Im Januar gibt es Tage, an denen ich den Frühling ahnen kann. Das Karge, Erbarmungslose löst sich ganz allmählich in Wohlgefallen auf. Die Luft wird spürbar milder.
Heute war so ein Tag. Der Nachtfrost schmolz langsam und tropfte von den Bäumen. Eine warme Atemwolke fuhr aus meinem Mund und verdunstete.
Ich fühlte mich alt und gleichzeitig jung. Alt, weil ich in den vergangenen zwei Jahren mehr Gräuel erleben musste als mancher normale Mensch in seinem ganzen Leben. Jung, weil ich am Leben war, frische Luft atmen durfte, und weil ich eine zweite Chance bekommen hatte.
Als ich über den Kiesplatz auf das große Krankenhausgebäude zulief, reflektierten die unzähligen Fenster das Sonnenlicht. Einen Moment lang blendete es mich, und als ich wieder klar sehen konnte, bemerkte ich einen Menschenauflauf vor dem Eingang. Ich fragte mich, wie lange sich die Leute da schon aufhalten mochten und wie ich am besten einen Bogen um sie machte. Journalisten und Fotografen lauerten wie ein Wolfsrudel rund um die Tür. Ihr Instinkt musste ihnen verraten haben, dass ich im Anmarsch war. Die Nachricht, was in Ash & Coals Villa vorgefallen war, hatte sich über Fernsehen, Internet und Zeitungen wie ein Lauffeuer verbreitet. Wir waren der Thriller der Woche. Selbst Redaktionen aus dem Ausland waren an der Story interessiert.
Die Ereignisse lagen erst eine Woche zurück, aber ich war die vielen Journalisten, ihre aufdringlichen Fragen und vorgefassten Meinungen schon furchtbar leid. Am meisten hasste ich diese kaltschnäuzigen Abendzeitungen, die über Leichen gingen. Von deren Redaktionen waren mit Sicherheit auch Leute da. Bislang hatte ich den Medien gegenüber kein Wohlwollen an den Tag gelegt, daher begegneten sie mir auf gleiche Art und Weise. Dani hingegen hatten sie auf ein Podest gehoben und sie zur mutigsten Frau des Jahres ausgerufen. Es gab jetzt sogar eine Facebook-Gruppe, die schon einige Tausend Mitglieder hatte, in der sie Geld für Erik und sie sammelten. Ich hatte nichts dagegen. Ich habe Dani immer alles gegönnt. Es war ein gutes Gefühl, dass immerhin sie so etwas wie Genugtuung genießen durfte. Aber da draußen kursierte das Gerücht, dass die eifersüchtige Alexandra Brisell Carl Asher und das Model in einer intimen Situation erwischt hätte. Es wurde spekuliert, ob ich Andrea angestiftet hatte, den Schuss auf Carl abzugeben. Oder ob sogar ich diejenige gewesen sei, die ihr die Pistole aus der Hand genommen und auf beide geschossen hatte. Andreas psychotischer Anfall vor zwei Jahren, als sie Peter Rysk fast umgebracht hätte, schien völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Die eifersüchtige Alex war die viel bessere News. Und es war absolut sinnlos, die Gerüchte zu dementieren. Die würden sich ohnehin noch eine ganze Zeit lang halten. Sollten die Leute doch glauben, was sie wollten.
Ich schlug die Kapuze meines Mantels hoch und legte einen Schritt zu. Die Reporter stürzten sich auf mich.
Wo ist Ihre Schwester, Alexandra? Können Sie uns schildern, was in der Villa passiert ist? Hatten Carl Asher und Andrea Zander wirklich gerade Sex, als sie ins Büro kamen? Alex, können wir bitte ein Foto machen! Alex, Alex, Alexandra Brisell!
»Was war das für ein Gefühl, von ihm betrogen zu werden?«, fragte mich eine Reporterin und fasste mich am Arm.
Ich schüttelte sie ab und rannte zur Eingangstür. Als mir keiner der Journalisten folgte, atmete ich erleichtert auf. Ich wollte mich der Dame an der Rezeption gerade vorstellen und sagen, wen ich besuchen wolle. Doch sie erkannte mich gleich, vermutlich von den Schlagzeilen, unter denen die Bilder von Carl, Andrea Zander und mir prangten.
»Einen Moment bitte«, sagte sie. »Ich rufe eine Schwester.«
Sie verschwand und kam kurz darauf mit einer Krankenschwester zurück, die mich bat, ihr zu folgen. Wir bogen in einen langen Flur und blieben vor dem allerletzten Zimmer stehen.
Bevor sie die Tür öffnete, drehte sie sich zu mir um und lächelte mich an.
»Er war kaum bei Bewusstsein, da hat er mir schon in den Ohren gelegen, Sie endlich sehen zu dürfen.«
»Aber ich darf ihn heute erst besuchen?«, fragte ich erstaunt.
»Stimmt … und eigentlich ist es immer noch zu früh. Er hat viel Kraft gelassen. Aber er hatte ein Riesenglück, dass die Kugel keine wichtigen Organe verletzt hat und der Chirurg sie entfernen konnte. Die Verletzung seines Brustkorbs ist allerdings ernst, und er darf sich keinesfalls überanstrengen. Achten Sie bitte darauf, dass er weder hustet noch lacht.«
Bei dem, was ich ihm zu sagen habe, besteht da wirklich kein Risiko, denke ich zynisch.
»Eine Viertelstunde«, sagte sie. »Mehr nicht.«
»Mehr brauche ich auch nicht«, erwiderte ich.
Im Zimmer standen drei Betten. Carl lag am Fenster. Als ich ihn da liegen sah, blieb die Zeit auf einmal stehen. Im Nu schien der ganze Raum zu verschwinden und mit ihm die Geräusche auf dem Gang und die dünnen Sonnenstrahlen, die auf den Boden fielen. Es war ein Gefühl, als hebe mich etwas in die Luft und lasse mich sanft wieder hinunter. Er sah so winzig aus. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er so gut wie tot gewesen. Aber jetzt hatte er eine Aura von Leben um sich. Sonnenstrahlen trafen auf seinen Kopf, es sah aus, als würden seine Haare brennen.
Mir blieb die Luft weg.
Er hatte gehört, dass ich ins Zimmer gekommen war. Ganz langsam drehte er seinen Kopf zu mir um. Er war zwar blass, aber nicht so aschfahl wie da auf dem Boden.
Oh Gott, seine Augen, dachte ich gleich – und erkannte Leben in ihnen. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Daran werde ich mich erinnern, solange ich lebe.
»Alex«, sagte er leise. Und dann: »Tut mir so leid.«
Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, dass ich es war.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen«, sagte er.
»Geht mir auch so«, sagte ich und versuchte, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken.
Er sah betreten und glücklich auf einmal aus.
Ich stellte die Tasche, die ich für ihn gepackt hatte, auf den Boden, ging zu seinem Bett und setzte mich auf einen Stuhl. Der Patient daneben schlief tief und fest. Das dritte Bett war leer und mit einem weißen Laken steril abgedeckt.
Carl legte seine Hand auf meinen Schoß und öffnete sie. Ich legte meine Hand in seine, und dann schloss er seine Finger darum. Wir schwiegen, sahen uns nur still eine lange Zeit an.
»Wie schnell du dich erholt hast«, sagte ich dann.
»Ja«, murmelte er. »Ich habe wie ein wildes Tier gekämpft, als ich da auf dem Boden lag, auch wenn du das nicht gemerkt hast. Auf irgendeine komische Art war ich bei Bewusstsein. Dein Gesicht schwebte über mir, ich …« Seine Stimme brach.
»Haben sie dir eigentlich erzählt, was dann passiert ist?«, fragte ich, vor allem, um diese für ihn so schmerzvolle Erinnerung abzubrechen.
»Nein, ich bin gerade erst von der Intensivstation hierherverlegt worden. Ich habe keine Zeitung zu Gesicht bekommen, hab auch kein Handy oder Zugang zu einem Computer, und die sind hier alle verdammt zugeknöpft.«
Er sprach leise und leicht verwaschen, sah mich aber unentwegt dabei an.
»Ich habe dir dein Handy und den Laptop mitgebracht«, sagte ich. »Und ich habe dir eine Playlist gemacht, zur Aufmunterung. In der Tasche ist was zum Anziehen. Soll ich dich mal updaten, was passiert ist?«
Jetzt drückte er meine Hand fester.
»Was ist mit Andrea?«
»Sie ist wesentlich schlechter dran als du und liegt noch auf der Intensivstation. Aber wahrscheinlich wird sie durchkommen, und das wäre auch für Dani gut. Die Polizei konnte eine Verbindung zwischen Andrea und einem Berufskriminellen in Malmö herstellen. Von dem hatte sie vermutlich die Pistole.«
In Carls Gesicht zuckte es.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Sie wird in der geschlossenen Psychiatrie landen. Willst du noch mehr wissen?«
»Nicht unbedingt, aber … ach doch, erzähl einfach.«
»Amanda ist an Andreas Krankenakte gekommen, frag nicht wie. Im Übrigen hat uns Amanda unglaublich viel geholfen, schon von den ersten Verdachtsmomenten an bis zu dem Tag, als wir in Schweden gelandet sind. Auf jeden Fall hat Jim Zander Andrea ganz furchtbar gequält, als sie klein war. Sie muss wohl ein etwas anstrengendes Kind gewesen sein, und da sind Jim und Ernst Zander auf die Idee gekommen, dass sie vom Teufel besessen sei. Jim hat sie gefoltert und gebrandmarkt …«
Carl schien nachdenklich.
»Hast du das schon gewusst?«
»Ja, sie hat mir ein bisschen davon erzählt.«
»Wie auch immer, jedenfalls wurden diese Übergriffe einfach totgeschwiegen. Ernst Zander hat sicher seinen Einfluss genutzt. Aber da gab es noch einen Psychologen, der Andrea als Teenager betreut hat, und der hat ihr geglaubt. Er hat eine Theorie aufgestellt, dass sie damals etwas entwickelt hat, was man eine dissoziative Identitätsstörung nennt. So etwas tritt auf, wenn man ein Trauma erleidet, man entwickelt dann quasi eine neue Persönlichkeit. In ihrem Fall war das eine harte, gefühlskalte Hexe, die sich in ihr eingenistet hat – das war die Andrea, die wir erlebt haben. Am Ende wurde ihr echtes Ich zu einer Art Hirngespinst. Aber alle Psychotherapeuten, die sie später behandelt haben, haben das übersehen, und das ist wirklich tragisch. Es gab ganz viele Diagnosen, aber niemand hat kapiert, was wirklich mit ihr los ist. Wir haben ja mit eigenen Augen erlebt, wie sich ihre zwei Persönlichkeiten abwechselnd zeigen. Das war schrecklich.«
»Ja, sehr unheimlich. Aber was sie über Jim erzählt hat, muss stimmen. Sie hat mir das Brandmal gezeigt.«
»Was nicht in meinen Kopf will, ist allerdings, dass du mit deiner Menschenkenntnis nicht sofort gemerkt hast, dass mit ihr was nicht stimmt. Hast du da mal drüber nachgedacht?«
»Ja, klar. Ich habe schon gespürt, dass irgendwas mit ihr los ist. Vielleicht habe ich mich deshalb sogar für sie interessiert. Es war, als hätte sie leise um Hilfe gerufen. Aber jetzt reden wir nicht mehr darüber, was für ein Idiot ich gewesen bin. Erzähl mir mehr von diesem Abend. Ich weiß nur noch, dass ich hingefallen bin. Und dann habe ich dein Gesicht vor Augen.«
Mein Blick fiel auf einen schrecklich hässlichen Blumenstrauß, in dem vor allem Disteln steckten. Er stand in einer Vase auf Carls Nachttisch.
»Wer hat die Blumen geschickt?«, fragte ich.
»Edna. Mit Grüßen von allen aus der Firma.«
»Sie hat wirklich einen lausigen Geschmack, wenn es um Blumen geht, aber sie ist diejenige gewesen, die die Polizei gerufen hat. Sie war nämlich an dem Abend noch im Haus und hat gelauscht und gleich den Notruf gewählt, als sie gemerkt hat, was passiert. Wäre Edna nicht gewesen, hättest du nicht überlebt. Und ich lebe nur, weil Dani gekommen ist. Andrea hatte mir die Pistole schon an den Kopf gehalten, als Dani mit einem von deinen Jagdgewehren aufgetaucht ist.«
Carl riss die Augen auf und drückte meine Hand jetzt noch fester, es tat fast weh.
»Sie wollte dich auch erschießen? Oh Alex. Ich habe dich nicht beschützt. Ich war wie gelähmt. Ich schäme mich so.«
»Das nennt man Schock«, sagte sie. »Du als Psychologe solltest das eigentlich wissen. Das kann jedem passieren, da muss man sich nicht schämen. Ich bin auch wie erstarrt gewesen, als sie nach der Pistole gegriffen hat. Dann hat sie darauf bestanden, dass ich sie ansehe, wenn sie mich erschießt, aber ich konnte den Blick nicht von dir abwenden. Es war so schlimm, wie du da auf dem Boden gelegen hast. Es sah aus, als wärst du tot.«
Ich hielt inne. Mir fiel etwas ein.
»Diese Sekunden, in denen ich mich geweigert habe, sie anzusehen, das war vermutlich genau die Zeit, die Dani gebraucht hat, um die Treppe hochzurennen. Interessant, oder? Wäre ich nicht so besessen davon gewesen, dich zu retten, dann wäre ich jetzt tot. Auch nicht schlecht, oder?«
»Das ist nicht nur nicht schlecht, das bedeutet einfach alles. Bitte, sag Edna und Dani ganz liebe Grüße von mir und vielen Dank. Richte ihnen aus, sie sollen mich besuchen kommen, dann kann ich mich selbst bedanken. Es ist wirklich nicht das erste Mal, dass Edna mir aus der Bredouille hilft.«
»Du hättest lieber auf sie hören sollen, als sie dich vor Andrea gewarnt hat.«
»Ja, da hast du recht. Ich war ein Riesenidiot. Weißt du, was jetzt aus der Sekte wird?«
»Sanctum ist zerschlagen worden. Die Polizei hat in mehreren Kliniken Razzien gemacht. Nun müssen sie sie alle schließen. Und das FBI ist an den Finanzen dran. Dough Marwood, Aaron Eastman, Axel Tynell und ein Typ, der Thomas Jackson heißt, sitzen in den USA in Untersuchungshaft. Das Erstaunliche ist, dass sie das umfangreiche Bild- und Tonmaterial, das Andrea zusammengestellt hat, jetzt endgültig zu Fall bringen wird. Es wird noch einiges zu untersuchen geben, doch dieses Mal werden sie hoffentlich nicht davonkommen. Und das Filmteam ist wieder in die USA zurückgeflogen. Die Polizei hat alle Aufnahmen, die noch vorhanden waren, beschlagnahmt, du musst dir darum also keine Sorgen machen.«
»Gott sei Dank. Diese Wochen waren wirklich ein einziger Albtraum. So schlecht ist es mir nicht mehr gegangen, seit ich zwölf war und beinahe meinen Vater erschlagen hätte. Und ich habe dich so vermisst, die ganze Zeit. Wirklich unerträglich. Aber dann war Eva da, oder Andrea, und dann …«
»Apropos. Auf ihrem Laptop haben sie einen Ordner gefunden, den sie Carl genannt hat. Sie war total besessen von dir. Sie hat sich schon ein Brautkleid ausgesucht und für dich einen Frack, und eine Location, wo ihr heiraten werdet, stell dir das mal vor …«
»Das möchte ich gar nicht hören«, sagte er kurz angebunden.
»Oh, sorry. Hast du ihr bei der Planung vielleicht geholfen?«
»Das ist überhaupt nicht witzig.«
»Sie war auch diejenige, die den Schuppen angezündet hat. Sie haben die Streichhölzer und ihre Klamotten, die sie dabei anhatte, unter dem Bett gefunden.«
Jetzt war er so frustriert, dass ich beschloss, sofort das Thema zu wechseln.
»Von allen soll ich Grüße ausrichten, von Dani, Steve und Brett.«
»Ist Dani wieder zurückgeflogen?«
»Nein, sie ist mit Erik noch in der Villa. Wir müssen in Schweden bleiben, bis die Polizei mit den Ermittlungen fertig ist. Brett ist übrigens im Anflug, er möchte dich sehen.«
»Der wird mich kurz und klein schlagen.«
»Ja, vermutlich. Wird ihm nicht schwerfallen.«
Carl sah gedankenverloren aus.
»Und was wird aus uns, Alex?«, fragte er schließlich.
Ich antwortete absichtlich ausweichend.
»Du meinst den Job? Ich hab mir gedacht, wir ziehen wieder nach Schweden um und bringen den Solvikhof auf Trab.«
Sein erleichtertes Aufatmen klang entspannter, es hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem Seufzen.
»Gemeinsam?«
Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ja. Dachte ich mir schon. Auch wenn ich mit Andrea in allem recht behalten habe, muss ich zugeben, dass ich dich bei deiner Arbeit am Solvikhof mehr hätte unterstützen können. Dass ich das nicht getan habe, ist mein Anteil an allem, was passiert ist. Jetzt werden wir uns also mit voller Energie um das Frauenhaus kümmern.«
»Und das beschließt du jetzt, einfach so?«
»Ja, ab jetzt treffe ich hier die Entscheidungen. Du bist ja zu neunzig Prozent schwanzgesteuert.«
Carl musste lachen und verzog schmerzverzerrt das Gesicht.
»Du darfst nicht lachen«, sagte ich ernst.
»Und was wird aus unserer Beziehung?«, fragte er dann.
»Ich verzeihe dir, dass du mit ihr ins Bett gegangen bist. Aber um alles andere zu verarbeiten, dass du mir nicht geglaubt und mich aufs Übelste erniedrigt hast, dafür werde ich meine Zeit brauchen.«
»Ich habe nicht gedacht … ich konnte doch nicht ahnen …«
»Du hast sie in unser Leben gelassen, obwohl ich dich von Anfang an gewarnt habe. Sie hat uns fast umgebracht, Dani hätte beinahe ihren Sohn verloren. Du hast einfach nicht auf mich hören wollen.«
»Ich war irgendwie ein anderer Mensch.«
»Genau. Und ich würde so was mit Sicherheit nicht noch mal durchstehen. Ich möchte, dass du eine Therapie machst, bevor wir irgendwelche Entscheidungen über unser Verhältnis zueinander treffen.«
Es fiel mir schwer, das auszusprechen. Meine Lippen fühlten sich kalt und taub an. Aber ihm jetzt falsche Hoffnungen zu machen, wäre noch gemeiner gewesen, als die Wahrheit auszusprechen.
Carl drehte den Kopf weg, um nicht zu zeigen, dass er weinte. Sein Kinn flatterte immer noch.
»Entschuldigung«, sagte er. »Es ist alles so viel.«
Ich beugte mich vorsichtig über ihn und spürte, wie sein Körper bebte, wie sein Herz raste.
»Sch … wir leben noch«, sagte ich. »Das ist doch schon mal ein guter Anfang? Wir hätten fast alles verloren, aber wir haben Glück gehabt.«
»Ich war so ein Idiot. Ich bin so fies zu dir gewesen. Wenn du mir eine zweite Chance gibst, werde ich dich nie wieder enttäuschen.«
»Das sind aber sehr klare Worte. Und es ist ein Versprechen, das du vermutlich nicht halten kannst. Jetzt schlaf erst mal. Ich komme dich morgen wieder besuchen.«
Er sah mich voller Zärtlichkeit an.
»Kannst du dich noch mal in mich verlieben?«
»Darüber mag ich wirklich nicht spekulieren«, sagte ich, während mir eine einzelne Träne über die Wange lief, und ich dachte: Dummkopf, ich hab dich doch immer geliebt .
Unser Gespräch war für ihn anstrengend gewesen, jetzt schien er erschöpft zu sein. Carl gab sich Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken, aber innerhalb von Minuten war er eingeschlafen. Ich betrachtete ihn still. Seine Wimpern zitterten im Traum. Vorsichtig gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn. Und in dem Moment, als ich mich fragte, was er wohl gerade träumte, kam mir etwas anderes in den Sinn: Er würde sich für sein Verhalten noch lange Zeit schämen. Aber selbst, wenn nicht alles zwischen uns wieder so wie früher werden würde, könnte ich doch immer ein bisschen Licht in sein Leben bringen.
Der Mann in dem mittleren Bett, ein älterer Herr, war jetzt aufgewacht.
»Hallo, Alex!«, sagte er und neigte sich zu mir.
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«, fragte ich ihn verblüfft. Dann fiel mir ein, dass er vielleicht etwas in der Zeitung über mich gelesen haben könnte.
»Er hat nach Ihnen gerufen, im Traum«, sagte er und nickte zu Carl hinüber. »Und jetzt kann ich verstehen, warum.«
»Ach was, das Morphium macht ihn ein bisschen wirr im Kopf«, sagte ich verlegen. »Morgen Vormittag komme ich wieder zu Besuch. Kann ich Ihnen vielleicht etwas mitbringen?«
»Ja. Wenn Sie es hinkriegen, eine Dose Snus von der Firma Granit hier reinzuschmuggeln, wäre das ausgezeichnet«, sagte er. »Schieben Sie mir die Dose einfach unters Kopfkissen, falls ich schlafe. Sie können sich das Geld aus meinem Portemonnaie nehmen …«
»Nicht nötig. Ich besorg das für Sie«, versprach ich ihm.
Er nickte zufrieden und schloss wieder die Augen.
Ich ging zum Fenster und blickte zu dem Rudel Journalisten hinunter, das immer noch auf dem Rasen am Krankenhauseingang campierte. Ich würde unmöglich an denen vorbeikommen, wenn ich zum Bus wollte. Also rief ich mir ein Taxi, auf das ich circa zehn Minuten warten musste. Und ich wusste schon, was ich in der Zwischenzeit tun würde.
Ich holte Carls Handy und seinen Laptop aus meiner Handtasche und hängte die Geräte an den Strom. Willkommen zurück in der Welt, Carl , dachte ich.
Als Bildschirmschoner hatte er auf dem Laptop ein Bild von uns beiden. Ich ersetzte es durch ein Foto von einem tropischen Aquarium. Es tat zwar weh, unser Bild verschwinden zu sehen, aber es musste sein. Dann loggte ich mich auf seiner Facebook-Seite ein und änderte seinen Status von »in einer Beziehung mit Alex Brisell« in »Single«. Aber auf seinem Smartphone durfte er das Foto von mir behalten. Für eine gewisse Zeit würde zwischen Carl und mir alles rein geschäftsmäßig sein.
Mir fiel ein, was Dani mal gesagt hatte, dass unsere DNS knallhart sei. Wer uns Probleme machte, musste einen Preis bezahlen. Und Carl hatte einiges dazuzulernen. Ich grinste, während ich sanft mit einem Finger über seine Wange strich.
Zufrieden brummelte er leise im Schlaf.