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Zweiter Weihnachtstag 2016
Ich habe den freien Fall zwischen Schlaf und Aufwachen immer gemocht. Die halb bewussten Sekunden vor dem Öffnen der Augen, in denen Träume Wirklichkeit sein könnten. Ein Moment größter Freude oder großen Leids, bevor die Sinne neu starten und einem sagen, wer und wo und was man ist. Noch eine Sekunde länger genieße ich die ersehnte Selbsttäuschung, die mich glauben lässt, ich könnte eine andere sein, könnte überall sein, könnte geliebt sein.
Ich spüre das Licht durch meine Augenlider und werde auf den Platinring an meinem Finger aufmerksam. Er fühlt sich schwerer an als sonst, als würde er mich hinabziehen. Ein Tuch wird über meinen Körper gezogen, es riecht fremd, bin ich in einem Hotel? Die Erinnerung an den Traum verflüchtigt sich. Ich will sie festhalten, will versuchen, jemand anders zu sein, woanders zu sein, aber es gelingt mir nicht. Ich bin nur ich, und ich bin hier, wo ich, wie ich schon weiß, nicht sein will. Meine Glieder schmerzen, und ich bin so müde, dass ich die Augen nicht öffnen will. Bis mir einfällt, dass ich es nicht kann.
Panik fegt wie ein eiskalter Wind durch mich hindurch. Ich weiß nicht, wo ich bin oder wie ich hierhergekommen bin, aber ich erinnere mich, wer ich bin. Ich heiße Amber Reynolds. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Ich bin mit Paul verheiratet. Diese drei Dinge wiederhole ich im Kopf, kralle mich an ihnen fest, als könnten sie mich retten, aber mir ist klar, dass ein Teil der Geschichte fehlt, die letzten Seiten wurden herausgerissen. Als ich die Erinnerungen, soweit es mir möglich ist, wiederhergestellt habe, vergrabe ich sie, bis in meinem Kopf genug Ruhe herrscht, um zu denken, zu fühlen, Zusammenhänge herzustellen. Eine Erinnerung widersetzt sich, kämpft sich an die Oberfläche zurück, aber ich will ihr nicht glauben.
Das Geräusch einer Maschine drängt sich in mein Bewusstsein, stiehlt die letzten Fragmente von Hoffnung und hinterlässt nichts als die unliebsame Gewissheit, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde. Der sterile Geruch reizt mich zum Würgen. Ich hasse Krankenhäuser. In ihnen wohnen der Tod und verspätete Reue, und ich würde freiwillig nicht einmal zu Besuch herkommen, geschweige denn bleiben.
Vorhin waren Leute da, Fremde, jetzt erinnere ich mich. Sie benutzten ein Wort, das ich nicht hören will. Ich erinnere mich an große Aufregung, laute Stimmen und Angst, nicht nur meine eigene. Ich bemühe mich, mehr auszugraben, aber mein Kopf macht nicht mit. Irgendetwas sehr Schlimmes ist passiert, aber ich kann mich nicht erinnern, was oder wann.
Warum ist er nicht hier?
Es kann riskant sein, eine Frage zu stellen, auf die man die Antwort schon kennt.
Er liebt mich nicht.
Ich setze ein Lesezeichen bei diesem Gedanken.
Eine Tür geht auf. Schritte, dann kehrt wieder Stille ein, aber sie ist angeknackst. Links von mir hustet jemand, und ich merke, dass zwei Menschen bei mir sind. Fremde in der Dunkelheit. Mir ist kälter als je zuvor, ich komme mir winzig vor. Noch nie habe ich eine solche Angst gekannt wie die, die mich jetzt packt.
Wenn doch bloß jemand etwas sagen würde.
«Wer ist sie?», fragt eine Frauenstimme.
«Keine Ahnung. Armes Ding, was für eine Katastrophe», erwidert eine andere.
Wenn sie bloß nichts gesagt hätten. Ich beginne zu schreien.
Ich heiße Amber Reynolds! Ich bin Radiomoderatorin! Wieso wissen Sie nicht, wer ich bin?
Ich schreie wieder und wieder dieselben Sätze, aber sie ignorieren mich, weil ich nach außen hin stumm bin. Nach außen hin bin ich niemand und habe keinen Namen.
Ich will das Ich sehen, das sie gesehen haben. Ich will mich aufsetzen, die Hand ausstrecken und sie berühren. Ich will wieder etwas fühlen. Irgendetwas. Irgendjemanden. Ich will tausend Fragen stellen. Ich glaube, ich will die Antworten wissen. Sie haben wieder das Wort von vorhin gesagt, das ich nicht hören will.
Die Frauen gehen hinaus, schließen die Tür, doch das Wort bleibt zurück; ich bin mit ihm allein und kann es nicht länger ignorieren. Ich kann die Augen nicht öffnen. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht sprechen. Das Wort schießt an die Oberfläche und zerplatzt, und ich weiß, dass es wahr ist.
Koma.