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Noch ein verlorener Freund

Als die Nacht hereinbrach, schlichen Tom und Elenna zu den Ställen. Der Stallknecht war auf einem Schemel eingeschlafen und sie gingen auf Zehenspitzen an ihm vorbei. Storm stand ganz still, während sie ihn sattelten, aufzäumten und aufstiegen.

Tom drückte die Beine sanft an Storms Flanken. Langsam ging der Hengst über den Hof Richtung Burgtor. Der Stallknecht zuckte zusammen.

„Was –“, murmelte er. „Nein!“ Er sprang auf und stellte sich Storm in den Weg.

„Lass uns durch!“, sagte Tom.

„Aber ihr dürft nicht weg! Strenger Befehl von Zauberer Aduro“, erklärte der Stallknecht.

„Behaupte einfach, dass wir dich überwältigt haben“, sagte Tom. „Egal wie, wir werden durch das Tor reiten.“ Er legte die Hand auf den Schwertgriff und die Augen des Jungen weiteten sich. Tom mochte es nicht zu drohen, aber sie durften keine Zeit mehr verlieren. Der Junge trat zur Seite und Tom brachte Storm zum Galoppieren. Sie ritten durch das Tor.

„Halt!“, rief eine Stimme.

Tom zog die Zügel an und blickte zurück zum Schloss. Auf der Festungsmauer stand Aduro. In einer Hand hielt er seinen Zauberstab und in der anderen eine Fackel. Die Nachtbrise ließ die Flamme auflodern.

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„Wie könnt ihr es wagen, euch mir zu widersetzen?“, rief er. Die Fackel warf orangefarbenes Licht auf sein Gesicht.

„Wir wollen nur helfen!“, erwiderte Elenna.

Aduro lachte und es klang irgendwie unheimlich.

„Ihr werdet euren Verrat büßen!“, schrie er.

„Wir sind keine Verräter!“, rief Elenna.

Aduro richtete seinen Zauberstab auf sie. Aus der Spitze schoss ein violetter Lichtstrahl. Tom hatte keine Zeit, seinen Schild hochzuheben. Der magische Strahl traf ihn mit voller Wucht und ließ seinen Körper erzittern. Als er die Augen wieder öffnete, saß er unverletzt auf Storms Rücken. Er sah sich nach Elenna um, die hinter ihm vor dem Strahl geschützt gewesen war.

„Ich verstehe das nicht“, murmelte er. „Nichts ist pa-“

„Dein Gürtel!“, keuchte Elenna.

Tom blickte zu seiner Hüfte. Der wertvolle Gürtel mit den Juwelen, die er bei seinem Kampf gegen Malvels Biester gewonnen hatte, war verschwunden. Stattdessen spannte sich von der Schulter bis zur Hüfte eine Schärpe schräg über seine Brust. Sie schien aus Tierhaut gefertigt zu sein. Räudige Fellbüschel befleckten sie.

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Wenn Aduro auf einmal ihr Gegner war, dann war es besser, so viel Abstand wie möglich zwischen sie zu bringen. Er wendete Storm, sodass sie dem Palast den Rücken zukehrten.

„Mit oder ohne Gürtel, ich werde nicht zusehen, wie Avantia angegriffen wird!“, rief er dem Zauberer über die Schulter zu.

„Wir kommen erst zurück, wenn Sanpao besiegt ist!“, rief Elenna.

Tom gab Storm die Fersen und sie galoppierten in die Nacht hinein.

Sie ritten Richtung Küste. Taladons letzte Worte waren der einzige Hinweis, den sie hatten. Außerdem würden Piraten bestimmt von dort angreifen. Doch der westliche Ozean war drei Tagesritte entfernt.

„Zum Glück sind wir schon so viel durch Avantia gereist“, sagte Tom. „Der schnellste Weg führt durch den Wald des Grauens.“

Tom ließ Storm über die weite Grasebene galoppieren, bis sie den Waldrand erreichten. Als sich der Himmel rosa färbte, wirkte Avantia völlig friedlich. Auf jedem Hügelkamm blickte Tom sich nach Verfolgern um, aber nirgends war eine Spur von Reitern zu sehen. Die einzige Menschenseele, der sie begegneten, war ein Holzfäller mit seinem Eselskarren.

„Was ist nur mit Aduro los?“, fragte Tom, als sie in den Wald trabten.

„Er verhält sich eher wie Malvel als wie der gute Zauberer von Avantia“, sagte Elenna.

Tom berührte die Schärpe und versuchte, sie abzureißen.

„Was, glaubst du, ist das?“, fragte Elenna.

„Ich hoffe, es ist einfach nur ein Stück stinkendes Tierfell“, sagte Tom und gab seinen Versuch auf. „Aber wahrscheinlich ist es ein böser Trick.“

Tom spürte Elennas Hände fester um seinen Bauch. „Wir müssen besonders vorsichtig sein“, meinte sie.

„Mein Vater sagte, Sanpao könne Biester beherrschen“, erinnerte Tom sich. „Wir müssen die Augen offen halten. Sie können überall lauern.“

„Ich wünschte, Silver wäre bei uns“, sagte Elenna und linste zwischen die Bäume. „Mit seiner feinen Nase könnte er uns einen sicheren Weg suchen.“

Tom lehnte sich im Sattel weit vor und hieb tief hängende Äste ab. Die Sonne stieg höher, aber es geschah nichts Überraschendes. Die Vögel sangen in den Bäumen und Wolken wanderten über den blauen Himmel. Das Königreich schien unbeschwert zu sein.

Bald lichteten sich die Bäume.

„Wir sind fast auf der anderen Seite“, sagte Tom.

Sie ritten aus dem Wald hinaus zwischen wohlgeordnete Baumreihen. Kleine Hütten und Zäune waren zu sehen. An den Ästen hingen Äpfel und Pfirsiche.

„Eine Obstplantage“, stellte Tom fest. „Wir müssen in der Nähe eines Dorfs sein.“

Plötzlich zog er an Storms Zügeln und richtete sich kerzengerade auf.

„Was ist?“, fragte Elenna.

Tom deutete auf einen Baum. Ein großes Stück Rinde fehlte und auf dem nackten Holz war deutlich der Umriss einer Pranke zu sehen. „Wie die in Aduros Kristallkugel“, dachte Tom. Unter dem Prankenabdruck war noch mehr Rinde abgerissen. Dort stand eine Nachricht: Der Tod ist da!

„Wir müssen ganz in der Nähe sein“, wisperte Elenna. „Glaubst du –“

Ein schriller Schrei unterbrach sie.