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Der Baum des Seins

„Onkel Leo ist die einzige Familie, die ich noch habe“, flüsterte Elenna.

„Komm“, sagte Tom. „Vielleicht wissen die anderen Fischer etwas.“

Elenna nickte. Sie versuchte, tapfer zu sein, das konnte Tom sehen. Aber er wusste auch, dass niemand ohne Trinkwasser vier Tage auf See überleben konnte. Vor der Hütte banden zwei Fischer ihr Boot gerade an den kleinen Steg. Elenna rief ihnen zu: „Habt ihr Leo gesehen?“

Beide Männer schüttelten den Kopf. Der ältere hatte einen zotteligen weißen Bart und sein kahler Kopf war rot von der Sonne.

„Ich habe Leo seit Tagen nicht gesehen“, sagte er. „Es gibt hier keine Fische mehr. Vielleicht ist er die Küste runtergefahren, um dort sein Glück zu versuchen.“

„Warum gibt es keine Fische mehr?“, fragte Tom.

Die beiden Fischer warfen sich einen verstohlenen Blick zu. „Fang nicht wieder damit an“, sagte der jüngere.

„Womit?“, fragte Elenna.

„Vater glaubt, etwas gesehen zu haben“, erklärte der jüngere Mann.

„Etwas Großes“, murmelte der Alte.

Tom sah Elenna an. Ein Biest!

„Eins kann ich mit Sicherheit sagen“, meinte der alte Fischer. „Irgendwas ist da draußen nicht in Ordnung.“

Die Dämmerung setzte ein und verwandelte das Meer in eine schwarze Masse. Nur die Spitzen der Wellen wurden vom Mondlicht silbrig angeleuchtet.

„Lass uns ein Feuer machen“, schlug Tom vor.

Elenna holte etwas Hafer für Storm und Tom sammelte am Strand Treibholz. Die Fischer boten ihnen getrockneten Fisch und ein Stück altes Brot an, bevor sie sich in ihre Hütte zurückzogen. Sie setzten sich ans Feuer und aßen. Elenna blickte zum Meer und in ihren Augen schwammen Tränen. Tom wollte sich nicht vorstellen, dass Leo Sanpao begegnet war. Oder noch schlimmer, einem Biest.

„Gib die Hoffnung nicht auf“, sagte er zu seiner Freundin.

„Nein“, sagte sie. „Es ist nur … ich darf ihn nicht verlieren … nicht, nachdem –“ Sie sprach nicht weiter. „Es ist schon spät. Wir sollten schlafen. Vielleicht finden wir morgen Früh neue Hinweise.“

Tom streckte sich neben dem Feuer aus. Elennas Tapferkeit beeindruckte ihn. Er selbst mochte nicht an seinen Vater denken, der verwundet in der Krankenstation des Palasts lag. Oder an seine Mutter, die in einem fremden Land gefangen war. Er sank in einen unruhigen Schlaf.

Tom schrak aus dem Schlaf hoch. Er war schweißgebadet. Es war immer noch Nacht, aber die ersten Anzeichen der Dämmerung färbten den Himmel grau. Vom Feuer war bis auf ein orange glühendes Holzscheit kaum noch etwas übrig.

„Alles in Ordnung?“, fragte Elenna, die aufgewacht war.

„Ich glaube schon“, antwortete Tom. Der Boden unter ihm zitterte plötzlich.

„Ein Erdbeben!“, rief er und sprang auf.

Storm schnaubte erschrocken. Frische Flammen waren aufgestoben und dann wieder erloschen. Die Erde ruckelte und Tom stürzte in den Sand. Sein Blick war starr auf das Feuer gerichtet. Genau in der Mitte schien sich der Boden zu öffnen. Grollend wuchs ein Ast aus der Öffnung. Kohlestücke und Sand flogen in alle Richtungen. Der Ast wuchs höher und höher hinauf und ragte schließlich wie eine Säule aus Holz gut zwanzig Manneslängen in die Luft.

Tom fand seine Stimme wieder. „Glaubst du, das ist –?“, begann er.

„Er muss es sein“, keuchte Elenna. „Der Baum des Seins!“

Er sah ganz anders aus als erwartet. Der Baum des Todes wäre ein besserer Name gewesen. Die schwarze Rinde, die den dürren Stamm bedeckte, war brüchig und krank. Die verkrüppelten Äste trugen keine Blätter oder Knospen. Tom umrundete mit Elenna den Baum. Die Äste hingen herunter, als ob sie gleich abbrechen würden. Der Gestank von verrottendem Kohl drang Tom in die Nase. An einer Stelle klaffte eine Wunde, aus der Saft tropfte. Hier musste sich einst ein Ast befunden haben. Von einem Portal war nichts zu sehen.

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„Wenn hier mal der Eingang zu einer anderen Welt war, weiß ich nicht, ob er noch da ist“, sagte Tom.

„Sieh mal!“, rief Elenna und deutete auf die Stelle, wo Tom geschlafen hatte.

Im Sand lag sein Schild. Der Rand schien golden zu leuchten.

„Was ist das?“, fragte Elenna.

Tom hob den Schild vorsichtig auf und brachte ihn zu dem Baum. Der Schild leuchtete heller.

„Ich habe mich schon immer gefragt, warum der Schild so stark ist“, sagte er. „Vielleicht ist das Holz von diesem Baum.“

„Dann hat er wahrscheinlich immer noch große Kräfte“, meinte Elenna. „Denn offensichtlich hat er eine magische Verbindung mit deinem Schild. Wir müssen verhindern, dass Sanpao in die Nähe des Baums gelangt.“

„Wir brauchen ein Boot“, sagte Tom. „Wir müssen raus aufs Meer – zu Sanpao.“

Er rannte zur Fischerhütte der beiden Männer und pochte mit der Faust gegen die Tür. Elenna folgte ihm mit Storm. Der ältere Mann öffnete die Tür und blinzelte hinaus.

„Können wir uns euer Boot ausleihen?“, fragte Tom.

„Wir brauchen es sowieso nicht“, sagte der Mann und zuckte mit den Schultern. „Bringt es nur in einem Stück zurück.“

„Wir lassen euch als Pfand unser Pferd hier“, sagte Tom. Er streichelte über Storms Mähne. „Keine Sorge, wir sind bald wieder bei dir.“ Storm schnaubte leise. Elenna kletterte in das Boot und stieg über Netze und Fischerhaken hinweg. Tom und die beiden Fischer schoben das kleine Boot über den Sand, bis sie knöcheltief im Wasser standen. Tom hüpfte an Bord. Elenna und er nahmen sich jeder ein Ruder und ruderten los. Die Sonne kroch über den Horizont und zauberte einen goldenen Schein auf den Ozean.

Elenna hatte mehr Erfahrung und hisste das Segel, um mit dem Wind zu fahren.

Der Wind trieb sie über die glatte Wasseroberfläche. Tom beschirmte die Augen mit der Hand. Doch auf den Wellen war nichts zu erkennen. Plötzlich entdeckte er einen Umriss am Horizont.

„Da drüben!“, rief er.

Elenna drehte sich aufgeregt um. „Ist es mein Onkel?“

Es war ein Schiff wie eine schwimmende Festung. Riesig, mit drei gigantischen Masten und roten Segeln in voller Takelage. Zacken ragten aus dem Dollbord und am Heck erhob sich ein Achterdeck. Das Schiff pflügte durch das Wasser auf sie zu. Auf der höchsten Flagge wurde ein Zeichen sichtbar.

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„Die Skelettpranke!“, keuchte Tom. „Das ist Sanpaos Schiff.“