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Zwillingsfeinde

Die Männer johlten zustimmend und stellten sich entlang der Reling auf. Einige Piraten kamen von weiter hinten angerannt. Sie hielten Armbrüste in der Hand, die aus Knochen geschnitzt waren. Sie legten ihre Waffen an. Tom blickte ins Wasser, konnte das Biest aber nirgends sehen.

„Solange Rum durch meine Adern fließt, wirst du den Baum des Seins nicht bekommen! Männer, feuert!“, rief Sanpao.

Durch die Luft hallte das Schnalzen der Bolzen, die alle gleichzeitig in großer Zahl abgeschossen wurden.

„Duckt euch!“, rief Tom. Er packte Elenna und ihren Onkel am Arm und drückte sie zu Boden. Die Bolzen flogen über sie hinweg. Die Eisenspitze eines Geschosses bohrte sich durch die Schiffswand des kleinen Fischerboots. Die Piraten machten nach der ersten Salve nicht halt. Ein zweiter Bolzenschauer regnete über das Boot. Tom blinzelte über den Bootsrand. Die Armbrüste luden sich automatisch neu, wenn ein Bolzen abgeschossen war. Sanpaos Gelächter hallte über das Sirren der Bolzen.

„Solche Waffen habt ihr noch nie gesehen, was?“, rief er.

Elenna legte einen Pfeil in ihren Bogen und versuchte zu schießen, aber sie konnte den Kopf nur kurz über die Reling heben, bevor sie sich wieder ducken musste.

„Es sind zu viele“, sagte sie keuchend.

Noch mehr Bolzen bohrten sich in die Schiffswand.

„Bring uns näher ran, Steuermann!“, bellte der Piratenkönig.

Der Pfeilangriff hörte auf. Tom riskierte einen Blick und hob den Kopf. Leos Augen waren schreckgeweitet. „Wir brauchen Hilfe“, dachte Tom. „Und zwar bevor Serpentix wieder auftaucht.“

Tom berührte die Schuppe, die ins Holz seines Schilds eingelassen war. Sie gehörte einst Sepron, der Seeschlange.

Während seine Hand noch auf der Schuppe lag, spritzte das Wasser neben ihrem Boot auf und duschte sie nass. Tom hoffte, dass es Sepron war. Aber dann erkannte er Serpentix’ silbrige Schuppen. Wie eine Peitsche ließ das Biest seinen Schwanz auf das Wasser klatschen. Eine Welle, so hoch wie eine Wand, rollte auf das Fischerboot zu und hob es empor. Tom und die anderen mussten sich festklammern, um nicht ins Meer geschleudert zu werden.

Elenna gelang es, einen Pfeil einzuspannen. Sie zielte auf das Biest und kniff die Augen zusammen. Plötzlich ertönte wieder das Muschelhorn.

Das Biest schraubte sich aus dem Wasser und leuchtete auf einmal rot auf. Elenna feuerte ihren Pfeil ab, der auf Serpentix’ Kopf zuflog und sich in seinen Nacken bohrte.

„Guter Schuss!“, lobte Tom.

Sanpao lachte. Das Biest schien in der Luft zu schweben. Tom keuchte. Unter der schuppigen Hülle schien sich der Kopf zu teilen. Plötzlich hatte das Biest zwei Schädel.

„Oh, nein“, wimmerte Leo.

Die eine Hälfte von Serpentix tauchte zurück ins Meer. Die andere löste sich entlang der dunklen Linie auf dem Rücken des ersten Körpers. Dieses zweite Biest mit eigenem Kopf und Flossen erhob sich in die Luft.

„Es gibt zwei von ihnen!“, rief Elenna.

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Das zweite Biest benutzte die Flossen als Flügel und flog hoch über Sanpaos Schiff.

„Was sollen wir jetzt tun?“, überlegte Tom verzweifelt.

„Waffen bereit machen!“, befahl Sanpao.

Die Piraten rannten über das Deck, um ihre Waffen neu zu laden. Tom begriff, dass sie von drei Feinden gleichzeitig angegriffen werden würden.

Als die Pfeile in den Armbrüsten eingerastet waren, schoss der Wasser-Serpentix aus dem Meer und der Luft-Serpentix setzte zum Sturzflug an. Tom hob abwehrend ein Ruder.

„Stellt euch hinter mich!“, rief er den anderen zu.

Plötzlich schaukelte das Piratenschiff heftig auf dem Wasser. Die Piraten taumelten durcheinander und die Armbrüste fielen klappernd zu Boden. Zwei Piraten stürzten kreischend ins Wasser. Nur Sanpao verlor das Gleichgewicht nicht.

„Im Namen der See, was war das?“, schrie er.

Ein langer, mit grünen Schuppen bedeckter Hals schob sich aus den Wellen und Gischt stob auf. Seprons große, helle Augen blitzten zornig auf. Die Sonnenstrahlen schimmerten auf seinem regenbogenfarbenen Körper.

„Hallo, alter Freund!“, rief Tom.

Sepron öffnete das Maul und brüllte. Die Segel des Piratenschiffs flatterten.

„Tötet das Biest!“, brüllte Sanpao.

Mit einem Enterhaken in der Hand lief ein Pirat zur Reling und schleuderte ihn auf Sepron. Das gute Biest klappte den Kiefer zu und biss den Enterhaken in der Mitte durch.

„Sepron wird uns die Piraten vom Hals halten“, sagte Tom. „Wir kümmern uns um die beiden Serpentix.“

Elenna stand schon auf den Füßen und zielte auf den Luft-Serpentix. Der Pfeil bohrte sich seitlich in seinen Kopf. Das Biest wich zur Seite aus und zischte wütend. Leo stand breitbeinig am Bootsrand und stach mit einem Fischspeer auf den Wasser-Serpentix ein, der unter der Meeresoberfläche lauerte.

Das Biest tauchte ab. Kurz waren noch seine glitzernden Schuppen zu sehen.

Die Piraten rannten kreuz und quer über das Deck und hielten Ausschau nach Sepron. Sanpao brüllte Befehle, aber er achtete nicht mehr auf Tom und seine Freunde.

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Der Luft-Serpentix stürzte sich erneut auf sie und wich einem Pfeil aus. Tom warf das Ruder weg und zog sein Schwert. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung durchschnitt er eins der Hörner. Das Biest schrie vor Schmerz auf. Es flog jetzt niedrig über seinem Bruder im Wasser. Als Tom die beiden so nah beieinander sah, hatte er plötzlich eine Idee. Um Serpentix zu besiegen, mussten die Zwillinge an ein und demselben Ort sein. „Ich kann sie nicht einzeln besiegen“, dachte Tom. „Aber zusammen wird es mir gelingen.“

„Ich habe einen Plan“, sagte er. „Rudert uns zu dem Seemonster.“

„Ist das eine gute Idee?“, fragte Leo.

„Vertraut mir“, sagte Tom.

Elenna und ihr Onkel nahmen die Ruder und steuerten sie auf das Seemonster zu. Auf dem Piratenschiff waren die Männer damit beschäftigt, eine riesige Armbrust über das Deck zu schieben, um auf Sepron zu feuern.

Tom wandte das Gesicht dem Luft-Serpentix zu, der über ihnen in der Luft schwebte. Sonnenstrahlen schimmerten auf seinem Körper. Tom hob sein Schwert und richtete die Spitze auf das Biest.

„Komm her! Mich willst du doch haben. Lass uns kämpfen!“

Serpentix sah ihn aus seinen gelben Augen an und brüllte, dann stürzte er sich nach unten. Tom sah aus dem Augenwinkel den Schatten des Wasser-Serpentix nach oben tauchen.

„Macht euch bereit, aus dem Boot zu springen“, flüsterte Tom seinen Freunden zu. „Ich muss die beiden Teile des Biests wieder zusammenbringen.“

Das Luft-Biest stürzte los.

Der Wasser-Serpentix verschwand in dem Moment unter dem kleinen Boot, als Tom sich selbst in den Augen des Luft-Serpentix’ gespiegelt sah. Jetzt war der richtige Zeitpunkt.

„Springt!“, rief er.

Er sprang aus dem Boot und hörte auch die anderen ins Wasser platschen. Der Luft-Serpentix donnerte durch den Schiffsboden des kleinen Boots und stieß mit seiner anderen Hälfte zusammen. Es blitzte rot auf und die beiden Hälften begannen, sich wieder zu vereinigen.

Tom schwamm mit gezücktem Schwert auf das Biest zu. Serpentix wandte ihm den Kopf zu, während die Flügel unter seinen Schuppen verschwanden. Die beiden Biester wurden wieder eins.

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Serpentix schoss mit schnappendem Kiefer vorwärts, aber Tom hieb ihm mit der flachen Klinge auf die Nase. Das Biest zuckte zurück und wandte Tom den Rücken zu. Tom zielte sorgfältig, dann bohrte er sein Schwert tief in die dunklen Schuppen mitten auf dem Rücken. Sofort strömten Luftblasen aus Serpentix’ Maul und Nase. Er wirbelte zu Tom herum. Tom wusste, dass die Biester nicht sprechen konnten, aber in seinen Augen erkannte er Schmerz und Verwirrung. Heller als zuvor leuchteten seine Augen, dann wurde der Glanz schwächer und verschwand schließlich ganz. Die Schuppen des Biests brachen auseinander und sein Körper löste sich im Wasser auf.

Serpentix gab es nicht mehr.

Ein einzeln übrig gebliebener Stachel schwamm in Toms Reichweite. Tom schnappte ihn sich und steckte ihn in seine Schärpe.

„Vielleicht hat der Stachel magische Kräfte“, dachte er.

Tom paddelte mit den Füßen, um nach oben zu tauchen. Er überlegte, wie er nun gegen Sanpao kämpfen sollte, da spürte er von unten einen Schub. Er wurde auf Seprons Rücken aus dem Wasser gehoben. Neben ihm waren Elenna und ihr Onkel.

Vom Deck des Piratenschiffs starrte ihnen Sanpao aus hasserfüllten Augen entgegen.