2. Kapitel

 

18. September, morgens halb acht in Niederhaibach

 

„Jetzt steh auf Karl! Wir wollen doch mit dem Rad los“, sagt Rosi, als sie die Schlafzimmertür aufreißt und mich ohne Erbarmen aus dem Schlaf reißt.

„Muss das denn schon so früh sein?“, frage ich seufzend. „Ich habe gerade nochmal eingeschlafen.“

Nicht einmal in Pension kann man in Ruhe ausschlafen.

„Du liegst jetzt seit über neun Stunden im Bett. Zu viel Schlaf ist übrigens auch nicht gesund“, sagt sie vorwurfsvoll.

„Was soll denn daran nicht gesund sein“, brumme ich.

„Da wird man faul und träge, was man an dir ja sehen kann“, giftet sie mich an.

„Sag mal bist du heute mit dem verkehrten Fuß aufgestanden, oder warum motzt du mich hier in aller Herrgottsfrüh schon wieder so an?“

„In aller Herrgottsfrüh, dass ich nicht lache.“

Sie zieht mit einem zynischen Lachen die Vorhänge zurück und sofort blendet mich die grelle Sonne. Wir hätten das Haus anders planen sollen. Meine Frau wollte, dass die Morgensonne ins Schlafzimmer fällt, und nun habe ich den Salat. Das grelle Licht blendet mich und ich kneife meine Augen zu.

„In aller Herrgottsfrüh ist, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Normalerweise steht man mit dem ersten Hahnkrähen auf.“

„Ein Glück, dass der Nachbar seinen blöden Gockel nicht mehr hat“, knurre ich und denke an die Zeit zurück, als die Nachbarin noch so ein Vieh in ihrem Garten gehalten hat.

Jeden Morgen hat mich dieser blöde Hahn aus dem Schlaf gerissen. Glücklicherweise haben sie dem mittlerweile den Kopf abgeschlagen und ihn im Ofen gebraten. Das hört sich vielleicht grob an, aber hätten die Eigentümer das nicht getan, wäre ich vermutlich sogar zu seinem Mörder geworden. Ich habe noch nie einen so schrecklichen Hahn krähen hören, wie dieses Exemplar. Vor allem hatte der eine unglaubliche Ausdauer.

„Dir kann man es auch nicht recht machen. Jetzt ist es dir zu früh, später dann bestimmt zu heiß. Gib doch einfach zu, dass du keine Lust hast!“

Da kann ich ihr jetzt natürlich nicht widersprechen, sonst müsste ich sie ja anlügen. Tatsächlich kann ich mir wirklich etwas Schöneres vorstellen, als in die Pedale zu treten. Ich hätte meiner Frau doch zustimmen sollen, als sie vorgeschlagen hat, wir sollten uns E-Bikes zulegen. Allerdings war mir da klar, dass dies regelmäßige Radtouren bedeutet hätte. Daher habe ich es ihr wieder ausgeredet.

„Ich komme ja schon“, seufze ich schließlich, denn es ist zwecklos meiner Frau zu widersprechen.

Natürlich gehe ich es heute Morgen langsam an. Gemütlich putze ich mir die Zähne und investiere viel Zeit in meine Körperhygiene. Ich habe es nicht eilig mich auf dem Drahtesel abzustrampeln.

Als ich in die Küche komme, steht kein Frühstück bereit. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise hat Rosi um diese Zeit längst den Tisch gedeckt. Stirnrunzelnd sehe ich mich um. Von meiner Frau fehlt auch jede Spur. Allerdings steht der Wanderrucksack schon bereit. Ich werfe einen Blick hinein und neben zwei Wasserflaschen befindet sich darin auch eine Tupperschüssel.

„Bist du jetzt endlich soweit?“

Erschrocken fahre ich herum. Seit wann schleicht sich meine Frau so leise an?

Ob sie weiß, dass das absolut nicht gut für mein Herz ist? Dabei ist sie doch immer so erpicht darauf, dass ich mich gesund und fit halte. Offensichtlich gilt das nur in Bezug auf die Ernährung und Bewegung.

„Ich habe noch gar nichts gefrühstückt“, entgegne ich.

„Ein bisschen Fasten schadet dir sicherlich nicht“, sagt Rosi und nimmt den Rucksack an sich.

„Du willst, dass ich ohne etwas im Magen Sport mache?“, rufe ich ungläubig.

„Ich habe dir doch schon einmal etwas von Intervallfasten erzählt. Das fördert die Gesundheit. Da du das Abendessen nicht ausfallen lassen willst, muss eben das Frühstück daran glauben“, sagt sie schulterzuckend. „Ich habe etwas zu Essen eingepackt. Wir können gegen zehn Uhr eine Pause machen und was Essen.“

„Gegen zehn Uhr“, rufe ich aufgebracht. „Bis dahin bin ich verhungert.“

„So schnell verhungert man nicht“, brummt sie. „Jetzt komm!“

Ungläubig starre ich ihr nach, wie sie mit dem Rucksack die Küche verlässt.

„Du bist schuld, wenn ich vom Rad falle.“

„Ja, ja“, murmelt sie.

Offensichtlich ist ihr das völlig egal.

Wie soll ich denn mit leerem Magen Radfahren?

Für gewöhnlich gehe ich nie ohne Frühstück aus dem Haus. Schon gar nicht, wenn körperliche Anstrengung ansteht. Das kann doch unmöglich gesund sein!

Ich gehe ins Wohnzimmer und öffne die Süßigkeitenschublade. Dort befindet sich eine angebrochene Tafel Schokolade, von der ich ein Stück abbreche und mir in den Mund stecke.

Meine Frau muss ja nicht wissen, dass ich mir noch ein bisschen Zucker gönne. Somit wende ich die Gefahr ab in die Unterzuckerung zu fallen. Immerhin kann ich nicht zulassen, dass mir beim Radfahren schwarz vor Augen wird, das ist ja unverantwortlich. Natürlich würde meine Frau mir Schokolade zum Frühstück niemals genehmigen.

Als ich in der Garage ankomme, ist meine Frau schon abfahrbereit. Ich schwinge mich auf mein Rad, was vor ein paar Jahren auch noch leichter ging, und ehe ich mich versehe befinden wir uns auch schon auf der Straße.

Da unsere Gemeinde ein Vermögen für Radwege ausgegeben hat, können wir nebeneinander fahren. Meine Frau tritt natürlich gewaltig in die Pedale. Sie ist um einiges fitter als ich, auch wenn ich das niemals in der Öffentlichkeit zugeben würde.

„Sind wir hier bei der Tour de France?“, frage ich sie schwer atmend.

Wenn wir in dem Tempo weiterfahren, dann ist die Unterzuckerung mein geringstes Problem. Da machen meine Lunge und meine Muskeln vermutlich schon früher schlapp. Ich sage es ja nicht gerne, aber meine Frau hat recht. Ich sollte mich wohl mehr bewegen.

„Wir fahren einfach nur auf der Ebene. Das ist doch wirklich nicht anstrengend“, entgegnet sie.

„Das ginge aber auch ein bisschen gemütlicher. Noch dazu, da ich noch nichts gegessen habe.“

Sie wirft mir einen Seitenblick zu und schmunzelt dabei. Offensichtlich findet sie es amüsant mich zu quälen. Ich trete stärker in die Pedale. Wollen wir doch mal sehen, ob ich mit meiner Frau nicht doch mithalten kann.

Es funktioniert ganz gut. Zumindest bis der erste Berg kommt. Na gut, es ist nicht direkt ein Berg, sondern vielmehr eine kleine Erhöhung. Dennoch falle ich sofort etwas zurück. Keine Ahnung woher meine Frau ihre Energie nimmt. Immerhin ist sie auch nur ein bisschen jünger als ich.

„Wann machen wir Pause?“, rufe ich ihr nach, als sie bereits eine Fahrradlänge vor mir ist.

„Wir sind gerade erst losgefahren“, erwidert sie tadelnd.

„Mir kommt es vor, als wären wir schon stundenlang unterwegs“, brumme ich für sie nicht hörbar.

Das ist für meine Frau also eine kleine Radtour. Vermutlich sprengt sie mich den ganzen Tag durch die Gegend, sodass ich heute Abend nicht mehr sitzen kann. Zu allem Überfluss knurrt auch noch mein Magen.