19. September, abends halb sechs in Niederhaibach
„Warum müssen wir eigentlich schon so früh in der Kirche sein?“, frage ich genervt, als wir schließlich in einer der vordersten Bänke Platz genommen haben.
Wir sind natürlich einer der ersten und es sind lediglich die ersten drei Bankreihen besetzt. Kein Wunder, immerhin geht das Konzert erst in einer Stunde los. Wer setzt sich schon freiwillig eine Stunde vor Beginn auf den Platz und wartet ohne Essen und Trinken?
„Weil wir später nur noch hinten einen Platz bekommen hätten“, flüstert sie mir mit einem tadelnden Blick zu.
Seufzend lehne ich mich zurück und harre der Dinge die da kommen. Ich lasse meinen Blick über die ersten Bankreihen schweifen, auf der Suche nach so armen Trotteln, wie ich es bin. Es dauert nicht lange, bis ich schließlich fündig werde.
In der zweiten Reihe auf der anderen Seite erblicke ich den Leitner Xaver. Der arme Kerl teilt offenbar mein Schicksal. Auch er sitzt mit gelangweilter Miene in der Bank und wirkt nicht sonderlich erfreut. Tatsächlich bin ich wohl nicht der Einzige, der nicht freiwillig diesem Konzert beiwohnen wird.
Als ich meinen Kopf noch weiterdrehe, sehe ich noch zwei Leidgenossen, von denen ich mit ziemlicher Sicherheit weiß, dass ihr Erscheinen lediglich der Erpressung ihrer Frauen geschuldet ist. Keiner von ihnen würde freiwillig eine Stunde vor Konzertbeginn hier Platz nehmen. Mal davon abgesehen, dass keiner von ihnen überhaupt Interesse an diesem Konzert hätte.
Vermutlich hat der Pfarrer auch seine Finger im Spiel. Er hat beim letzten Treffen des Frauenbundes im Pfarrheim sicherlich auch vorbeigeschaut und die Damen zu dem Konzert persönlich eingeladen.
Alle wissen ja was das bedeutet. Eine Einladung des Pfarrers kommt einem direkten Befehl von oben gleich, dem jede gläubige Christin Folge leistet. Es ist kein Geheimnis, dass diese auch angehalten werden, ihre Ehemänner auf den rechten Weg der Tugend zu führen, indem sie diese mit mehr oder weniger krimineller Energie zur Gefolgschaft überreden.
Auch meine Rosi ist da keine Ausnahme, obwohl sie sich durch den örtlichen Pfarrer bei weitem nicht so sehr beeinflussen lässt, wie so manch andere Dorfbewohnerin. Die Kirche jammert ja in letzter Zeit immer, weil ihnen angeblich die Schäfchen reihenweise davonlaufen. In Niederhaibach ist dies sicherlich nicht der Fall und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dies in anderen ländlichen Dörfern in Bayern ein großes Problem ist. Hier wird man regelrecht in die kirchliche Gemeinschaft hineingeboren.
Die Erfindung der Taufe, noch bevor ein Mensch überhaupt Einwände vorbringen kann, war wirklich ein grandioser Schachzug der Kirchenoberhäupter. Als mein Sohn damals seine Ausbildung gestartet hat und ich ihn darauf vorbereitet habe, dass spätestens mit Ende der Ausbildung, bei vollem Verdienst die Kirchensteuer fällig wird, hat er mich gefragt, wann er denn dem Eintritt zugestimmt hätte.
Mit großen Augen sah er mich damals an, während er offensichtlich angestrengt darüber nachdachte, wann er dieser Gemeinschaft zustimmte. Als ich ihm erklärte, dass wir dies gleich nach seiner Geburt für ihn übernommen hatten, konnte ich ihm für seine Antwort nicht einmal böse sein.
„Dann solltest du auch meine Kirchensteuer bezahlen“, sagte er in seinem jugendlichen Alter und ich konnte mir daraufhin ein Lachen nicht verkneifen.
Irgendwo hatte er ja recht. Acht Prozent von der Lohnsteuer abtreten, nur weil die Eltern bei der Geburt seine Religionszugehörigkeit entschieden haben, hat nicht wirklich viel mit freier Entscheidung zu tun.
Es wundert mich daher nicht großartig, dass unser Sohn ein paar Jahre später aus der Kirche ausgetreten ist. Allerdings sind seine Frau und unsere Enkelin sehr wohl noch bei der Kirchengemeinde. Immerhin möchte man dem Kind ja im beschaulichen Bayern die Teilnahme an der heiligen Kommunion nicht verweigern.
Außerdem arbeitet unsere Schwiegertochter nur Teilzeit und die Höhe der Kirchensteuer hält sich daher in Grenzen. Man kann sich darüber streiten, ob dies nun ethnisch korrekt ist. Meine Frau hatte sich über den Austritt unseres Sohnes aus der Kirche damals fürchterlich aufgeregt. Ich bin ja der Meinung, dass sollte jeder so halten, wie er es für richtig hält.
Außerdem habe ich im Laufe meines Lebens genug Kirchensteuer bezahlt. Zudem finde ich es ja schon verwerflich, dass eine Religion mit der Abgabe einer Steuer gekoppelt ist. Aber es ist eben wie überall auf der Welt. Letztendlich geht es doch nur ums Geld.
Als ich gedankenverloren zu Xaver sehe, wendet er plötzlich seinen Kopf und unsere Blicke treffen sich. Kaum merklich nickt er mir zu, was ich mit einem bedauernden Ausdruck erwidere. Wie heißt das Sprichwort so schön. Geteiltes Leid ist halbes Leid und wir beide leiden in diesem Moment wirklich sehr.
Als das Konzert endlich beendet ist, strömen die Menschen alle gleichzeitig aus der Kirche. Nicht nur, dass wir zuvor ewig gewartet haben, um in den ersten Reihen einen Platz zu bekommen, jetzt sind wir aus diesem Grund natürlich auch die Letzten, die die Kirche verlassen können.
Im Gedränge des Kirchengangs treffe ich auf Xaver, der mir einen erleichterten Blick zuwirft.
„Jetzt aber noch ein Bier beim Wirt oder?“, flüstert er mir zu.
Plötzlich höre ich Richards Stimme hinter mir, der wohl ebenfalls zu dem Konzert genötigt wurde.
„Nicht nur eins“, flüstert er uns von hinten zu.
„Dann sind wir uns ja einig“, sage ich schmunzelnd und ignoriere den tadelnden Blick meiner Frau.
Natürlich weiß ich, dass man in der Kirche leise ist und nur im Flüsterton miteinander sprechen sollte. Doch im Moment findet ja keine Messe statt und außerdem waren wir für unsere Begriffe sowieso recht leise. Wenn ich noch leiser geredet hätte, hätten meine Freunde mich nicht verstanden.
Kurz darauf verlassen wir die Gruppe und sofort stelle ich mich mit Xaver und Richard zusammen. Es dauert nicht lange, bevor sich unsere Gruppe um zwei weitere männliche Dorfbewohner vergrößert. Auch sie wurden wohl gezwungen diesem Gefiedel zu lauschen und haben zuvor mitbekommen, dass wir uns noch auf einen Absacker beim Wirt treffen.
Unsere Frauen bilden ebenfalls eine Gruppe und ich bin ziemlich sicher, dass die ein oder andere es nicht gutheißt, dass wir Männer noch einen Boxenstopp beim Wirt einlegen wollen. Genau aus diesem Grund ist eine Gruppenbildung ja so wichtig. Meine Frau zum Beispiel ist bei Wirtshausbesuchen relativ nachsichtig und solange ich mich nicht direkt wegschieße und den Weg nach Hause nicht mehr finde, hält sie sich auch mit Schimpftriaden zurück.
Auch Xavers Frau lässt ihm die ein oder andere Freude, auch wenn sie nicht ganz so nachsichtig ist, wie meine Rosi. Das kann natürlich auch daran liegen, dass Xaver es doch recht oft übertreibt und mit einem Fetzenrausch nach Hause kommt.
Doch dann ist da noch die Dorfratschen höchstpersönlich. Ihr Mann ist wirklich eine arme Sau und wird an einer verdammt kurzen Leine gehalten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er sich uns gleich angeschlossen hat und fast schon im Laufschritt nach dem Konzertbesuch auf uns zukam. So hofft er wohl, dass ihm heute ein Wirtshausbesuch gestattet wird.
Es sieht ganz gut für ihn aus, denn seine Frau will sicherlich nicht die Einzige sein, die ihren Mann nach Hause jagt. Zumindest hoffe ich es für ihn, denn er ist wirklich nicht zu beneiden. Andererseits hat ihn ja niemand gezwungen, die Bissgurke zu heiraten. Aber ihre Eltern hatten eben einen großen Hof, den sie auf die einzige Tochter nach der Hochzeit übergeben haben. Somit wurde der Ehemann auf einen Schlag vom armen Knecht zum Großbauern. Auch wenn er zu Hause nicht viel zu sagen hat. So muss jeder mit seinen getroffenen Entscheidungen leben.