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Ein neuer Feind

Tom wurde eiskalt. Er rannte zur Tür und Elenna folgte ihm.

„Wartet!“, rief Aduro.

Tom stürzte auf den Hof hinaus. Mehrere Stallburschen waren herbeigeeilt. Zwei von ihnen hoben Taladon vorsichtig aus dem Sattel und legten ihn auf den Rücken.

„Er darf nicht tot sein“, dachte Tom und drängelte sich vor. „Lasst mich durch!“

Beim Anblick von Taladons Gesicht keuchte er auf. Ein Auge war zugeschwollen. Die Lippen waren aufgeplatzt und trocken. Aus einer Wunde an der Stirn tropfte frisches Blut auf Wange und Nase. Tom kniete sich zu seinem Vater und Taladon stöhnte leise.

Aduro stand neben ihnen und machte ein ernstes Gesicht. Vom Rennen war er etwas außer Atem.

„Was ist passiert?“, fragte Tom leise.

Taladon bewegte die Lippen, aber es kam kein Laut heraus.

„Wasser!“, verlangte Tom.

Ein Stallbursche reichte ihm eine Wasserflasche. Vorsichtig flößte Tom seinem Vater etwas Flüssigkeit ein.

„Ich habe ihn gefunden“, krächzte er.

Aduro trat näher heran. „Den Baum des Seins?“

Taladon bewegte die Lider, als wollte er bejahen. „Ich war schon ganz nah, aber dann wurde ich angegriffen.“

„Wer war das?“, fragte Tom.

„Es …“ Taladon schloss die Augen.

„Genug mit den Fragen“, sagte Aduro bestimmt.

„Vater?“, fragte Tom erschrocken.

Elenna legte zwei Finger an Taladons Hals. „Alles in Ordnung. Sein Herz schlägt.“

Tom betrachtete den Brustkorb seines Vaters. Fast unmerklich hob und senkte er sich. „Wir müssen ihn auf die Krankenstation bringen“, sagte er.

Aduro befahl vier Stallburschen, eine Trage zu holen. Als Taladon hinaufgehoben wurde, fiel etwas zu Boden.

„Was ist das?“, wollte Elenna wissen.

Tom strich das Viereck aus rauem Stoff glatt. Es war schmutzig weiß wie Segelstoff. In der Mitte war ein Zeichen, das er wiedererkannte – eine Tierpranke, die sich blutrot vom hellen Stoff abhob. Tom sah zu Aduro hinüber.

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„Was ist das für ein Zeichen?“, fragte er. „Ich habe es in der Kristallkugel gesehen.“

Der Zauberer senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Ich kann es dir nicht verraten.“

„Tom, da ist noch etwas auf der anderen Seite“, sagte Elenna.

Er drehte den Stofffetzen um. In roten Buchstaben stand dort eine Nachricht:

Der Tod ist da! Euer Sanpao

Tom schauderte. „Es reicht“, sagte er, stand auf und stellte sich vor Aduro. „Warum erzählst du uns nichts? Wer ist dieser Sanpao?“

„Nur ein Pirat“, erwiderte Aduro. „Keine große Bedrohung für Avantia.“

Tom konnte kaum glauben, was der Zauberer sagte. „Keine große Bedrohung? Er hat beinahe meinen Vater getötet!“

„Du übertreibst“, sagte Aduro. „Taladons Verletzungen werden schnell heilen.“ Tom kam es so vor, als ob der Zauberer kurz ein schuldbewusstes Gesicht machte.

„Nein!“, sagte Tom heftiger, als er beabsichtigt hatte. „Ich werde gegen ihn kämpfen … gegen diesen Sanpao! Ich führe die Mission meines Vaters fort.“

„Lass dich nicht von deiner Wut leiten“, sagte Aduro.

Elenna legte Tom die Hand auf die Schulter. „Vielleicht hat Aduro recht“, sagte sie. „Vielleicht solltest du diese Mission erfahreneren Kämpfern überlassen.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Tom verstand, dass er mitspielen sollte. Irgendetwas stimmte nicht mit Aduro. Noch nie hatte Tom erlebt, dass der Zauberer sich weigerte, gegen die Feinde von Avantia zu kämpfen.

„Ja“, sagte er deshalb leise. „Wir sind nicht stark genug für diese Mission.“

„Ich bin froh, dass du es einsiehst“, sagte Aduro. Er wandte sich an die Stallburschen mit der Trage. „Bringt diesen Mann sofort zum Leibarzt des Königs“, befahl er.

Sie gehorchten und hoben Taladon mit der Trage hoch. Aduro ging zurück in seinen Turm. Elenna sah Tom an und zuckte mit den Schultern, als wollte sie fragen: Was ist hier los? Als die Träger an ihnen vorbeigingen, kam Taladon plötzlich zu Bewusstsein. Er streckte die Hand aus und packte seinen Sohn am Arm.

„Komm näher“, wisperte er. Sein Blick huschte hin und her. Er schien nicht zu wollen, dass ihn jemand hörte.

„Im Meer lauert Gefahr“, flüsterte Taladon Tom ins Ohr. „Sanpao … er kann Biester beherrschen.“

Toms Vater sank zurück und wurde in den Palast gebracht.

„Alles in Ordnung?“, fragte Elenna Tom.

Tom zerknäulte das Stoffstück in seiner Faust.

„Solange Blut in meinen Adern fließt, werde ich keine Ruhe geben, bis Sanpao besiegt ist“, sagte er. „Und es ist mir egal, ob ich dafür Aduros Erlaubnis habe oder nicht.“