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Gefährlicher Fang

Die Sonne brannte auf Leos Rücken. Der alte Fischer ließ die Ruder los und stand auf. Sein kleines Boot wurde vom leichten Wellengang hin und her geschaukelt, während er nach Osten blickte. Er suchte nach einem Zeichen von Avantias Küste, aber das Meer erstreckte sich bis zum Horizont.

„Ich bin weiter weg als jemals zuvor“, dachte er grimmig.

Er drehte sich nach Westen und kniff die Augen zusammen. Die Luft war heiß und es war gespenstisch still. Das Segel hing schlaff am Mast. Wenn der Wind nicht bald auffrischte, würde er die ganze Nacht hier draußen verbringen.

Doch das war Leos geringste Sorge. Er griff nach seiner Wasserflasche und ließ die letzten Tropfen in seinen Mund fallen.

Vom Bug aus starrte ihm der leere Fangkorb entgegen.

„Nicht mal einen guten Fang habe ich, obwohl ich den ganzen Tag auf dem Meer war“, grummelte Leo.

Die Küstengewässer waren immer sehr fischreich gewesen, aber in den letzten Tagen waren die Schwärme unauffindbar.

„Als ob sich die Fische vor etwas verstecken“, überlegte Leo und ein Schauer rann ihm über den Rücken.

Er ließ sich schwer auf die Ruderbank fallen und nahm die Paddel wieder in seine mit Blasen übersäten Hände. Seine Nichte, Elenna, würde sich Sorgen machen, wenn er bis Sonnenuntergang nicht zurück war.

„Arme Elenna“, dachte er beim Rudern. Ein Mädchen wie sie sollte nicht zu Hause herumsitzen. Seit sie mit Tom von ihrem letzten Abenteuer zurückgekehrt war, hingen Pfeilköcher und Bogen unberührt an der Wand.

Wusch! Eine große Welle klatschte gegen das Boot und schaukelte es hin und her. Leo zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um.

„Ein Schiff“, murmelte er.

Ein riesiges Schiff pflügte durch das dunkelblaue Meer. Es ragte hoch über dem Wasser auf. Drei Masten erhoben sich vom Deck, wobei der mittlere etwas grober gehauen zu sein schien als die anderen. Er war leicht gebogen und sah aus wie der Ast eines riesigen Baums. Am seltsamsten jedoch waren die blutroten Segel. Sie blähten sich im Wind und trieben das Schiff vorwärts. Leo runzelte die Stirn. „Es weht nicht die leichteste Brise“, dachte er.

Eine einzelne Fahne flatterte an der Spitze des mittleren Masts. Vom schwarzen Stoff hob sich ein Umriss ab: das Skelett einer mächtigen Pranke. „Ob das ein Kriegsschiff ist?“, fragte sich Leo. Der Dreimaster ähnelte keinem der Schiffe aus König Hugos kleiner Flotte, die er sehr gut kannte.

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Leo schwenkte die Arme. „Hier drüben!“, rief er. „Bitte, helft mir!“

Obwohl das Schiff noch über fünfzig Bootslängen entfernt war, schlingerte das kleine Fischerboot plötzlich heftig. Leo wurde umgeworfen und landete schmerzhaft auf den Knien. Schnell klammerte er sich an der Reling fest. Er verstand das nicht. Der Wellengang war doch gar nicht stark genug, um ihn von den Füßen zu fegen.

Leo starrte ins Wasser. „Da unten ist etwas“, dachte er.

Ein dunkler Schatten, größer als ein Hai, glitt bedrohlich unter dem Bootsrumpf entlang.

Leo stolperte gerade rechtzeitig zur anderen Seite, um zu sehen, wie das Wesen die Wasseroberfläche durchbrach. Er unterdrückte den Schrei, der sich in seinem Hals bildete. Sechs riesige Flossen, drei auf jeder Körperseite, bewegten das schlangenähnliche Geschöpf vorwärts. Mit einem kräftigen Stoß erhob sich das Biest aus dem Wasser. Auf seinen silbrigen Schuppen glitzerte das Sonnenlicht. Das Monster wandte Leo den Kopf zu, der fast so groß war wie dessen Boot. Hörner wuchsen aus dem Schlangenschädel und ragten in alle Richtungen. Das Biest verzog seine gelben Augen zu Schlitzen. Noch weiter schraubte es sich aus dem Meer und verbarg mit seinem riesigen Leib die Sonne. Dann stürzte es sich zischend auf den Fischer.

Leo sprang ins Wasser, um dem Biest nicht in die Fänge zu gehen. Er hörte das Krachen, als sein Boot in tausend Stücke gerissen wurde. Um ihn herum schwammen die zersplitterten Planken und er schnappte panisch nach Luft. Plötzlich krampfte sich sein Brustkorb zusammen. Das Biest kam mit geöffnetem Maul, aus dem tödliche Fangzähne ragten, auf ihn zu.

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