich zu Dani. »Aber ich glaube, ich muss mich kurz sammeln, bevor ich mit ihm rede. Nicht, dass ich gleich hysterisch werde. Als Erstes bringen wir das Gepäck in die Jagdhütte. Willst du dabei sein, wenn ich mit ihm spreche?«
»Möchtest du das?«
»Nein, ich glaube, es ist besser, wenn wir unter uns sind.«
»Dann kümmere ich mich um Erik und bringe ihn ins Bett. Wie viele Betten gibt es denn in der Hütte?«
»Zwei.«
»Dann kann er ja in dem einen schlafen, und wir beide teilen uns das andere, okay?«
»Kein Problem.«
Als wir vor dem großen Tor zum Gelände von Ash & Coal standen, angelte ich mein Handy aus der Tasche und rief Carl an.
»Alex! Bist du’s wirklich?«, rief er atemlos.
»Ja, wer denn sonst?«
Dani verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Sorry, ja, wir sind angekommen«, schob ich schnell hinterher. »Wir wollen erst unser Gepäck in die Jagdhütte bringen, und dann springe ich kurz unter die Dusche. Danach komme ich rüber zu dir, und wir können reden. Wo bist du?«
»Im Büro. Kommst du her?«
»Ja, wenn ich fertig bin. Du bist allein, oder?«
»Komm einfach her, dann erklär ich dir alles.«
»Bist du allein?«
Er seufzte und murmelte etwas, das wie ein Ja klang.
Ich hatte überhaupt nicht vor zu duschen, eigentlich wollte ich mich nur sortieren. Ich tippte den Code ein, und das Tor öffnete sich. Das Erste, was mir in den Blick fiel, war das verkohlte Skelett des Schuppens hinter der Jagdhütte. Aus der Villa drang warmes Licht. Mit diesem Ort verband ich einige meiner schönsten Erinnerungen. Es war der beste Arbeitsplatz, den ich je hatte. Hier hatte ich mich in Carl verliebt und den besten Sex meines Lebens gehabt. Jetzt war alles kaputt, und Andrea Zander war schuld daran. Wenn ich mich doch nur beruhigen könnte. Solange man hysterisch war, überzeugte man niemanden.
Ich bezahlte die Taxifahrt und schob unsere Koffer zum Eingang der Jagdhütte. Die Tür war nicht abgeschlossen, und drinnen war es kuschelig warm. Jemand hatte für uns Feuer gemacht, das nun gemütlich im offenen Kamin knisterte. Dani, die vorher noch nie in der Jagdhütte gewesen war, sah sich neugierig um. Dann verließ sie das Schlafzimmer, und ich hörte sie verzückt rufen.
»Schau mal, Alex! Hast du die vielen Gewehre gesehen?«
Sie standen der Reihe nach in einem Schrank. Dass Carl Gewehre besaß, hatte mir nie behagt, und er hatte sie kaum in die Hand genommen, seit wir zusammen waren.
»Benutzt er die?«, fragte Dani.
»Glaube ich nicht. Früher hat er gejagt. Meist kleinere Tiere. Aber ich habe ihm das abgewöhnt. Übrigens hat Steve ihm das Schießen beigebracht.«
»Wer auch sonst?«
Sie holte ein Gewehr aus dem Schrank und öffnete den Kolben.
»Scheiße, das ist sogar geladen.«
»Das legst du auf der Stelle zurück!«
Dani gehorchte.
»Wenn alles vorbei ist, kann mir Carl vielleicht zeigen, wie man so eins benutzt.«
»Vergiss es.«
Ich ging ins Badezimmer und warf einen Blick in den Spiegel. Meine Haare waren strubbelig von der langen Reise und mein Make-up verschmiert. Aber ich beschloss, dass Carl mich so, wie ich jetzt aussah, zu Gesicht bekommen sollte, von den Sorgen völlig fertig. Dani hatte Erik nun in eins der Betten gelegt und ihm ein Fläschchen gegeben. Sie hatte ihre Kleider einfach auf einen Haufen auf den Boden geschmissen und zog sich gerade das Nachthemd über den Kopf.
»Ich möchte mich nur ein bisschen im Bett aufwärmen«, sagte sie. »Aber ich bin noch wach, wenn du zurückkommst, ich versprech’s. Und ruf an, wenn du Verstärkung brauchst.«
Ich ging in die Kälte hinaus. Die Nacht war dunkel, der Mond hinter den Wolken versteckt. Ein schneidend kalter Wind blies, und die eisige Luft biss in Nase und Hals. Ein paar wenige Schneeflocken segelten zögernd vom Himmel. Von dem verkohlten Schuppen lag immer noch ein leichter Brandgeruch in der Luft. Es sah Carl überhaupt nicht ähnlich, diese Ruine da einfach stehenzulassen. Der Carl, den ich kannte, hätte innerhalb von Tagen einen neuen Schuppen angeschafft. Wie konnte man sich in so kurzer Zeit so sehr verändern?
Ich zog die Jacke fest um meinen Körper und lief noch schneller auf die Villa zu. Der Rasen vor mir war gefroren. Doch auf halbem Wege blieb ich stehen. Etwas bewegte mich dazu aufzublicken. In einem beleuchteten Fenster war ein Schatten zu sehen. Vermutlich Edna, die noch Überstunden machte.
Ich ermahnte mich, dass ich analytisch vorgehen musste, keinesfalls aggressiv. Ich wollte alles mit ganz sachlicher, ruhiger Stimme vorbringen. Ich wollte nicht schimpfen oder rumschreien und auf gar keinen Fall sarkastisch werden. Erst einmal wollte ich Carl zuhören, bevor ich unter die Decke ging.
Das alles nahm ich mir vor, als ich über die von Frost überzogenen Steinplatten auf das Haus zuging. Da sagte ich mir, dass die Sache gut ausgehen würde. Carl würde sich schämen und sich entschuldigen. Wir würden gleich die Polizei rufen. Und am Ende, wenn alles vorüber war, würde es einen Weg geben, auf dem wir uns einander wieder annähern konnten.
Ich ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Im Flur brannte Licht, aber es war still. Die Rezeption war komplett beleuchtet, doch Edna nicht in Sicht.
Ich legte die Hand auf die Türklinke zum Büro und öffnete. Mir stockte der Atem, und jedes Geräusch verschwand. Sie saßen hinter seinem Schreibtisch und lächelten, als sie mich erblickten.
Carl und Andrea Zander.