Die Druckwelle des mächtigen Piratenschiffs drohte, sie umzuwerfen. Tom hielt sich rechts und links am Bootsrand fest, um nicht umzufallen. Aus der Nähe erkannte er, dass sich der mittlere Mast von den anderen unterschied. Er war nicht kerzengerade und sauber geschnitzt, sondern etwas gebogen. Mehrere vernarbte Stellen verrieten, wo Äste abgehackt worden waren. An anderen Stellen waren neue gewachsen, die mit goldenen Blättern bedeckt waren.
„Das muss der fehlende Ast vom Baum des Seins sein“, sagte Tom und erinnerte sich an die tropfende, wunde Stelle an dem Baum am Strand. Wie war das möglich? „Deshalb kommt es in unglaublicher Geschwindigkeit überall hin. Es benutzt die Magie des Baums!“
Obwohl das Boot stark schaukelte, stand er auf. „Wo ist der Schurke Sanpao?“, rief er.
Die Piraten, die grimmig zu ihnen hinunterstarrten, machten Platz und ein großer Mann trat ans Geländer des Achterdecks. Er war gekleidet wie die Piraten, die Tom in dem überfallenen Dorf gesehen hatte, nur dass seine Kleider komplett schwarz waren. Zwischen den Stofffalten um seinen Bauch schimmerte es allerdings bunt, genau war es aber nicht zu erkennen. Seine Weste war aufgeknöpft und entblößte seine behaarte Brust. Tätowierungen bedeckten seine Arme. Im Gesicht hatte er viele Narben. Rund um sein linkes Auge war die Haut rosa vernarbt wie von einer Brandwunde. Das Auge hing leicht herunter. In seinem geölten Pferdeschwanz steckten silberne Pfeile. Er zog ein krummes Entermesser aus der Schwertscheide und hielt es hoch. Der Rand war gekerbt und die Zacken sahen aus wie Haifischzähne. Tom schauderte.
„Hat jemand nach Sanpao, dem Piratenkönig, gefragt?“, brüllte er.
„Ich war das“, antwortete Tom.
Sanpao warf den Kopf in den Nacken und lachte heiser. „Und wer bist du, Junge?“
„Ich heiße Tom“, erwiderte er. „Du hast beinahe meinen Vater Taladon getötet.“
„Ich habe schon von dir gehört“, sagte Sanpao. „Dann muss das deine kleine Freundin Elenna sein.“
„Die kleine Freundin kann es mit jedem deiner Männer aufnehmen!“, rief Elenna.
„Der Gaul konnte euch wohl nicht aufs Meer begleiten“, fuhr Sanpao fort. „Und der Köter … oh, habe ich ganz vergessen. Der ist ja verloren gegangen. Zusammen mit deiner Mutter ist er weit, weit weg.“
Toms Blut fing an zu kochen.
„Woher weißt du so viel über uns?“, fragte Elenna.
Der Piratenkönig lachte. „Ich habe meine Quellen. Übrigens, wie geht es meinem neuen Freund Aduro?“
Die Art, wie Sanpao „neuer Freund“ sagte, gefiel Tom nicht. Wieder musste er an die Skelettpranke denken, die in der Kristallkugel des Zauberers erschienen war. „Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte Tom. Er griff nach einem Ruder, um sie noch näher an das Piratenschiff zu steuern.
Sanpaos Augen leuchteten triumphierend auf. „Aduro wird alt“, sagte er. „Und schwach. Ihn zu verhexen war einfach!“
„Damit wirst du nicht davonkommen!“, rief Tom.
Sanpao rollte mit den Augen. „Mein Zauberer hat mir schon erzählt, dass du nie aufgibst“, sagte er. „Wenn ich euch beide töten muss, um an den Baum des Seins zu kommen, dann tue ich es. Mein Biest ist hungrig!“ Er kam auf das Deck herunter und hob ein Muschelhorn hoch, das so groß war wie Toms Kopf. Er blies hinein. Das Geräusch, das herauskam, klang wie ein Nebelhorn und legte sich über den stillen Ozean.
Elenna schrie auf. Ein Mann in zerfetzten Kleidern wurde zwischen den Piraten nach vorn geschoben.
„Onkel Leo!“, rief Elenna.
Zwei Piraten schoben eine Planke über die Reling und schubsten Elennas Onkel darauf. Sanpao marschierte über das Deck und hielt seinen Säbel an Leos Hals.
„Zeit für ein letztes Bad, alter Mann“, sagte er.
Leo ging langsam über die Planke, die gefährlich wackelte. Toms Magen krampfte sich zusammen. Onkel Leo sollte an das Biest verfüttert werden!
„Keine Angst, Onkel!“, rief Elenna. „Wir werden dich rett-“
Ihre Worte erstarben, denn das Wasser unter ihrem Boot begann zu schäumen. Ein langes, aalähnliches Wesen mit silbernen Schuppen tauchte zur Oberfläche hoch. Einen Moment lang hörten die Piraten auf zu johlen. Der Schatten des Biests wurde immer größer. Tom schob Elenna zur Seite, als es durch die Wasseroberfläche stieß. Von den durchnässten Bootsplanken starrte er entsetzt zu dem Biest hoch, das sich in die Luft schraubte. Die Flossen waren mit scharfen Stacheln versehen. Es hatte eine stumpfe Nase und tödliche Dornen wuchsen rund um seinen Hals. Das Biest ließ sein knochiges, spitzes Schwanzende auf das Wasser knallen und spritzte sie alle nass. Dann tauchte es wieder ins Meer.
Elenna klammerte sich an Toms Arm. Er wusste, dass sie dasselbe dachte wie er. Sanpaos gestohlene Magie musste sehr mächtig sein, wenn er Biester kontrollieren und sie zu seinen stärksten Verbündeten machen konnte.
Sanpao presste die Säbelspitze in Leos Rücken. „Beweg dich!“, schrie er. „Serpentix, die Wasserschlange, muss gefüttert werden!“
Leo ruderte mit den Armen. Tom wusste, dass er gleich fallen würde. „Bitte!“, rief Leo.
Serpentix öffnete sein Maul, entblößte seine nadelspitzen Zähne und brüllte vor Hunger.