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Piratenangriff

„Da entlang!“, zischte Elenna und deutete durch die Bäume. Sie stiegen ab und Tom band Storms Zügel an einem niedrigen Ast fest.

„Hier bist du in Sicherheit“, flüsterte er. Schreie und Hilferufe hallten durch die Obstplantage.

Mit ihren Waffen in der Hand liefen Tom und Elenna zum Dorfrand. Die Schreie wurden lauter. Tom sah einen verängstigten Dorfbewohner, der zwischen zwei Häusern verschwand. Er hatte eine Wunde an der Stirn. Tom wollte ihm nachlaufen, aber Elenna zog ihn in den Schutz einer großen Apfelpresse.

„Wir dürfen nicht einfach mitten hineinstürmen“, sagte sie. „Lass uns erst nachsehen, was los ist.“

Tom lugte um die Presse herum und konnte einen Blick auf den Dorfplatz werfen. Sonnengebräunte, muskulöse Männer in ärmellosen Wämsern trampelten über den Platz. Sie trugen schwere Lederstiefel und hielten ihre Entermesser hoch. Ängstliche Dorfbewohner drängten sich aneinander.

„Sind das Sanpaos Piraten?“, fragte Elenna.

„Das müssen sie sein“, erwiderte Tom.

Die Männer trugen Pluderhosen. Einer kam in ihre Nähe und Tom duckte sich hinter die Presse. Der Mann trug einen Ledergürtel um den Bauch mit Schnallen aus polierten Knochen.

„Sieh dir ihre Haare an“, wisperte Elenna.

Bei jedem Pirat war der Haaransatz an der Stirn ausrasiert. Einige trugen lange Pferdeschwänze auf dem Rücken, andere hatten sich den Zopf um den Hals gewickelt. Auf dem Unterarm hatte jeder eine Tätowierung: eine Skelettpranke.

„Sanpaos Zeichen“, dachte Tom.

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„Es sind zu viele“, wisperte er. „Wir brauchen etwas zur Ablenkung.“

Mitten auf dem Dorfplatz stand eine mächtige Eiche. Zwei Piraten hieben abwechselnd mit Äxten auf den Stamm ein. Es gab dumpfe Schläge und bei jedem Hieb raschelten die Blätter.

Tom sah sich um. Die Apfelpresse stand neben einem großen Holzgerüst, auf dem ein Eisenfass ruhte. Tom überlegte, ob er es umwerfen konnte.

Die Eiche auf dem Platz stöhnte und neigte sich weit zur Seite.

„Baum fällt!“ Die Eiche neigte sich noch mehr und mit einem ohrenbetäubenden Knirschen brach der Stamm. Der Baum krachte durch ein Hausdach. Sägespäne und Blätter wirbelten durch die Luft.

Die Piraten versammelten sich. „So viel zur Magie“, knurrte einer.

„Ich habe euch gesagt, dass es nicht der Baum des Seins ist“, schimpfte der mit der Axt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was für eine Zeitverschwendung! Wir brauchen diesen Baum und seine Portale, um die Schätze aller Königreiche zu erbeuten.“

Darum waren sie also hier. Die Männer suchten wie Tom und Elenna nach dem Baum des Seins.

„Dann erzähle du doch Sanpao, dass wir versagt haben“, zischte ein Pirat.

Der Mann mit der Axt wurde blass.

Tom warf Elenna einen Blick zu. „Wenn die Piraten den Baum des Seins vor uns finden, hacken sie ihn um“, wisperte er.

„Und dann können wir Freya und Silver nicht retten“, fügte Elenna hinzu.

„Hilf mir“, sagte Tom und lehnte sich gegen das Fass. Elenna strengte sich an, aber das Fass bewegte sich kaum. Tom grub die Fersen in den Boden und drückte den Rücken gegen das Holzgestell. Elenna zog eine Grimasse. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Das Fass begann zu wackeln. Toms Muskeln brannten, aber er ließ nicht nach, bis er spürte, dass das Fass kippte.

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„He! Passt auf!“, schrie ein Pirat. Tom fiel beinahe um, als das Fass von dem Gestell stürzte. Ein Schwall Fruchtbrei breitete sich auf dem Platz aus. Die Piraten rutschten beim Weglaufen aus und verloren überrascht schreiend das Gleichgewicht. Sie landeten im klebrigen Saft der zermatschten Äpfel.

Tom und Elenna kamen aus ihrem Versteck. Als der Anführer der Piraten sie sah, deutete er mit seinem Entermesser auf sie.

„Haut sie in Stücke!“, befahl er und rappelte sich auf.

Elenna hatte bereits einen Pfeil in den Bogen gespannt und feuerte ihn ab. Die Piraten duckten sich.

„Das sind doch nur Kinder!“, brüllte der Anführer. Tom wehrte den Mann mit seinem Schild ab, dann holte er mit dem Schwert aus. Er schlug dem Piraten das Entermesser aus der Hand. Einem anderen trat er in den Bauch, der daraufhin gegen drei weitere taumelte und sie mit sich zu Boden riss.

„Zurück zum Schiff!“, schrie der Anführer und rannte tropfend vor Saft davon.

„Zum Schiff?“, dachte Tom. „Aber das Meer ist einen Tagesritt entfernt!“

Die Piraten stürzten davon und flohen aus dem Dorf. Tom half einem Dorfbewohner aufzustehen. Elenna kontrollierte die Wunde eines alten Mannes, der an der Wange verletzt worden war.

Die Leute umringten Tom.

„Vielen Dank“, sagte der Mann, dem Tom geholfen hatte. Er wischte sich mit dem Ärmel über seine blutende Nase. „Wer ihr auch seid, ihr habt uns beschützt. Andere Dörfer hatten nicht so viel Glück.“ Er warf den anderen einen nervösen Blick zu.

„Sprich weiter“, bat Tom.

Der Mann schluckte. „Wir haben gehört, dass die Piraten in den Nachbardörfern große Verwüstung angerichtet haben.“

„Dann müssen wir gehen“, sagte Tom. „Bleibt wachsam.“

Der Mann klopfte ihm auf den Rücken. „Viel Glück und vielen Dank.“

Die anderen murmelten auch ihren Dank. Tom und Elenna liefen schnell zu den Obstbäumen zurück. Tom band Storm los und betrachtete noch einmal das Prankenzeichen auf dem Baum.

„Er wird nicht davonkommen“, murmelte Tom finster. Jetzt wussten Elenna und er, wer ihr Feind war – der Anführer einer brutalen, rücksichtslosen Bande von Männern.

Sie ritten auf die Grasebene zurück und folgten der untergehenden Sonne nach Westen. Die Luft wurde kühler. Mit dem Wind von der Küste kam Salzgeruch zu ihnen geweht. Sie waren nicht weit weg von dem Dorf, in dem Elenna aufgewachsen war. Sie schlug deshalb vor, dorthin zu reiten. Dann konnte sie auch ihrem Onkel Bescheid geben, dass es ihr gut ging.

Sie überquerten die Dünen, die vor der Küste lagen. Am Horizont tauchte der silbrig schimmernde Ozean auf. Elenna deutete auf einige Fischerhäuschen, die nah am Meeressaum standen.

„Da ist die Hütte meines Onkels“, sagte sie.

Sie galoppierten die letzten Meter bis zur Hütte und Elenna rannte noch vor Tom hinein. Als er die Hütte betrat, stand Elenna neben dem Tisch in einem leeren Raum. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand.

„Was ist los?“, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. „Das ist der Zettel, den ich meinem Onkel hingelegt habe, bevor ich zu dir aufgebrochen bin“, erklärte sie. „Vor vier Tagen!“

„Was kann das bedeuten?“, fragte Tom.

„Entweder ist er weggegangen oder …“ Sie schluckte und schüttelte den Kopf.

„Was?“

Elenna drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. „Oder er ist nie von seinem Fischgang zurückgekommen. Tom, mein Onkel ist auf dem Meer verschollen!“