Cornelia

Josef, der Hausdiener vom »Schwarzen Bären«, ist der Erste in Dornburg, der die Fremde zu sehen bekommt. Am frühen Nachmittag ist es, so gegen drei; er steht vor dem Portal des Hotels, die letzten Mittagsgäste haben das Haus verlassen, und nun ist es still auf dem Marktplatz, ein paar Wagen parken da, alles Einheimische, keine Fremden darunter. Die Dornburger sind wieder unter sich, keine Urlaubsgäste mehr. Und ein schöner Herbst ist dieses Jahr, windstill ist es, südlich weich die Luft. Der Josef lässt sich die milde Oktobersonne auf den Kopf scheinen, unterdrückt ein Gähnen und blinzelt schläfrig.

Da sieht er den Wagen kommen. Er kommt von Norden her, rollt langsam über den Marktplatz, biegt in eine Parklücke ein und hält.

Eine Weile rührt sich nichts. Der Josef späht hinüber. Ein heller, fast weißer Wagen ist es, ein französischer, wie ihm scheint, so genau kennt er sich mit Automarken nicht aus. Schließlich öffnet sich die Tür, und der Fahrer steigt aus. Oder vielmehr die Fahrerin. Josef richtet sich auf und nimmt die Schultern nach hinten. Ein Gast! Ein Gast für den »Schwarzen Bären«, das erkennt er sofort.

Die Frau bleibt einen Moment, wie unschlüssig, neben dem Wagen stehen; sie betrachtet die mittelalterlichen Fassaden der Häuser, die den Marktplatz umgeben, zuletzt haftet ihr Blick auf dem »Schwarzen Bären«.

Während sie auf ihn zukommt, hat Josef Zeit genug, sie zu betrachten. Eine große, gut gewachsene Frau. Sie hält sich gerade, geht gelockert und diszipliniert zugleich; alles an ihr beweist die Frau von Geschmack, das Tweedkostüm, die Schuhe, die Tasche unter dem Arm; eine teure, unauffällige Eleganz, die Kleidung, Haltung und Auftreten gemeinsam schaffen. Josef ist durchaus in der Lage, das zu beurteilen, vielleicht nicht im Einzelnen, aber als Gesamteindruck. Er hat lange Erfahrung, denn der »Schwarze Bär« ist ein erstklassiges Hotel, eins mit drei Sternen, und sein Besitzer ein Mann von Kultur und Haltung, der seine Mannschaft gut geschult hat. Das Gesicht der Fremden ist genauso, wie Josef es erwartet hat. Klar geformt, schmal, die Brauen hochgebogen, der Blick ernst, fast abweisend; ein kühler, ein wenig hochmütiger Mund, eine hohe Stirn, glattes dunkelblondes Haar. Sie ist nicht mehr jung, diese Frau, aber von jener Art, der das Älterwerden nicht viel anhaben kann.

Sie bleibt vor ihm stehen, und Josef macht eine kleine Verbeugung.

»Haben Sie ein Zimmer frei?«, fragt sie.

»Bitte sehr«, erwidert Josef. »Selbstverständlich, gnädige Frau. Wir haben Zimmer frei.«

Sie reicht ihm ihren Wagenschlüssel. »Holen Sie bitte mein Gepäck, und bringen Sie den Wagen in die Garage.« Und dann tritt sie an ihm vorbei durch die offene Tür in das alte Gewölbe, das dem »Schwarzen Bären« als Halle dient. Beeindruckt blickt Josef ihr nach. Was für eine Frau!! Gibt ihm den Schlüssel, gibt ihm kurz ihre Anweisungen und verschwindet. Offenbar hält sie es für selbstverständlich, dass er Auto fahren kann. Er kann es nicht. Er ist seit dreißig Jahren im »Schwarzen Bären«, und es war niemals notwendig, dass er ein Auto lenkte. Jetzt wird er es auch nicht mehr lernen. Muss er also diesen frechen Burschen, diesen Charly, zu Hilfe holen. Der kann natürlich fahren, obwohl er gerade neunzehn Jahre alt ist und außer einem großen Mundwerk nicht viel zu bieten hat. Charly! Das sagt alles, eigentlich heißt er Karl. Aber ein so normaler Name ist dem Grünzeug heutzutage nicht mehr fein genug.

Er trabt hinüber zu dem weißen Auto und holt das Gepäck der Dame, es ist nicht viel, zwei helle Lederkoffer, eine große Tasche.

Beim ›Empfang‹ angekommen, sieht er, dass der Chef selber da ist. Eigentlich ist jetzt die Stunde seiner Siesta, aber der Josef wundert sich trotzdem nicht über seine Anwesenheit. Es ist komisch – aber irgendein sechster Sinn scheint ihm jedes Mal zu verraten, wenn interessante Gäste kommen; da ist er immer zur Stelle.

In seiner typischen Haltung, ein wenig vorgebeugt, was sehr verbindlich wirkt, ein diskretes Wohlwollen im Gesicht, so steht er vor der schönen Fremden, und Josef hört ihn sagen: »Ich werde Ihnen die Zimmer zeigen, gnädige Frau.« Also ein besonderer Gast! Wenn der Chef die Zimmer selber zeigt, bedeutet das eine Auszeichnung, wie das Personal des Hauses sehr wohl weiß.

Clementine, die junge Hotelsekretärin, steht hinter dem Pult und gibt sich wie immer Mühe, Würde und Überlegenheit auszustrahlen. Wie meist gelingt es ihr nur unvollkommen. In ihrem zarten, noch unbeschriebenen Mädchengesicht mischen sich Neugier und Bewunderung. Sie schiebt den Meldezettel näher, doch der Chef winkt kurz ab. »Das hat Zeit. Die gnädige Frau kann sich später eintragen.« Er weist mit der Hand zu der breiten Treppe im Hintergrund. »Darf ich bitten, gnädige Frau? Leider haben wir keinen Fahrstuhl. Aber wir gehen nur in den ersten Stock. Ich darf vorangehen?«

Die Fremde dankt mit einem kleinen Nicken und folgt ihm zur Treppe.

Clementine beugt sich weit über das Pult und sieht ihr nach. Tolle Beine! Lang und schlank und gerade. Und eine fabelhafte Figur!

»Na, na«, meint der Josef, »fall nicht vornüber. Kennst du sie denn?«

Clementine löst den Blick von der Treppe und sieht den Hausdiener böse an. Sie ärgert sich immer, wenn er sie duzt. Es verträgt sich nicht mit ihrer Würde als Sekretärin und zeitweiligem Empfangschef eines Hotels vom Range des »Schwarzen Bären«. Bei solch einer Gelegenheit beschließt sie dann immer, Dornburg zu verlassen und sich anderswo eine Stelle zu suchen. Hier wird man sie nie respektieren. Wenn schon der Hausdiener es wagt, sie zu duzen.

Sicher, der Josef hat sie schon gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war und mit dem Schulranzen auf dem Rücken Samstag mittags kam, um ihren Vater vom Frühschoppen abzuholen. Dann durfte sie am Weinglas nippen, der Apotheker zog sie an ihren blonden Zöpfchen und fragte: »Nun, Tinchen, hast du heute nicht nachsitzen müssen?«, und der Josef, der am Eingang stand, wenn die Herren gingen, lächelte sie an, und sie machte einen tiefen Knicks vor ihm. Jetzt soll sie eine Autorität für ihn darstellen. Manchmal tut er ja so, als ob sie eine wäre. Aber sie ist nie ganz sicher, ob er es ernst meint. Nun macht sie also eine hochmütige Miene oder das, was sie dafür hält, und sagt: »Woher soll ich sie denn kennen? Sie hat sich ja nicht eingetragen. Sie haben ja gehört, was der Chef gesagt hat.« Und dann, ihren Ärger vergessend, nur noch neugierig: »Vielleicht ist es eine berühmte Schauspielerin? Eine Filmschauspielerin aus Frankreich? Sie hat so ein bisschen Akzent, nicht?«

Josef schüttelt nachdrücklich den Kopf. »Das ist keine Filmschauspielerin. Das ist eine Dame. Eine Frau von Welt, Tinchen. So viel solltest du inzwischen hier gelernt haben, dass du das erkennst.«

»Ich heiße Clementine«, sagt sie ärgerlich. »Und für Sie bin ich Fräulein Münk. Merken Sie sich das endlich, Josef.« Josef grinst ungekränkt. »Ist schon gut, Fräulein Münk. Reg dich nicht auf, Fräulein Münk. Ich muss halt immer noch dran denken, wie du das kleine Tinchen warst und immer herkamst und pieptest: ›Ist Vati da?‹« Er piept es wirklich, mit hoher Kinderstimme, und es klingt sehr komisch. Clementine findet es nicht komisch. Sie runzelt zornig die runde Jungmädchenstirn. »Das ist schließlich lange her.«

»So lange auch wieder nicht. Und viel größer bist du inzwischen nicht geworden, Fräulein Münk.«

Da hat er sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. Sie wäre so gern ein langbeiniges, hochgewachsenes Mädchen geworden, sie hätte so gern eine Figur gehabt wie die Fremde, die eben das Haus betreten hat.

»Tragen Sie lieber das Gepäck hinauf, anstatt zu schwatzen«, weist sie Josef zurecht und wendet sich wieder ihrer Schreibmaschine zu.

»Bin schon unterwegs«, sagt der Josef und bückt sich nach den Koffern. Da fällt ihm noch etwas ein. »Wo ist denn der Lausbub, der Charly? Hier sind die Autoschlüssel von der Dame. Er soll den Wagen in die Garage fahren.«

»Charly hat heute Nachmittag frei.«

»Schon wieder? Er war doch erst vor zwei Tagen weg.«

»Nicht mal Auto fahren können Sie«, meint Clementine spöttisch. »Ein schöner Hausdiener für ein Hotel wie unseres.«

»Ich bin so alt geworden ohne Auto, da wird’s die paar Jahre auch noch gehen.« Er nimmt das Gepäck, bewegt sich auf die Treppe zu, aber dann stellt er die Koffer noch einmal ab. »Wieso war er denn da? Schläft er denn heute nicht?«

»Weiß ich auch nicht. Plötzlich stand er da, gerade als die Dame hereinkam.«

Josef nickt befriedigt. »Er merkt’s eben immer.«

»Was?«

»Wenn jemand Besonderer kommt. Wenn jemand kommt, der jemand ist. Das merkt er. Darum sind wir auch ein Hotel mit drei Sternen.«

»Ja«, sagt Clementine mokant, »nur, dass die Gäste bei uns ihr Gepäck erst eine Stunde nach ihrer Ankunft ins Zimmer bekommen.«

Mit übertriebener Geschäftigkeit steigt der Josef die Treppe hinauf. »Bin schon oben, Tinchen. Ah, Verzeihung, Fräulein Münk.«