19. September, mittags halb elf in Straubing
Gleich im Anschluss fahren wir weiter zur Arbeitsstelle des Opfers. Dabei handelt es sich um eine Gartenbaufirma und ich hoffe, dass wir mit der Befragung schnell durch sind.
Hansi lenkt das Auto auf den Parkplatz der Firma und mir ist schon klar, dass wir vermutlich nur einen geringen Teil der Kollegen hier antreffen werden. Immerhin handelt es sich um eine Gartenbaufirma und da arbeiten die Leute nun einmal auf Baustellen im Freien und nicht in der Firma. Aber zumindest der Chef sollte im Büro sein, es sei denn er arbeitet auch noch draußen mit.
Tatsächlich haben wir Glück und treffen den Firmeninhaber an. Er nimmt sich auch gleich Zeit für uns und bittet uns in sein Büro.
„Es geht um Ihren Angestellten, Herrn Kramer“, informieren wir ihn, nachdem wir uns vorgestellt haben.
„Ich habe schon von seinem schrecklichen Tod erfahren“, entgegnet er sichtlich bestürzt.
„Hatte Herr Kramer denn jeden Montag frei?“, frage ich den Vorgesetzten unseres Opfers.
Immerhin haben wir die Information erhalten, dass Herr Kramer jeden Montag um die gleiche Zeit seine Radtour gemacht hat. Normale Leute arbeiten ja montags um diese Zeit.
„Ja, Herr Kramer hatte eine vier-Tage-Woche“, antwortet der Mann.
„Ist das denn bei Ihnen normal, dass die Leute nur vier Tage die Woche arbeiten?“, frage ich irritiert.
Es ist mir unverständlich, warum ein junger Mann nur vier Tage die Woche arbeitet. Wie soll man denn auf vier Tage vierzig Stunden arbeiten?
Das würde ja bedeuten, man muss jeden Tag zehn Stunden arbeiten. Soweit ich weiß, ist das gar nicht erlaubt, oder zumindest sehr grenzwertig.
„Für alle, die das gerne möchten, bieten wir auch eine vier-Tage-Woche an. Um seine Arbeitnehmer zu halten, muss man als Chef mittlerweile flexibel sein“, erklärt er. „Work-Life-Balance ist für die Leute heutzutage sehr wichtig.“
„Dann arbeiten Ihre Angestellten zehn Stunden täglich?“, frage ich ihn.
Er schüttelt den Kopf.
„Nein, meine Leute können sich aussuchen, wie viele Stunden sie wöchentlich arbeiten möchten. Herr Kramer hatte zum Beispiel eine vierunddreißig-Stunden-Woche und montags seinen freien Tag.“
„Gab es denn Probleme bei Herrn Kramer?“, fragt Simone den Mann.
„Sie meinen hier in der Arbeit?“, erwidert er.
Sie nickt ihm zu.
„Nein, er war ein angenehmer Angestellter und ich habe auch nicht mitbekommen, dass es in seinem Team oder mit den anderen Kollegen Unstimmigkeiten gab“, antwortet er. „Soweit ich weiß, hat er sich mit allen sehr gut verstanden und sie haben auch ab und an mal etwas privat unternommen.“
„Also kein Streit unter Kollegen?“, hakt Hansi nach.
„Nein, nicht dass ich wüsste“, sagt der Chef entschlossen.
Ich wechsle mit meinen Kollegen einen Blick und kann mir vorstellen, was sie sich gerade denken. Es gibt wohl keine Arbeit bei der immer alles nur Friedefreudeeierkuchen ist. Überall gibt es mal Unstimmigkeiten oder Auseinandersetzungen. Das bedeutet, der Chef lügt uns an, oder es handelt sich hier um eine absolute Ausnahmefirma.
„Dann gab es in dieser Firma noch nie Unstimmigkeiten?“, fragt Simone schließlich misstrauisch nach.
Der Firmeninhaber seufzt und zuckt mit den Schultern.
„Natürlich gab es schon einmal die ein oder andere Meinungsverschiedenheit, aber nie so, dass man es als Streit hätte bezeichnen können. Wir achten hier sehr darauf, dass immer alles angesprochen wird, was einem sauer aufstößt. Somit wollen wir verhindern, dass es überhaupt zu Streitigkeiten kommt.“
Ich bin mir nicht sicher, ob der Mann das einfach nur so dahinsagt, weil man das von einer guten Führungsperson erwartet, oder ob er wirklich in seiner Firma darauf achtet. Vielleicht war er auch einfach vor kurzem in einem Seminar für Führungspersonen, in dem man ihm das vorgebetet hat.
Können wir denn noch mit Ihren Angestellten reden?“, frage ich ihn.
„Natürlich, aber die befinden sich jetzt alle auf den Baustellen“, antwortet der Mann. „Heute gegen achtzehn Uhr müssten sie alle wieder eintrudeln.“
„Können Sie uns denn die Adressen der Baustellen geben, dann können wir gleich noch hinfahren?“, frage ich ihn. „Die werden sich ja alle im Umkreis befinden oder?“
„Ja, wir haben so viel Arbeit, dass ich keine Baustellen annehmen muss, die sich über zwanzig bis dreißig Kilometer entfernt befinden.“
Der Mann zückt seinen Kugelschreiber und notiert uns die Adressen auf einem Blatt Papier.
„Wie viele Baustellen haben Sie denn derzeit?“, frage ich ihn, als er schon bei der dritten Adresse angekommen ist.
„Wie haben vier Teams, zu je drei Mann“, antwortet er mir. „Da Herr Kramer ja nun nicht mehr ist, sind es bei der ersten Adresse nur noch zwei Mann.“
Nachdem uns der Chef alle Informationen gegeben hat, nach denen wir ihn gefragt haben, brechen wir zu der ersten Adresse auf. Dort befinden sich die zwei Kollegen, mit denen unser Opfer direkt zusammengearbeitet hat. Wenn einer der Kollegen etwas weiß, was uns in dem Fall behilflich sein könnte, dann ist die Chance bei den zweien wohl am größten.
Als wir bei der Adresse ankommen, ist einer der beiden gerade dabei mit der Schubkarre Sand auf dem Rasen zu verteilen, während sein Kollege auf eine weitere Schubkarre Sand schaufelt. Ich frage mich ja, was Sand im Rasen zu suchen hat, aber die Frage behalte ich lieber für mich, als dass ich mich wieder als völlig desinformiert enttarne.
Vermutlich hat es einen guten Grund, warum dies gemacht wird. Ich kenne es nur vom Fußball, denn dort wird auf den Plätzen auch regelmäßig Sand verteilt. Allerdings habe ich mich noch nie gefragt, warum dies wohl so ist. Aber irgendeinen Grund wird es dafür schon geben.
„Servus, können wir uns mal kurz mit euch unterhalten?“, fragt Hansi die beiden, während Simone ihnen ihren Dienstausweis unter die Nase hält.
„Natürlich, es geht sicherlich um den Helmut oder?“, erwidert der Ältere, der beiden Kollegen.
Der Jüngere stellt seine Schubkarre ab und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. So eine Knochenarbeit an der frischen Luft ist zwar vermutlich gesund und hält einen fit, aber für mich wäre das nichts gewesen.
Derzeit werden ja die Temperaturen schon wieder erträglicher, aber wenn ich daran denke, im Hochsommer hier Erde und Sand schippen zu müssen, kann ich mir weitaus Schöneres vorstellen.
Bei unserer Befragung wirken die beiden aufrichtig und ich glaube ihnen auch, dass sie sich mit Herrn Kramer gut verstanden haben. Offensichtlich waren sie ein gut eingespieltes Team und haben schon seit über einem Jahr täglich zusammengearbeitet. Alle drei haben offensichtlich eine verkürzte Arbeitswoche und ich frage mich wirklich, wie man sich das in so jungen Jahren, wie es bei dem jungen Kollegen der Fall ist, leisten kann oder möchte.
Wenn ich zurückdenke, als ich in diesem Alter war, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, weniger zu arbeiten. Gerade in dem Alter braucht man doch jeden Euro und möchte doch auch etwas zur Seite sparen. Ich hatte ja Pläne. Wollte ein Haus bauen, und eine Familie gründen. Zu meiner Zeit hat man sich keine Gedanken um die Work-Life-Balance gemacht. Den Begriff gab es gar nicht. Da hat man einfach seine vierzig Stunden gearbeitet und die ein oder andere Überstunde auch noch drangehängt.
Aber so ändern sich nun einmal die Zeiten.