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LONDON, 2017
I ch glaube, mit Häusern verhält es sich ähnlich wie mit Kindern: um eine stabile emotionale Bindung zu erreichen, muss man so früh wie möglich daran arbeiten. Lange Drehtage haben dafür gesorgt, dass dieses Haus noch nie viel mehr für mich war als ein Schlafplatz. Ich habe den Abend damit verbracht, ein Bild von dem Mann zu suchen, mit dem ich seit fast zwei Jahren verheiratet bin. Ich hätte meinen morgigen Text lernen sollen, aber wie soll das gehen, wenn alles sich so falsch anfühlt? Statt mich zu sorgen, sehe ich mich eher mit Fragen konfrontiert, die vor allem deshalb unbeantwortet bleiben, weil ich sie nicht zu stellen wage.
Ich starre das einzige Foto von Ben an, das ich finden konnte: eine gerahmte Schwarzweißaufnahme aus seiner Kindheit. Ich hasse dieses Bild, habe es immer schon gehasst. Es macht mir Gänsehaut. Ben, fünf Jahre alt, in einem Anzug, der seltsam aussieht an einem so kleinen Jungen. Doch das ist es nicht, was mich so verstört. Es ist sein gruseliger Gesichtsausdruck, die Art, wie er lächelnd aus dem Bild herausstarrt, als würde er einen durchs Zimmer verfolgen. Der Junge auf dem Foto sieht nicht einfach frech oder hinterhältig aus, er wirkt böse.
Ich hatte Ben gebeten, das Bild in sein Arbeitszimmer zu stellen, um es nicht ansehen zu müssen, und ich weiß noch, wie er damals darüber lachte. Nicht weil er sich über mich lustig machte, sondern als wäre das Foto Teil eines Scherzes, in den ich nicht eingeweiht war. Ich habe es seitdem nie wieder gesehen und auch nicht mehr daran gedacht. Doch als ich das Schwarzweißfoto jetzt betrachte, verursacht es in mir ein ganz bestimmtes Gefühl: Grauen und Abscheu zu gleichen Teilen. Mein Ehemann und ich haben beide keine Familie mehr, wir sind erwachsene Vollwaisen. Er und ich gegen den Rest der Welt, haben wir immer gesagt, damals, ehe es zu er und ich gegeneinander wurde. Das haben wir natürlich nie gesagt, nur gelebt.
Während ich durch unser Haus streife, fällt mir auf, wie riesengroß es für nur zwei Menschen ist. Ben hat sehr deutlich gemacht – nachdem wir geheiratet hatten –, dass er niemals Kinder mit mir wollte. Ich fühlte mich betrogen und hintergangen. Das hätte er mir vorher sagen müssen; er kannte meinen Kinderwunsch. Sogar dann dachte ich noch, ich könnte seine Meinung ändern. Doch es gelang mir nicht. Ben sagte, er fühle sich mit Mitte vierzig zu alt, um Vater zu werden. Wann immer ich versuchte, das Gespräch auf dieses Thema zu lenken, sagte er dasselbe, jedes Mal:
«Wir haben uns. Wir brauchen nichts und niemanden sonst.»
Es war, als hätten wir einen exklusiven Club mit nur zwei Mitgliedern gegründet, und ihm gefiel es genau so. Aber mir nicht. Ich wollte so dringend ein Kind von ihm, es war alles , was ich wollte, und er verweigerte es mir; die Chance, uns zu klonen und noch einmal von vorn anzufangen. Will das nicht jeder? Mir war klar, dass sein Widerstand etwas mit seiner Vergangenheit und seiner Familie zu tun haben musste, aber er sprach nie darüber. Er sagte immer, die Vergangenheit mancher Menschen hätte es verdient, hinter sich gelassen zu werden, und das verstehe ich. Es ist schließlich nicht so, dass ich ihm je die Wahrheit über meine eigene Vergangenheit anvertraut hätte. Wenn wir älter werden, tauschen wir unsere Träume gegen eine Wirklichkeit ein, die auf Akzeptanz gründet.
Ich sage mir, dass es ja wohl nicht so schwer sein kann, ein aktuelles Foto von Ben zu finden. Wir hatten mal ganze Fotoalben, doch irgendwann hörte ich auf, welche zu machen. Nicht weil mir die Erinnerungen nichts mehr bedeutet hätten, sondern weil ich immer dachte, wir würden uns neue schaffen. Ich weiß, dass andere Menschen es lieben, jeden einzelnen Moment ihres Privatlebens in den sozialen Medien zu teilen, aber das mochte ich noch nie – auch das hatten wir gemeinsam. Ich habe zu hart für den Schutz meiner Privatsphäre gekämpft, um sie leichtfertig herzuschenken.
Ich ziehe die Dachbodentreppe aus, steige hinauf und rede mir dabei immer noch ein, dass ich auf der Suche nach Fotos bin. Es gibt sonst im ganzen Haus keinen Ort mehr, an dem ich nicht schon nachgesehen hätte. Ben war für den Umzug und fürs Auspacken zuständig. Ich vermute, dass hier oben noch eine ganze Kiste mit alten Fotoalben steht, zusammen mit all den anderen Habseligkeiten, die unten nicht zu finden sind: Bücher, Dekogegenstände und der übliche Krempel eines gemeinsam verbrachten Lebens.
Ich schalte das Licht ein. Auf diesen Anblick war ich nicht gefasst.
Es ist nichts da.
Gar nichts. Es ist, als wäre der Großteil des Lebens, an das ich mich erinnere, verschwunden. Ich verstehe das nicht. Es ist, als würden wir nicht wirklich hier leben.
Mein Blick schweift über Spinnweben und staubige Dachbodendielen, beleuchtet von einer einzigen flackernden Glühbirne. Dann entdecke ich doch etwas: einen alten Schuhkarton, ganz hinten in der Ecke.
Die Decke ist niedrig, ich krabble auf allen vieren und versuche, mich vor den in der Düsternis lauernden Spinnen zu ducken. Es ist kalt hier oben, und ich hebe mit zitternden Händen den Deckel von der Schachtel. Dann fällt mein Blick auf den Inhalt, und mir wird schlecht.
Den Schuhkarton unter den Arm geklemmt, steige ich wieder nach unten und schalte das Licht aus. Ein Cocktail aus Angst und Erleichterung fließt durch meine Adern; Angst vor dem, was das hier vielleicht zu bedeuten hat, und Erleichterung, weil die Polizei es nicht gefunden hat. Ich schiebe die Schachtel ganz unten in den Kleiderschrank. Dann falle ich praktisch ins Bett, ohne mich auszuziehen. Ich muss mich dringend etwas hinlegen, sonst überstehe ich den Drehtag morgen niemals. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich Bens Gesicht vor mir. Dazu brauche ich kein Foto. Es fühlt sich an, als würde das Wir, für das ich uns hielt, zerstört, Lüge für Lüge, und ließe nur noch den Schutt unserer Ehe zurück.
Ich fange allmählich an zu glauben, dass ich meinen Mann überhaupt nicht kannte.