Andrea saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl neben Carl.
»Was hat sie hier zu suchen?«, rief ich in meiner schrillsten Stimmlage.
Er gab keine Antwort, lächelte nur leicht gequält.
»Alex, endlich bist du da!«, rief er stattdessen und wollte schon aufspringen und auf mich zukommen.
»Bleib, wo du bist!«, sagte ich barsch. »Ich wollte mit dir unter vier Augen sprechen, warum ist sie hier?«
Meine Stimme vibrierte. Ich versuchte, den Kloß im Hals immer wieder runterzuschlucken. Es tat so weh, die beiden sehen zu müssen, wie sie da hinter dem Tisch eine Front gegen mich bildeten. Carl sank auf seinen Stuhl zurück und seufzte tief.
»Eva möchte dabei sein, wenn ich dir das Beweismaterial zeige«, sagte er. »Es unterliegt der Geheimhaltung. Danach können wir zwei natürlich allein miteinander sprechen. Beruhige dich, Alex.«
Da hockten die beiden hinter Carls Schreibtisch verschanzt, und sie waren sich einig, wie sie vorgehen wollten, um die ausgeflippte Alex zu überzeugen. Andrea sah mich an, als sei ich gerade unter einem Stein hervorgekrochen, mit meinem zerzausten Haar und den schlampigen Klamotten.
»Wow!«, sagte sie, befeuchtete die Oberlippe mit der Zunge und sah Carl an.
Der Schatten des Kajals unter ihren Augen gab ihrem Blick etwas Verführerisches. Ihre Haut war glatt wie Seide. Man konnte kaum die Augen von ihr lassen, so stark war ihre Ausstrahlung. Sie hatte eine mystische Aura, die sie grandios in Szene setzte. Aber unter der hübschen Fassade konnte ich all das Verdorbene ahnen, ich weigerte mich, auf ihre Tricks hereinzufallen. Tief in ihren Augen bemerkte ich ein leichtes Zittern. Mir kam der unheimliche Gedanke, dass da drinnen ein fremdes Wesen wohnte. Demonstrativ legte Andrea die Hand leicht auf Carls Arm. Er hingegen schloss mich von ihrer Vertrautheit auf subtilere Weise aus, mit einem milden Blick.
Ich starrte die beiden an und zermarterte mir den Kopf. Dann sagte ich einfach nur:
»Carl, du bist reingelegt worden.«
Verärgert verzog Andrea das Gesicht. Carl hob erstaunt die Augenbrauen.
»Alex, dieses Gespräch führen wir doch bitte später – nachdem du uns zugehört hast, ja?«, sagte er. Er schien unter Druck und leicht genervt, weil ich wie immer überreagierte.
Am liebsten hätte ich auf der Stelle mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen und ihn angeschrien, dass er eine Gehirnwäsche hinter sich habe. Aber stattdessen machte ich ein paar Schritte vor und stellte mich selbstbewusst mitten in den Raum.
»Du, Carl«, sagte ich. »Jetzt hörst du dir mal an, was ich zu sagen habe, ansonsten wirst du mich nie mehr wiedersehen.«
Carl runzelte die Stirn. Andrea stieß ein schrilles, abstoßendes Lachen aus.
»Das ist ja absurd«, sagte sie mit ihrer heiseren, verstellten Stimme. »Du kannst es mit ihr wirklich nicht ernst meinen, Carl. Da sieht doch jeder sofort, dass eure Beziehung durch und durch krank ist. Schick sie wieder nach Hause.«
Carl schien verwirrt. Sein Schweigen riss Gräben in mir auf.
»Sie heißt in Wirklichkeit Andrea Zander«, berichtete ich. »Und sie ist Jims Schwester. Ihren Ex hat sie mit einem Küchenmesser fast umgebracht, er sitzt jetzt für den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Sie arbeitet für die Wächter des Wanderfalken und bekommt ihren Job von ihnen satt bezahlt. Kapierst du, was das zu bedeuten hat?«
Carl war anzusehen, dass er in der Klemme saß. Andrea ging sofort auf mich los.
»Wie kannst du es wagen, hierherzukommen und mich derart zu beschuldigen«, rief sie erst mir zu und wandte sich dann an Carl. »Carl, du weißt ja schon, dass ich hier in Schweden eine neue Identität bekommen habe und den neuen Namen. Alles, was sie sonst behauptet, ist gelogen. Ich kann es dir erklären …«
»Stimmt es, dass du Jims Schwester bist?«, schnitt er ihr das Wort ab. »Was soll das?«
Er sah sie wirklich angewidert an.
»Ich habe Jim gehasst«, sagte sie. »Das musst du mir glauben. Er war mein Peiniger. Vergiss nicht, was ich für dich getan habe, und dann kommt diese Schlampe her und …«
»Nicht diese Worte, wenn du von Alex sprichst«, ermahnte er sie.
»Warum bist du so wütend, Carl?«, fragte sie zurück. »Was ist mit dir passiert?«
Ich fiel ihr ins Wort.
»Es geht ihm nicht besonders gut«, sagte ich. »Und das, was ihm passiert ist, bist du .«
Andrea sah mit einem Mal ganz gequält aus. Ihre funkelnde Fassade blätterte. Sie war im Begriff, die Kontrolle zu verlieren. Jetzt fehlte nicht mehr viel.
»Carl, hör mir zu«, sagte ich. »Sie ist mit einem Küchenmesser auf ihren Ex losgegangen. Sie leidet an einer ernsten Psychose. Ruf die Polizei.«
»Die Polizei?«, sagte Andrea erstaunt. »Ich habe doch nichts getan.«
Ihre Augen bekamen nun etwas Wildes wie in einem Fieberkrampf. Sie krallte die Finger so fest in ihre Handtasche, dass ihre langen Nägel Spuren im Leder hinterließen.
»Das Spiel ist vorbei«, sagte ich. »Du arbeitest überhaupt nicht für den Geheimdienst.«
Nun betrachtete ich Andrea zum ersten Mal mit ganz anderen Augen, ich sah auf einmal keine Rivalin mehr in ihr, sondern nur diese traurige Gestalt, die sie in Wirklichkeit war. Ich hatte sie schon hasserfüllt erlebt, manipulierend, überheblich – aber die Frau, die da jetzt vor mir stand, zerbrach vor meinen Augen. Das war Andrea, wenn sie verzweifelt war.
»Lass uns jetzt in Frieden«, sagte ich. »Ich möchte mit Carl allein reden.«
Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und blitzten boshaft auf.
»Du bist diejenige, die von hier verschwinden wird«, zischte sie mich an. »Ich erlebe dich als aggressiv und bedrohlich.«
Ihr Blick wanderte wie ein Ameisenschwarm über meinen Körper. Der Metallgeschmack in meinem Mund war wieder da. Die Atmosphäre war unheilschwanger. Ich bemerkte, dass es draußen inzwischen heftig schneite.
Sag was, Carl. Warum sagst du nichts?
Dann endlich meldete er sich zu Wort.
»Ich möchte, dass du jetzt das Büro verlässt«, sagte er zu Andrea und klang sehr bestimmt. »Bitte lass Alex und mich allein.«
»Das ist unverschämt«, erwiderte sie. »Warum ergreifst du für sie Partei?«
» Weil ich in diesem Moment – Eva, Andrea, oder wer du nun sein magst – mit Alex sprechen möchte«, antwortete er.
Andrea blickte zwischen uns hin und her, als suchte sie verzweifelt nach einem Ausweg.
Und genau in dem Moment geschah es.
Ihre Augen fingen an zu glänzen und zu rollen, sodass man für eine Sekunde die weißen Augäpfel sehen konnte. Wütende, hektische Flecken breiteten sich in der Wangengegend aus. Sie starrte mich an und sah dabei fast so aus, als hätte sie Angst, und einen Augenblick lang dachte ich, sie würde gleich in Ohnmacht fallen. Ihre Augen wurden groß, dunkel und sahen ins Leere, und sie blinzelte mehrfach.
Als sie dann den Mund öffnete, war ihre Stimme ganz hoch, wie die eines kleinen Mädchens.
Ein ungeladener Gast hatte den Raum betreten.