Kapitel 6
Gertie riss das Steuer nach rechts. Ich verlor meinen Halt und fiel quer über den Rücksitz.
„Sie liegt im Krankenhaus“, erklärte sie. „Sie wird das gar nicht merken.“
Ich hatte mich gerade wieder hochgezogen, als Gertie die Bremse durchtrat. Ich knallte gegen den Vordersitz und spürte, wie mir alle Luft aus der Lunge wich.
„Du solltest immer den Sitzgurt anlegen“, riet mir Ida Belle, öffnete die Tür und stieg aus.
Gertie und ich verließen das Auto ebenfalls, und ich sah ihr und Ida Belle nach, wie sie durch die Gärten sprinteten. Dabei bemerkte ich, dass es nicht mehr weit zu mir nach Hause war, und sauste ihnen hinterher. Wir hatten es gerade zu meiner Haustür hinein geschafft, als Carters Truck um die Ecke gebogen kam und vor meinem Haus anhielt.
„Oh, oh“, sagte Gertie, die zum Fenster hinausspähte. „Er sieht stinksauer aus.“
„Er kann nichts beweisen“, behauptete Ida Belle.
„Mein Shirt ist aber ein ziemlich verräterischer Hinweis“, gab ich zu bedenken. Der untere Teil hing in Fetzen herab.
„Er kommt den Weg herauf“, informierte uns Gertie, deren Stimme eine Oktave nach oben gesprungen war.
Ida Belle streckte den Arm aus, riss Gertie die Kette vom Hals und ließ die Perlen daran in ein Glasschälchen gleiten.
„Hey!“ Gertie wirbelte herum, doch Ida Belle hielt sie mit einer hochgereckten Hand auf, dann ließ sie sich auf die Couch fallen und winkte mich heran
.
„Stell dich vor mich“, befahl sie. „Gertie, du öffnest die Tür.“
Gertie sah genauso verwirrt aus, wie ich mich fühlte, doch ich lief widerspruchslos hinüber zu Ida Belle. Ich war neugierig, wie sie diesmal die Situation retten wollte. Während Carter an meine Haustür hämmerte, schnappte sich Ida Belle einen Streifen an meinem zerrissenen T-Shirt und begann, ihn zusammenzudrehen.
Gertie blickte zu uns herüber, ganz offensichtlich nicht sicher, was Ida Belle vorhatte.
„Mach auf!“, zischte Ida Belle und griff nach einer Perle.
Gertie öffnete die Tür, und Carter stürzte herein. Sogar einem Blinden wäre sein Ärger aufgefallen – er kochte praktisch vor Wut. Gertie schlüpfte um ihn herum und ging zur Couch, wo sie sich neben Ida Belle setzte.
Er deutete mit dem Finger auf mich. „Ich habe dich gewarnt, dass du dich aus meiner Ermittlung heraushalten sollst, und es hat nicht einmal eine Stunde gedauert, bis du versucht hast, dir Zugang zu einem Tatort zu verschaffen.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, behauptete Ida Belle. „Wir sind seit einer Stunde oder so hier mit Fortune zusammen.“
Carter schnaubte. „Oh, ich habe keinerlei Zweifel daran, dass ihr mit Fortune zusammen wart, aber ich glaube keine Sekunde, dass ihr die gesamte Zeit hier im Haus verbracht habt.“
„Warum sollten wir denn irgendwo anders gewesen sein?“, wollte Ida Belle wissen.
„Weil ich einen Anruf von Floyd Guidry erhalten habe, dass jemand um sein Haus herumschleicht. Er hat die Eindringlinge als eine junge und zwei alte Krähen beschrieben.“
„Das ist aber ziemlich unhöflich“, fand Gertie. „Du solltest mit Floyd mal über gute Manieren sprechen.“
„Fehlende Manieren sind nicht illegal“, widersprach Carter. „Einen Zaun einzureißen und unbefugt ein fremdes
Grundstück zu betreten hingegen schon.“
„Du weißt ganz genau, dass Floyd uns erschossen hätte, wenn wir sein Land betreten hätten“, gab Ida Belle zu bedenken. Sie schob eine Perle über den gedrehten Strang an meinem T-Shirt.
„Floyd meinte, er hätte gar nicht schießen müssen. Er hat seinen Rotluchs auf die Einbrecher gejagt, um seinen Besitz zu verteidigen.“
Ich runzelte die Stirn. „Rotluchs“ klang nicht furchteinflößend genug für das Tier, das mein Shirt zerfetzt hatte. „Rotluchs?“, fragte ich. „Was ist ein Rotluchs?“
Sofort horchte Gertie auf. „Das, was herauskommt, wenn sich eine Hauskatze und ein Tiger paaren.“
„Ist das überhaupt möglich?“, hakte ich nach.
„Natürlich nicht“, erklärte Ida Belle.
„Das ist sehr wohl möglich“, behauptete Gertie. „Eine Hauskatze könnte zwar keine so großen Jungen austragen, aber wenn es sich um eine Tigerin und einen Hauskater handelt, könnte es funktionieren.“
„Das kommt mir für die Tigerin aber sehr unbefriedigend vor“, kommentierte Ida Belle.
„Es reicht!“, rief Carter. „Rotluchse sind eine eigene Spezies und nicht das Ergebnis von Liebesaffären verschiedener Tierarten, erst recht nicht der von einem Wildtier mit einem Haustier.“
„Ist es überhaupt erlaubt, sich einen Rotluchs als Haustier zu halten?“, erkundigte ich mich.
„Darum geht es hier nicht“, erwiderte Carter, dessen Gesicht sich allmählich zu röten begann.
„Das sollte es aber“, fand ich. „Gestern Abend wolltest du mich verhaften, weil du dachtest, ich hätte einen Hauskater nach dir geworfen. Deshalb fände ich es nur gerecht, wenn die Strafe für Leute, die wilde Tiere auf Menschen hetzen, schärfer ausfällt.“
Gertie nickte. „Wenn ich von so einem bösartigen Tier angegriffen worden wäre, würde ich den Besitzer verklagen.“
„Ich auch“, behauptete ich, weil ich dem Grundprinzip zustimmte,
auch wenn ich es natürlich nicht tun würde.
Carter starrte uns fassungslos an. „Soll das ein Witz sein? Du stehst hier in einem völlig zerfetzten T-Shirt und willst mir weismachen, dass eine andere Gruppe aus einer jungen und zwei älteren Frauen zufällig bei Allys Haus herumgeschnüffelt hat?“
„Zu deiner Information, ich habe Fortunes Shirt so zerrissen“, behauptete Ida Belle. „Wir flechten in den unteren Teil Perlen ein, siehst du?“ Sie deutete auf die Perlenreihe, die sie über einen der Streifen gezogen hatte. „Ich finde den Look ja eher kitschig, aber die Jugend scheint ihn zu mögen. Ich wollte der Kirche vorschlagen, dass der Chor bei unserer nächsten Wohltätigkeitsveranstaltung solche T-Shirts verkauft, aber ich brauchte erst ein Muster.“
„Und Fortune muss das T-Shirt tragen, während Sie es verschönern?“
Gertie runzelte die Stirn. „Vermutlich wäre es einfacher für Fortune gewesen, wir hätten es sie hinterher anprobieren lassen.“
Ida Belle nickte. „Daran hätten wir denken sollen.“
„Unfassbar.“ Carter schüttelte den Kopf. „Ich sage es ein allerletztes Mal – haltet euch aus meiner Ermittlung raus, oder ich schwöre, ich verfrachte euch alle drei für den Rest des Sommers ins Gefängnis.“
Ida Belle verdrehte die Augen. „Du machst ganz schön viel Wind. Könntest du uns jetzt bitte nicht länger aufhalten und zu deiner Arbeit zurückkehren? Wir haben noch zu tun.“
Carter warf uns einen letzten fassungslosen Blick zu, bevor er mein Haus verließ. Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, ließ ich mich in einen Sessel sinken.
„Er hat uns das keine Sekunde lang abgekauft.“
„Natürlich nicht“, bestätigte Ida Belle, „aber wenn Floyd Anzeige erstatten will, müsste er zum Sheriffbüro gehen, uns identifizieren und einen Haufen Formulare ausfüllen. Zweifellos hat Carter ihm das sofort gesagt, als
er sich beschwert hat.“
Gertie nickte. „Floyd würde nicht mal dann einen Fuß ins Sheriffbüro setzen, wenn es dort Gratisbier und Prostituierte gäbe.“
Ich hielt mein T-Shirt hoch. „Er braucht ja auch eigentlich keine Polizei, wenn er eine Wachraubkatze hat. Wer zum Teufel hält sich denn einen Rotluchs?“
Ida Belle stimmte mir zu. „Ja, das war das Interessanteste an der ganzen Angelegenheit.“
„Du findest es interessant, dass wir beinahe von einem wilden Tier zerfleischt wurden?“
Ida Belle winkte ab. „Jetzt übertreib mal nicht. Ein Rotluchs kann niemanden töten. Du hast höchstens ein paar Kratzer davongetragen. Es ist interessant, weil ich niemanden kenne, der sich je einen Rotluchs als Haustier gehalten hat.“
„Ich frage mich, ob Ally darüber Bescheid weiß“, warf Gertie ein.
„Das können wir sie fragen, wenn sie zurückkommt“, sagte ich. „Ich möchte mehr über diesen Floyd wissen. Er klingt nach genau der Art Mensch, die keinerlei Gewissensbisse hätte, jemandem das Haus anzuzünden.“
„Zweifellos“, stimmte Ida Belle zu. „Aber wir brauchen ein Motiv.“
„Und eine Gelegenheit“, ergänzte ich. „Hat eine von euch ihn gestern Abend bei Allys Haus gesehen?“
Beide schüttelten die Köpfe.
„Das ist komisch“, fand ich. „Ich meine, er wohnt direkt nebenan, trotzdem hat die Nachbarin von gegenüber das Feuer gemeldet. Selbst wenn er es nicht bemerkt hat, wäre er doch bestimmt spätestens dann herausgekommen, als die Feuerwehr aufgetaucht ist.“
Ida Belle nickte. „Und sei es nur, um sicherzugehen, dass sein eigenes Haus nicht in Gefahr ist.“
„Wenn auch nur die entfernte Möglichkeit besteht, dass Floyd unser Mann ist, müssen wir herausfinden, wo er gestern Abend war. Irgendjemand in der Stadt muss das doch wissen.
“
Ida Belle und Gertie tauschten einen Blick.
„Was?“, fragte ich.
„Normalerweise geht er abends in die Sumpfbar“, antwortete Gertie.
Ich stöhnte. Die Sumpfbar war nach Null-Null die Nummer zwei auf meiner Liste der Orte, die ich bis an mein Lebensende meiden wollte. Mein erster Ausflug dorthin war nicht gerade angenehm verlaufen, und die Polizeikontrolle nach unserer Flucht von dort gehörte zu den peinlichsten Momenten meines Lebens.
Und da ich seit meiner Ankunft in Sinful von einer unangenehmen Situation in die nächste geraten war, wollte das eine Menge heißen.
„Ich glaube, wir haben ein viel größeres Problem“, kommentierte Gertie.
„Welches denn?“
„Dich und Carter. Ich befürchte, wenn eure Beziehung nicht bald einen romantischen Verlauf nimmt, ist die Gelegenheit endgültig vertan. Vor allem, weil du dich ja beharrlich weigerst, seiner Aufforderung nachzukommen, dich wie eine Dame zurückzuhalten und ihn ermitteln zu lassen.“
Meine Gedanken wanderten zum Vorabend zurück, als ich krampfhaft versucht hatte, im Auto ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden. „Vielleicht wäre es besser so. Je näher er mir steht, desto größer ist die Chance, dass er die Wahrheit über mich herausfindet. Der gestrige Abend war von Anfang an eine schlechte Idee. Das wussten wir alle.“
Ida Belle und Gertie blickten sich an und wechselten das Thema. Sie diskutierten eifrig darüber, wie man am besten Informationen aus den Leuten in der Sumpfbar herausbekommen könnte. Ich hörte nur noch teilweise zu.
Alles, was ich über Carter und mich gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Eine Beziehung, insbesondere eine romantische, mit einem örtlichen Polizisten einzugehen, war die schlechteste Idee, die ich seit meinem
Eintreffen in Sinful gehabt hatte. Und dabei hatte ich einige schlechte Entscheidungen getroffen.
Überrascht stellte ich jedoch fest, dass mich diese Erkenntnis enttäuschte.
Ich zwang meine Gedanken, sich von Carter und verpassten Gelegenheiten zu lösen, und konzentrierte mich auf die vor uns liegende Aufgabe. Sobald Ally in Sicherheit war, bliebe mir noch alle Zeit der Welt, über mein Versagen als Frau nachzudenken.
Ich hatte das Gefühl, das würde eine Zeitlang dauern.
Ally kehrte ungefähr eine Stunde nach Carters Besuch von ihrer Kerzenschein-Gebetswache zurück. Wir aßen gerade Roastbeef-Sandwiches und die restlichen Blaubeermuffins vom Vormittag in der Küche. Ally ging schnurstracks zum Kühlschrank, holte sich ein Bier heraus und ließ sich dann auf den letzten freien Stuhl fallen.
„So schön war’s?“, fragte ich.
Sie holte tief Luft, schnaubte laut und ich wappnete mich innerlich. Ich hatte sie das schon einmal nach einem Besuch bei Celia tun sehen, und der unmittelbar darauf folgende Redeschwall hatte fünf Minuten gedauert. Was ich ihr nicht vorwerfen konnte. Schon allein zehn Minuten Gebetszeit mit ihrer Tante Celia würden mir genügend Stoff für Beschwerden für die nächsten dreißig Jahre liefern. Ein ganzer Nachmittag mit ihr würde mich in den Wahnsinn treiben.
„Diese Frau ist unfassbar“, begann Ally. „Ich weiß, sie gehört zu meiner Familie, hat gerade erst ihre Tochter verloren und musste sich mit einer Menge hässlicher Erkenntnisse auseinandersetzen, aber verdammt noch mal, muss sie unbedingt so eine selbstgefällige Kuh sein?“
Ida Belle, Gertie und ich blickten einander an und
hielten klugerweise den Mund. Die Antwort war schließlich offensichtlich.
„Sie hat tatsächlich behauptet, mein Dad wäre schuld an dem Feuer, weil er das Haus nicht solide genug gebaut hätte.“ Sie warf die Hände hoch. „Als ob mein toter Vater aus seinem Grab gestiegen wäre, Benzin an mein Haus geschüttet und dann ein Streichholz darangehalten hätte. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass es Brandstiftung war, und wisst ihr, was sie mir darauf geantwortet hat? Das wäre lächerlich, weil niemand in Sinful jemand anderem das Haus anzünden würde. In letzter Zeit gab es hier einige Morde, aber offensichtlich ist Brandstiftung in Tante Celias Augen die schlimmere Sünde.“
Ally nahm einen großen Schluck Bier und stellte die Flasche dann mit Wucht auf dem Tisch ab. „Dann hat sie ihre Meinung geändert und angefangen, mir die Schuld zu geben. Wenn ich meine Hirngespinste aufgegeben hätte, eine Karrierefrau zu werden, und mir einen guten Mann gesucht hätte, hätte der das Haus besser in Schuss gehalten und nichts davon wäre passiert. Als ich erwidert habe, dass es in dieser Stadt keinen heiratsfähigen Mann gibt, hat sie mich belehrt, dass Carter verfügbar gewesen wäre, hätte ich mich rechtzeitig darum gekümmert, bevor er sich auf ‚die Yankeebesucherin‘ eingeschossen hatte.“
„Und das, obwohl ich dachte, wir könnten doch noch Freundinnen werden“, murmelte ich. Meine wenigen bisherigen Erfahrungen mit Celia steckten voller Höhen und Tiefen. Offensichtlich befanden wir uns gerade wieder in einem Tief.
„Ach, aus dem Mund von Tante Celia war das ein Kompliment, glaub mir.“
Gertie räusperte sich. „Habt ihr bei dieser Gebetswache eigentlich auch tatsächlich gebetet?“
Ally nickte. „Celia musste irgendwann einmal Luft holen, und eine ihrer Freundinnen, die noch ein wenig Rückgrat besitzt, schlug vor, dass wir mit dem Gebetsteil der Veranstaltung weitermachen. Das war nett von ihr,
doch angesichts meiner kurzen Nacht gestern bin ich dabei wohl eingenickt. Die lauten ‚Amen‘ haben mich wieder geweckt.“
Ida Belle schüttelte den Kopf. „Bei mir wäre dafür zu diesem Zeitpunkt sicher schon ein Starthilfekabel nötig gewesen.“
„Meinst du einen Defibrillator?“, fragte Gertie.
„Nein, ich meine ein Starthilfekabel.“
„Allerdings wurde es anschließend wieder haarig“, fuhr Ally fort. „Carter tauchte in der Kirche auf und war so dreist, mich zu fragen, wo ich während der vergangenen beiden Stunden gewesen wäre. Ein ganzer Raum voller Frauen hat ihm versichert, dass ich die gesamte Zeit über bei ihnen gewesen bin, von einer Pinkelpause abgesehen, aber er wirkte immer noch misstrauisch. Murmelte irgendwas über unbefugtes Betreten und Rotluchse und Shirts mit Perlen. Er klang, als wäre er verrückt geworden.“
Gertie, Ida Belle und ich tauschten einen Blick, und Gertie begann zu lachen. Ida Belle konnte es eine Weile unterdrücken, doch dann zuckten auch ihre Mundwinkel.
Ally seufzte. „Ich hätte es wissen müssen. Was habt ihr denn getrieben, während ich weg war?“
Ich fasste unsere Aktivitäten kurz zusammen. Ihre Miene wechselte von amüsiert zu entsetzt zu ungläubig zu so unkontrolliertem Lachen, dass sie ihr Bier abstellen musste.
„Ich kann nicht glauben, dass ihr ihm weismachen wolltet, ihr fädelt Perlen auf ein Shirt“, meinte Ally. „Und ihr seid euch sicher, dass es sich um einen Rotluchs gehandelt hat?“
Ich stand auf und zeigte ihr, was von meinem T-Shirt übrig war. „Etwas viel Größeres als Merlin hat das angerichtet und es stammte definitiv aus der Katzenfamilie.“
„Es war ein Rotluchs“, bestätigte Ida Belle. „Im Sumpf gibt es jede Menge davon, aber ich habe außer diesem noch keinen in der Stadt gesehen. Du wusstest nicht,
dass Floyd sich einen Rotluchs hält?“
Ally runzelte die Stirn. „Ich versuche alles und jeden im Zusammenhang mit Floyd zu vermeiden.“
„Macht er dir Schwierigkeiten?“, erkundigte ich mich.
„‚Schwierigkeiten‘ ist sein zweiter Vorname.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er und Mama hatten einen Nachbarschaftsstreit über die Grundstücksgrenze im Garten. Floyd schwört, dass unser Zaun zehn Meter zu weit auf seinem Grundstück steht. Sie sind deshalb sogar vor Gericht gezogen, einige Jahre bevor Mama krank wurde. Er behauptet immer noch, dass das Gericht Mama nur deshalb recht gegeben hat, weil er Vorstrafen hatte.“
„Und, war es so?“, hakte ich nach.
„Nein. Jeder, der die ursprünglichen Flurkarten gesehen hat, kann dir sofort bestätigen, dass der Zaun nicht auf seinem Grundstück steht.“
„Zehn Meter sind aber eine Menge, wenn er das als Fehler anprangern will“, stellte ich fest.
Ally nickte. „Aber er hatte einen Hintergedanken dabei. Beide Grundstücke sind nach vorne hin schmaler und werden zum Garten hin breiter.“
„Wie ein Trapez?“, vergewisserte ich mich.
„Genau. Aber Mamas Trapez endet an einem Zufluss zum Sinful Bayou. Floyd hätte diesen Zufluss gern auf seinem Grundstück, damit er einen Bootsschuppen bauen und mit seinem Boot dort ankern kann. Um ihn zu ärgern, hat Mama einen drei Meter hohen Bretterzaun an der hinteren Grundstücksgrenze aufstellen lassen. Er hatte hinten nicht mal ein Tor.“
„Floyds Meinung nach hat sie also den Platz verschwendet.“
Ally nickte.
„Aber jetzt steht dort ein schmiedeeiserner Zaun.“
„Ja, Hurrikan Katrina hat dem Holzzaun einen schweren Schlag versetzt. Einige Männer aus der Kirche haben ihn halbwegs wieder aufgestellt, weil Mama krank war, aber nachdem sie in die Pflegeeinrichtung in New
Orleans umgezogen ist, habe ich einen Teil des Versicherungsgeldes für einen Ersatz genutzt. Ein weiterer kräftiger Windstoß hätte gereicht, und der Holzzaun wäre komplett im Bayou gelandet. Und dann wäre ich für die Entsorgung verantwortlich gewesen. Ich dachte mir, ein Zaun, durch den man hindurchsehen kann, erhöht womöglich den Grundstückswert.“
„Hat Floyd dir Probleme gemacht?“, wollte ich wissen.
Ally runzelte die Stirn. „Einmal hat er die Polizei gerufen, als er meine Musik im Garten zu laut fand. Ich hatte gerade die Beete gejätet. Carter hat mich gebeten, sie ein wenig herunterzudrehen, und seither trage ich Kopfhörer.“
„Also hat er keine Rechnung mit dir offen?“
Ally riss die Augen auf. „Für die er mein Haus abfackeln würde? Das kann ich mir nicht vorstellen. Höchstens, wenn er immer noch sauer wegen der Grundstücksgrenze wäre, aber dann hätte er doch schon früher versucht, es in Brand zu stecken, als Mama noch da war, oder?“
„Es klingt tatsächlich weit hergeholt“, stimmte Gertie ihr zu.
„Für einen normalen Menschen vielleicht“, pflichtete ich ihr bei. „Aber wir reden hier über einen Mann, der mit einem Angriffsrotluchs zusammenlebt.“ Ich hatte genügend Psychopathen kennengelernt. Logisches Denken spielte bei ihren Entscheidungen keine Rolle, wenn sie aus emotionalen Gründen eine Tat begehen wollten.
„Da hat sie recht“, gab Ida Belle zu. „Auch wenn wir momentan kein deutliches Motiv erkennen können, sollten wir trotzdem überprüfen, ob er die Gelegenheit hatte.“ Sie blickte zu Ally. „Ich nehme an, du weißt nicht, ob er zu Hause war, als das Feuer ausbrach?“
Ally schüttelte den Kopf. „Die Feuerwehrmänner haben mir gesagt, sie hätten bei ihm geklopft, aber keine Antwort erhalten. Was aber nicht bedeuten muss, dass er nicht zu Hause war. Es sähe ihm auch ähnlich, das Klopfen
einfach zu ignorieren.“
„Also bleibt uns nur die Sumpfbar“, stellte ich fest. „Wie wunderbar.“
„Worüber beschwerst du dich denn?“, wollte Gertie wissen. „Als ich das letzte Mal dort war, wurde ich beschossen.“
„Du hast ein Boot gestohlen“, erinnerte ich sie. „Als ich das letzte Mal dort war, wäre ich beinahe ertrunken, und dann hat mich Carter nur mit einem Müllsack bekleidet erwischt.“
Ally riss die Augen auf. „Ach du liebe Zeit, diese Geschichte kenne ich ja noch gar nicht. Warum erzählst du mir nie die wirklich guten Sachen?“
„Weil unfassbare Demütigung nicht unbedingt etwas ist, worüber ich voller Freude berichte.“
„Wenn es sich um eine lustige Geschichte handelt, solltest du das aber“, fand Ally. „Wenn wir nicht über uns lachen können, über wen dann?“
Ich starrte sie ungläubig an. „Na, über andere?“
„Definitiv“, bestätigte Ida Belle.
„Auf jeden Fall“, bekräftigte Gertie.
Ally lachte. „Heute Abend öffnen wir eine Flasche Wein und dann erzählst du mir die Müllsackgeschichte.“
„Und was bekomme ich dafür?“
„Schokoladenkuchen?“
Ich spürte, wie ich schwach wurde. „Vielleicht.“
„Und ich erzähle dir eventuell davon, wie ich mit Bobby Hanson nackt baden war und sein kleiner Bruder unsere Klamotten geklaut hat.“
Ich winkte ab. „Ich wette, jeder hier hat so was in seiner Kindheit erlebt.“
„Das war letztes Jahr.“
Ich lächelte. „Dann also Schokoladenkuchen und ultimative Blamage.“