18. September, mittags halb zwölf ein paar Kilometer von Niederhaibach entfernt
Ich versuche meine Frau zu beruhigen, während wir auf meine Kollegen warten.
„Du solltest dich lieber hinsetzen!“, schlage ich ihr vor.
Sie ist kreidebleich im Gesicht. Die Situation überfordert sie völlig. Eigentlich sollte ich mir die Leiche ja noch etwas genauer ansehen, doch ich warte lieber bis die Verstärkung eintrifft. Bis dahin sorge ich dafür, dass meine Frau nicht aus den Latschen kippt.
Während sie geistesabwesend mit dem Kopf nickt, stütze ich sie, damit sie sich auf den großen Stein setzen kann. Dabei versuche ich sie so zu platzieren, dass sie nicht mehr auf die Leiche blicken muss. So wird es für sie hoffentlich etwas leichter.
„Da kommen sie ja endlich“, sage ich erleichtert, als ich die Kollegen ankommen sehe.
Hansi und Simone steigen als erste aus dem Wagen und während eine Gerichtsmedizinerin, die ich noch nie zuvor gesehen habe ihre Untersuchungstasche aus dem Kofferraum holt, kommen die beiden auf mich zu.
„Wo ist denn der Rudi?“, frage ich die beiden, nach einer kurzen Begrüßung.
„Der hat Urlaub“, antwortet Hansi.
„Frau Sommer ist seine Vertretung“, erklärt Simone und stellt uns in diesem Zuge gleich vor.
Ich reiche der Gerichtsmedizinerin die Hand.
„Freut mich.“
„Mich auch“, entgegnet sie und lächelt dabei freundlich.
Anschließend öffnet sie ihre Tasche und zieht sich ein Paar Handschuhe über.
„Haben Sie die Leiche schon bewegt?“, fragt sie, bevor sie mit der Untersuchung beginnt.
Ich schüttle den Kopf.
„Nein, ich habe nur nach dem Puls gefühlt und festgestellt, dass die Leiche schon ziemlich kalt ist“, antworte ich der blonden Frau Mitte vierzig.
Als Erstes macht sie Fotos von der Leiche, dann beugt sie sich hinunter und beginnt mit der Untersuchung. Doch schon als sie den Oberkörper leicht anhebt, beendet sie diese umgehend und richtet sich auf.
„Da müssen auch die Kollegen der Spurensicherung kommen“, informiert sie uns. „Der Mann wurde erschossen. Das war definitiv Mord.“
„Was?“, ruft meine Frau, die auf dem Stein sitzt und deren Gesichtsfarbe noch immer weit von normal entfernt ist.
„Deswegen das viele Blut“, murmle ich.
Mir ist schon zuvor aufgefallen, dass sich unter dem Brustbereich des Mannes das Gras rot gefärbt hat. Aber da bin ich noch davon ausgegangen, dass er sich beim Sturz verletzt hatte.
„Was ich jetzt auf den ersten Blick gesehen habe, hat der Täter direkt das Herz erwischt. Vermutlich war das Opfer gleich tot, aber um dies mit Sicherheit sagen zu können, muss ich die Leiche noch genauer untersuchen“, sagt Frau Sommer.
„Ich rufe gleich die Spusi an“, schlägt Simone vor und angelt ihr Telefon aus der Hosentasche.
„Wer erschießt denn einen Radfahrer?“, fragt meine Rosi völlig aufgelöst.
Für sie ist die Situation definitiv zu viel. Ich befürchte, dass ihr die Bilder noch lange nachgehen werden. Leider gibt es keine Tipps und Kniffe, wie man solche Erfahrungen am besten verarbeiten kann. Jeder geht damit auf seine Weise um und je öfter man natürlich mit dem Tod zu tun hat, desto abgestumpfter wird man.
Für mich ist das schon ein gewohnter Anblick und ich habe auch schon weitaus schlimmer zugerichtete Leichen gesehen. Doch meine Frau ist auf diesem Gebiet noch sehr unerfahren und von Haus aus ein sehr mitfühlender Typ. Daher wäre dieser Beruf für sie auch niemals geeignet gewesen. Rosi ist ein sehr sozialer Mensch und für Mord und Verbrechen nicht gemacht.
„Das werden wir herausfinden“, versichere ich meiner Frau.
Sie nickt abwesend und stützt sich mit den Ellbogen auf ihren Knien ab, bevor sie ihr Gesicht in ihren Händen vergräbt. Simone sieht besorgt zu ihr.
„Soll ich sie lieber nach Hause fahren?“, fragt sie mich.
„Das ist vielleicht keine schlechte Idee“, antworte ich nachdenklich und sehe zu Rosis Fahrrad. „Aber wie bekomme ich dann das Rad heim?“
In Rosis derzeitigem Zustand sollte sie wirklich nicht am Straßenverkehr teilnehmen. Es wäre wirklich besser, wenn Simone sie mit dem Auto nach Hause fährt.
„Das kann doch Hansi nach Hause fahren“, schlägt Simone vor.
„Ich?“, fragt er überrascht. „Wisst ihr, wie lange ich schon nicht mehr auf einem Drahtesel gesessen bin?“
„Dann wird es höchste Zeit“, entgegne ich.
„Ich habe keine Ahnung, ob ich das überhaupt noch kann.“
„Radfahren verlernt man nicht“, sagt Simone.
Er stößt seufzend den Atem aus.
„Von mir aus.“
Ich gehe zu Rosi und beuge mich zu ihr.
„Simone fährt dich nach Hause. Dort legst du dich etwas hin und ruhst dich aus!“
Sie sieht zu mir auf und der Schock ist ihr deutlich anzusehen.
„Aber mein Fahrrad“, murmelt sie, wobei dies nicht unbedingt ein Einwand, sondern vielmehr ein Hilferuf ist.
„Mach dir keine Sorgen. Das fährt Hansi nach Hause“, beruhige ich sie.
„Ah, gut“, murmelt sie kaum hörbar.
Sie erhebt sich und ich lege meinen Arm um ihre Schulter.
„Ich komme nach, sobald wir hier fertig sind.“
„Ich komme schon klar“, versichert sie mir.
Während Rosi mit Simone in das Auto steigt, gehe ich mit Hansi zu der Leiche. Dort ist Frau Sommer noch immer bei der Arbeit. Mittlerweile hat sie die Leiche auf den Rücken gedreht und wir haben einen freien Blick auf sein Gesicht.
Das Opfer ist hager, doch es ist nicht zu übersehen, dass er sehr sportlich und durchtrainiert war. Die enge Sportbekleidung zeigt jeden einzelnen Muskel. Da hat der arme Kerl sich sein ganzes Leben so abgestrampelt und dann jagt ihm einfach jemand eine Kugel in die Brust.
„Es gibt keine Austrittswunde. Das bedeutet die Kugel steckt noch irgendwo im Körper des Opfers. Da die Leichenstarre bereits einsetzt, ist der Mord etwa ein bis zwei Stunden her“, erklärt sie.
„Wie heißt der Mann?“, hake ich nach.
„Er hat leider keine Geldbörse bei sich. Es wird etwas dauern, bis die Kollegen das herausbekommen haben“, antwortet sie.
Ein Kollege kurz vor der Rente gesellt sich zu uns. Wir haben früher schon oft zusammengearbeitet und er ist ein wirklich guter Polizist.
„Der Schuss muss von der Richtung gekommen sein. Er hat ihm von vorne direkt in die Brust geschossen“, erklärt er und deutet mit dem Finger in die Richtung, in die er sieht.
„Wenn ihr mir etwas Zeit gebt, dann kann ich auch genauere Angaben zur Fluglinie und Entfernung geben“, sagt Frau Sommer.
Um die Wartezeit zu überbrücken, schwingen Hansi und ich uns auf die Fahrräder und treten den Heimweg an. Die Kollegen übernehmen die restlichen Arbeiten hier und wir werden erst bei den Ermittlungen wieder benötigt.