Kapitel 15
Ich schluckte meine halb gekaute Praline hinunter. „Welche Art von Bundesagenten?“
„FBI.“
Ich entspannte mich ein wenig. Die Leute vom FBI waren überwiegend vernünftig. Hätte Walter „NSA“ gesagt, hätte ich mir ernsthafte Sorgen gemacht. „Warum sind sie hier?“
„Sie haben Carter erklärt, dass sie jetzt die Mordermittlung übernehmen, und ihn angewiesen, ihnen die Fallakte auszuhändigen und sofort alle Aktivitäten im Zusammenhang mit der Suche nach Floyds Mörder einzustellen.“ Walter runzelte die Stirn. „Sie haben ihm gedroht, ihn zu verhaften, sollte er ihnen in die Quere kommen. Warum zum Teufel sagt ein Mitglied einer Strafverfolgungsbehörde so etwas zu einem anderen? Carter war ihnen gegenüber nicht feindselig.“
„Das war auch gar nicht nötig“, erklärte ich. „Bundesagenten glauben, dass alle Polizisten vor Ort auf ihrer Zuständigkeit bestehen, daher schicken sie so etwas immer gleich voraus, um klare Fronten zu schaffen.“
Walter starrte mich an.
Mist.
„Ich habe zu Hause neben einem Polizisten gewohnt“, behauptete ich und warf ihm die erstbeste Lüge hin, die mir einfiel. „Über genau so etwas hat er sich mehr als einmal beschwert.“
„Wenn die mit ihm auch so gesprochen haben wie diese Jungs hier mit Carter, dann kann ich mir das gut vorstellen“, kommentierte Walter. „Es ist schon schlimm genug, dass sie ihm unterstellen, er sei unfähig und mache seine Arbeit nicht richtig, aber es gibt keinen Grund, ihn zusätzlich auch noch zu bedrohen.“
Er stand auf. „Ich weiß zwar nicht, was ihr drei ausgeheckt habt, und ich will es auch nicht wissen, aber ich fand es wichtig, euch so schnell wie möglich Bescheid zu geben.“
Ich sprang von meinem Stuhl hoch. „Auf jeden Fall. Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie auf direktem Wege hergekommen sind.“
Ida Belle und Gertie nickten mit düsteren Mienen. Ich folgte Walter zur Tür und verabschiedete mich von ihm, dann ging ich zurück in die Küche, um die neueste Wendung in diesem Fall zu besprechen.
„So“, sagte ich und setzte mich wieder auf meinen Platz. „Was halten wir davon?“
„Das ist nicht gut“, stellte Ida Belle fest. „Wenn die Bundesbeamten wegen Floyd hier sind, dann hing er in etwas Großem mit drin. Groß genug, um Carter von dem Fall abzuziehen.“
Ich nickte. „Das sehe ich genauso. Und es stützt unsere Theorie, dass Floyd in irgendetwas verwickelt war und sich deswegen Geld von Big und Little geborgt hat.“
„Es sei denn, die Bundesagenten sind hinter Big und Little her“, gab Gertie zu bedenken.
„Das bezweifle ich“, antwortete Ida Belle. „Ich meine, ich zweifle nicht daran, dass die Bundesagenten auch auf die beiden ein Auge haben, genau wie auf den Rest von Heberts Organisation, aber ich denke, dass Big und Little nur kleine Fische sind.“
„Stimmt“, pflichtete Gertie ihr bei. „Was befand sich wohl in der Akte, die Carter aushändigen musste?“
„Einzelheiten zum Tatort und Fotos“, war ich mir sicher. „Floyds Strafregister und vielleicht Informationen über das Feuer in Allys Haus.“
„Aber nichts über dich oder die Sumpfbar?“, fragte Gertie.
„Er hat sie geküsst“, rief Ida Belle ihr in Erinnerung. „Glaubst du wirklich, dass er sie an die ersten dahergelaufenen Anzugträger verrät? Trau dem Jungen mal ein bisschen mehr zu. Falls irgendjemand Fortune aufs Abstellgleis stellt, wäre es Carter selbst. Das ist eine Frage der Ehre.“
„Ich denke, damit hat sie recht“, gab ich zu.
Gertie blickte grinsend zwischen mir und Ida Belle hin und her. „Ihr wisst, was das heißt, oder?“
Ida Belle lächelte und sah mich erwartungsvoll an.
„Was habe ich verpasst?“, wollte ich wissen.
„Der Mord an Floyd ist nicht mehr Carters Problem“, erklärte Gertie. „Das bedeutet, du würdest dich nicht in seine Ermittlung einmischen, wenn du versuchst, ihn aufzuklären. Es ist jetzt die Ermittlung der Bundesagenten.“
„Und wen jucken die?“, ergänzte Ida Belle.
Freudige Erregung durchzuckte mich. „Die Agenten werden Carter im Auge behalten. Er wird nicht viel hinter ihrem Rücken unternehmen können.“
Ida Belle nickte. „Und das FBI vergeudet hier seine Zeit. In dieser Stadt wird kein Außenstehender einen Mordfall lösen.“
Ich grinste. „Zumindest nicht ohne die Hilfe von Einheimischen.“
„Du bist keine Außenstehende“, widersprach Ida Belle. „Du warst schon immer eine von uns. Du hast es bloß nicht gewusst.“
„Wenn ich das richtig sehe“, fasste Gertie zusammen, „würde es nicht nur Fortunes Problem lösen, wenn wir diesen Fall aufklären, auch Carter wäre damit aus dem Schneider. Ich finde, es gehört zu unseren Pflichten als heimliche Strippenzieherinnen in Sinful, diese Situation in die Hand zu nehmen.“
„Da stimme ich dir zu einhundert Prozent zu“, sagte Ida Belle.
Ich betrachtete die beiden lächelnden Seniorinnen und ließ mir ihren Vorschlag durch den Kopf gehen. Es war riskant. Und grenzwertig verrückt. Und falls irgendwas schiefging, würde ich für immer aus Sinful verschwinden müssen. Doch sollten wir erfolgreich sein, könnte alles wieder so werden wie vor drei Tagen, als meine größte Sorge ein Abendessen mit einem attraktiven Deputy gewesen war.
„Ich bin dabei.“
„Was ist denn das für ein Geruch?“ Ich verzog das Gesicht und suchte auf dem Rücksitz von Gerties Cadillac nach der Ursache für den Gestank.
„Ich habe vor ein paar Tagen ein wenig Dauerwellenfixierung da hinten verschüttet“, erklärte Gertie. „Vermutlich riechst du das.“
Ich hatte keine Ahnung, was eine Dauerwellenfixierung war, aber es roch wie der Tod. „Sind solche chemischen Dämpfe im Auto nicht gesundheitsschädlich? Sollten wir nicht lieber die Fenster herunterlassen oder so?“
Ida Belle lachte. „Eine Dauerwellenfixierung ist etwas, das man sich auf die Haare tupft, damit die Locken halten. Hast du etwa geglaubt, Gerties Haare sind von Natur aus gewellt?“
Entsetzt starrte ich Gertie an. „Du schüttest dir absichtlich dieses stinkende Zeug auf den Kopf?“
Gertie warf mir im Rückspiegel einen bösen Blick zu. „Dass ich keinen Mann im Haus haben will, bedeutet nicht, dass ich aussehen will wie einer. Im Gegensatz zu manch anderen Leuten ... Meine Haare sind dünn wie bei einem Baby. Wenn ich nicht mit einer Dauerwelle ein bisschen Volumen reinbringen würde, lägen die platt wie ein weißes Bettlaken auf meinem Kopf.“
„Ich hätte mich dafür entschieden“, erwiderte ich. „Platte Baumwollbettlakenhaare und eine Kappe. Wenn man bedenkt, dass mir das Zeug noch Tage später die Tränen in die Augen treibt, dringt es vielleicht sogar durch die Schädeldecke und beeinträchtigt die Gehirnfunktion. Wobei das allerdings einiges erklären würde.
Ida Belle grinste.
„Wenigstens ziehe ich mich nicht an wie eine Prostituierte“, konterte Gertie.
„Na ja, mit dünnem weißen Baumwollhaar würdest du sicher auch so genug Aufmerksamkeit auf dich ziehen. Vermutlich würden die Leute sich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder geistiger Verwirrtheit über dich beschweren, weil sie denken, du trägst ein Bettlaken auf dem Kopf.“
„Wenn du so weitermachst, läufst du nach Hause.“
„Momentan wäre das keine Verschlechterung. Apropos, was ist denn das für ein T-Shirt?“
Gertie, deren normale Ausgehkleidung aus einer dehnbaren Polyesterhose und einer Art Seidenbluse bestand, trug diesmal Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit silberner Aufschrift auf der Brust: „Frag mich nach dem wahren Gott“. Es wirkte ein wenig exzentrisch, selbst für Gerties Maßstäbe.
„Die haben wir letztes Jahr machen lassen, als wir mit dem Chor zu einem Gesangswettbewerb in New Orleans waren.“
„Sind denn viele der Aufforderung gefolgt?“, erkundigte ich mich.
Gertie seufzte. „Ja und nein. Am selben Wochenende fand eine Comic-Messe statt. Man hat uns ständig gefragt, wen wir damit meinen – Loki oder Thor.“
Ich grinste. „Und du dachtest, Big und Little stehen vielleicht auf den Comic-Fanclub-Look?“
„Nein, aber ich glaube, dass ich eindeutig harmloser wirke, wenn ich als kleine alte Kirchendame auftrete. Und wir reden hier von den Heberts. Ich dachte mir, es kann nicht schaden, wenn wir Gott auf diese Reise mitnehmen. Nur für alle Fälle.“
Mein Grinsen verschwand, als mir bewusst wurde, was genau wir hier taten – wir wollten in ein von der Mafia geleitetes Geschäft platzen und Fragen nach einem ihrer Kunden stellen, der ermordet worden war. Wenn man es so zusammenfasste, klang es keineswegs mehr so ungefährlich, wie es mir zu Hause vorgekommen war. Ich hatte mich für ein Sommerkleid und Lipgloss entschieden, um mir einen jugendlichen, unschuldigen Look zu verpassen. Falls das nicht funktionierte, würden Gertie und ihr T-Shirt hoffentlich ausreichen, um Big und Little zu täuschen.
„Dort ist die Abfahrt.“ Ida Belle deutete auf eine unbefestigte Straße, die nach links ins Sumpfgebiet abzweigte.
„Warum wohnen solche Leute immer am Ende einer Einbahnstraße mitten im Sumpf?“, beschwerte sich Gertie. „Das schränkt unsere Fluchtmöglichkeiten enorm ein. Das ist wie eine von der Natur erzwungene Mausefalle, und das, wo ich doch unter Klaustrophobie leide.“
Angesichts meiner Flucht aus der Sumpfbar kürzlich verstand ich genau, was sie meinte. Andererseits, falls wir in Gerties Cadillac vor der Mafia flüchten mussten, würden wir eh nicht weit kommen.
„Alles wird gut, solange wir ruhig bleiben und einen kühlen Kopf bewahren“, versicherte uns Ida Belle.
Gertie nickte, doch ich konnte bereits die Anspannung in ihren Schultern und ihrem Nacken sehen. „Ruhig“ und „kühler Kopf“ gehörten normalerweise nicht zu ihrem Vokabular.
„Überlass einfach Ida Belle und mir das Reden“, schlug ich vor. Wenn Gertie schwieg, war das vermutlich für uns alle das Beste.
Sie fuhr um eine Kurve und hielt vor einem Lagerhaus an. „Wir sind da.“
Ich schlug ihr auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Steh einfach da und lächle wie eine unschuldige Kirchendame, und alles wird gut.“
„Ich werde so still sein wie eine Kirchenmaus“, versprach Gertie.
Ich hatte keine Ahnung, wie still Kirchenmäuse tatsächlich waren, aber wenn es bedeutete, dass Gertie den Mund halten würde, war mir das nur recht. Sie neigte zum Plappern, wenn sie nervös wurde.
„Versprochen?“, fragte Ida Belle.
„Ich lege ein Schweigegelübde ab“, versprach Gertie. „Ihr beide könnt das Reden übernehmen.“
Damit schien Ida Belle zufrieden, also stiegen wir aus und gingen zum Lagerhaus. Ich klopfte und wir warteten, aber niemand machte uns auf. Als ich den Türgriff herunterdrückte, stellte ich fest, dass nicht abgeschlossen war, also zog ich die Tür auf und spähte in den Raum.
Die Inneneinrichtung überraschte mich. Ich hatte ein normales Lagerhaus erwartet, mit hohen Decken und reihenweise Regalen, aber man hatte das Gebäude zu einer Art Nobelbüro umgebaut. Marmorböden führten in einen Empfangsbereich mit einer Theke, die wohl als Rezeption diente.
Ich warf Ida Belle und Gertie einen fragenden Blick zu, ehe ich das Haus betrat. Vielleicht befand sich auf dem Empfangstresen eine Klingel. Ich ging hinüber, die beiden dicht hinter mir. Doch da war nichts – keine Klingel, kein Telefon. Nichts. Nicht mal Block und Stift.
„Hallo?“, rief ich und schaute mich um. Über uns verlief über die gesamte Gebäudelänge eine Galerie. „Ich wette, diese Türen dort oben führen in die Büros.“
„Wir können nicht einfach in einer Mafiahöhle herumspazieren“, flüsterte Gertie.
„Aber wir müssen jemanden finden, der uns weiterhelfen kann. Hier herumzustehen bringt uns nicht weiter.“
„Kann ich Ihnen helfen?“, dröhnte es plötzlich zu unserer Rechten. Wir wirbelten herum und sahen einen kräftigen Mann auf uns zukommen.
Mitte dreißig, ein Meter fünfundneunzig, einhundertzehn Kilo reine Muskelmasse. Tödlich.
Er hatte den Körper eines Profiringers und das Gesicht eines Serienmörders, doch statt Leder oder zerrissener Jeans trug er einen schwarzen Seidenanzug, dessen Preis vermutlich meinem Jahresgehalt entsprach. Er blieb vor uns stehen und wir starrten ihn an.
Ein Blick auf Gertie verriet mir, dass sie wie gelähmt war. Sogar Ida Belle wirkte angesichts dieses Bergs von einem Mann deutlich weniger selbstbewusst. Es sah ganz so aus, als müsste ich das Reden übernehmen.
„Ich habe gefragt, ob ich Ihnen helfen kann“, wiederholte er.
Mein Instinkt riet mir zu einem „Ups, da haben wir uns wohl in der Adresse geirrt“ und einer schnellen Flucht, aber dann stünden wir wieder genauso da wie zuvor: Carter würde nach wie vor seinen Job wegen mir riskieren und ich müsste Sinful unweigerlich verlassen.
„Wir möchten gern mit Big und Little Hebert sprechen“, erklärte ich und hoffte, dass ich sicherer klang, als ich mich fühlte.
Er schnaubte. „Ach ja? Warum?“
Seine offensichtliche Abfuhr ärgerte mich. Er war zwar ein Riese, aber ich konnte es trotzdem mit ihm aufnehmen. „Es geht um etwas Geschäftliches. Etwas Vertrauliches .“
Er wirkte nicht mal ansatzweise bereit, das in Erwägung zu ziehen, also entschloss ich mich zu meiner Taffe-Frau-Nummer. Die Leute in Filmen wie Der Pate schienen immer ihren Willen zu kriegen, wenn sie sich so benahmen, als ob ihnen alle anderen etwas schuldeten. Vielleicht war das die einzige Sprache, die diese Gangster verstanden.
„Ich mag es nicht, wenn man so mit mir spricht“, erklärte ich ihm. „Ganz sicher werde ich einem Wachmann gegenüber keine Einzelheiten meiner Geschäfte offenlegen. Sind Big und Little zu sprechen oder muss ich diesen Vorfall hier erst meinen Leuten melden?“
Ida Belle und Gertie starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Der Hulk musterte mich einen Moment lang und lachte dann.
„Ihren Leuten? Babe, Sie haben vielleicht Nerven, mit diesem Spruch hier anzukommen.“ Er zog eine Neunmillimeter unter seiner Anzugjacke hervor. „Wissen Sie, wer ich bin?“
Gertie wählte genau diesen Moment, um ihr Schweigegelübde zu brechen. „Kennen Sie Jesus Christus?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt“, flüsterte ich in ihre Richtung.
Der Hulk verzog das Gesicht – ganz offensichtlich hatte er nicht die geringste Ahnung, was er von der Sache halten sollte. Das wunderte mich nicht. Die Situation war sicher nicht alltäglich für ihn. Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir gehen sollten, als hinter ihm jemand rief: „Yo, Mannie. Gibt es ein Problem?“
Ich beugte mich zur Seite, damit ich um ihn herumlinsen konnte, und sah einen kleinen Mann in einem seidenen Nadelstreifenanzug und in Alligatorlederschuhen auf uns zukommen.
Ungefähr dreißig, ein Meter sechzig, mit Klamotten maximal fünfundfünfzig Kilo schwer. Ungefährlicher als feuchtes Klopapier.
Mannie, alias der Hulk, schob seine Waffe ins Jackett zurück. „Nein, Boss“, erwiderte er und richtete die Jacke über der Pistole. „Diese drei Damen möchten gern mit Ihnen über etwas Geschäftliches sprechen, aber sie haben keinen Termin.“
Ich sah hinüber zu Ida Belle, die mit den Schultern zuckte. Wer hätte gedacht, dass die Mafia Termine vergab?
Der kleine Mann stellte sich neben Mannie und musterte uns. Anscheinend war er zu dem Schluss gekommen, dass wir ihm nicht gefährlich werden konnten, denn er streckte mir seine Hand entgegen. „Ich bin Little Hebert. Was kann ich für Sie tun?“
Das war Little Hebert? Ich war davon ausgegangen, dass sich der Spitzname auf das Alter bezog, nicht auf die Körpergröße. Während ich seine Hand schüttelte, versuchte ich mir vorzustellen, wie riesig Big Hebert wohl war, allerdings erfolglos.
Unvermittelt wurde mir bewusst, dass ich Littles Frage gar nicht beantwortet hatte. „Äh, es geht um einen Kredit.“
Er lächelte. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Lassen Sie uns nach oben gehen und die Einzelheiten mit meinem Vater besprechen.“ Er deutete auf eine Treppe hinter dem Empfangstresen und folgte uns, während wir ins Obergeschoss vorangingen. Mannie nickte ihm zu und schlüpfte in einen Raum mit einer Spiegelwand.
Ein Spionspiegel. Er hatte uns also beobachtet, bevor er herausgekommen war.
„Dritte Tür rechts!“, rief Little, als wir den Treppenabsatz erreichten. Ich öffnete die besagte Tür und stand dem größten Menschen gegenüber, den ich jemals gesehen hatte.
Mitte fünfzig, ein Meter fünfundneunzig, zweihundertdreißig Kilo, so viel wiegt vermutlich allein sein linkes Bein. Nur dann eine Bedrohung, wenn er sich auf mich draufsetzen würde, aber dafür müsste er mich erst mal schnappen.
Big Hebert trug den gleichen seidenen Nadelstreifenanzug wie sein Sohn, aber der konnte niemals von der Stange sein. Der Stoff allein hatte wahrscheinlich schon so viel gekostet wie ein Kleinwagen. Er saß auf einer Parkbank hinter einem Mahagonischreibtisch. Anscheinend gab es keinen Stuhl, der breit genug war und ihn aushalten würde. Ich fragte mich kurz, ob sich wohl irgendwo im Lagerhaus ein Lastenaufzug befand, denn es war ganz offensichtlich, dass Big seit Jahren keine Treppe gesehen hatte.
„Die drei sind wegen eines Kredits hier“, erklärte Little.
Big deutete auf einige Stühle vor dem Schreibtisch und wir nahmen Platz, ich in der Mitte. Ich war mir ziemlich sicher, dass keine von uns geblinzelt oder auch nur geatmet hatte, seit wir den Raum betreten hatten. Little schnappte sich einen Barhocker aus der Ecke und setzte sich neben seinen Vater. Der Barhocker und die Parkbank sorgten dafür, dass sie jetzt ungefähr gleich groß waren, und ich musste ein Grinsen unterdrücken.
Big zog einen Stapel Papiere aus seinem Schreibtisch und schob ihn mir hin. „Ich brauche Ihre Sozialversicherungsnummer, eine Auflistung aller Vermögenswerte, die Lohnzettel der letzten beiden Monate und zwei verschiedene Ausweisdokumente. Wie viel Geld brauchen Sie?“
Fasziniert von dem ganzen Papierkram nahm ich den Stapel und blätterte ihn durch, bis Ida Belle mich in die Rippen stieß. „Tut mir leid“, sagte ich schließlich. „Da liegt ein Missverständnis vor.“
Littles Miene verdunkelte sich, daher beeilte ich mich, eine Erklärung hinterherzuschicken.
„Oder wahrscheinlich habe ich es nicht gut genug erklärt“, fügte ich hinzu.
Little entspannte sich wieder.
„Ich brauche keinen Kredit. Ich muss wissen, ob jemand anders einen Kredit bei Ihnen aufgenommen hat.“
Big und Little tauschten einen Blick. „Sind Sie von der Polizei?“, fragte Big.
„Sehen wir aus wie Polizei?“
Little musterte uns. „Die Frau in dem T-Shirt sieht aus wie die eine aus Golden Girls . Die dumme.“
Ich hustete, um mein Lachen zu verschleiern, und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich Ida Belle mit der Hand über den Mund rieb.
Gertie horchte auf. „Hallo, ich bin ganz sicher nicht Rose!“
Little zuckte mit den Schultern. „Das habe ich ja auch nicht behauptet. Nur, dass Sie so aussehen.“
„Und wer sind Sie?“, wollte Big von mir wissen.
„Ich heiße Sandy-Sue. Ich wohne den Sommer über in Sinful, um mich um die Angelegenheiten meiner verstorbenen Tante zu kümmern. Ich bin Bibliothekarin in einer Schule, keine Polizistin.“
Wie es aussah, entsprach ich optisch den Vorstellungen von einer Bibliothekarin, denn Big nickte. „Wir geben keine Auskunft über unsere Kunden.“ Er lehnte sich auf der Bank zurück und verschränkte seine baumstammartigen Arme vor der massiven Brust. „Das verstehen Sie sicher, wo Sie doch für eine Schule arbeiten.“
„Ich verstehe und respektiere es. Allerdings ist diese Person, um die es geht, tot. Daher dachte ich, es würde Ihnen vielleicht nichts ausmachen, mir Informationen über ihn zu geben.“
Und genau in diesem Moment verlor Gertie die Nerven und brach erneut ihr Schweigegelübde.
„Es sei denn, Sie waren derjenige, der ihn getötet hat. Dann würde es Ihnen vermutlich doch etwas ausmachen und es wäre absolut töricht von uns, hier zu sitzen und Ihnen Fragen zu stellen.“