Ich liege auf dem Boden. Beine auf der Couch, Arme zur Seite ausgestreckt, Kopf auf dem Kissen und auf dem Kopf ein Buch, weil ich hoffe, dass sein Inhalt einfach in mein Gehirn fällt und alles ein bisschen schneller geht. Um mich herum herrscht Chaos. Bücher, Textmarker, Teebeutel, Tassen, noch mehr Bücher. Von draußen höre ich Hunde bellen, die (hoffentlich) zu Menschen gehören, die die Promenade entlanglaufen, dahinter rauscht die Ostsee. Ich bin ans Meer gefahren. Nach Heringsdorf auf Usedom. Der Osten und ich sollen ein bisschen Zeit für uns haben.
Ich fange hier an, mich durch Romane, Sachbücher, wissenschaftliche Studien zu arbeiten. Durch Essays, Reportagen, Kommentare der vergangenen Jahrzehnte und bis heute. Mittlerweile erscheinen fast täglich neue – oft sehr gute – Analysen über den Osten.
Der Osten wurde schon oft erklärt, und das stets aus verschiedenen Blickwinkeln. Es gibt Bücher, die sich darauf fokussieren, was in der DDR alles schieflief, neben anderen Büchern, die betonen, dass in der DDR nicht alles schieflief. Daneben die Identitätsliteratur, in Sachbuch- und Romanform, die sich damit beschäftigt, als ehemalige DDR-Bürger zu sich selbst zu finden. Und Dutzende Bücher und Artikel, die versuchen, den Osten zu erklären – für die Ostdeutschen, aber auch alle anderen.
Doch eine Frage war dabei bisher kaum im Blick: Gibt es ein Ostdeutsch-Sein ohne das unmittelbare Erleben der DDR?
Das mit der metaphysischen Beziehung zwischen meiner Stirn und den Buchseiten scheint nicht zu funktionieren. Schade. Ich wälze mich auf den Bauch, das Buch fällt runter (wenigstens auf die Schwerkraft ist Verlass), und ich ziehe meinen Laptop heran. Der Bildschirm meines Laptops ist zu klein für die vielen ungeordneten Gedanken. Ich bin schon beim Dokument »Ohne Titel 8« angekommen. Wo »Ohne Titel 7« hin verschwunden ist, weiß ich nicht. Aber eine Datei hat sogar schon einen Namen: »Zahlen«. Die öffne ich. Und denke wieder einmal an meinen Vater. Weil ich mich frage, wie er sagen kann, dass es keine Unterschiede gebe zwischen Ost und West.
Geld.
Wenn meine Eltern und ich über ihr Alter reden – immer halb im Scherz, wie man über die Dinge redet, von denen man weiß, dass sie kommen, es aber eigentlich nicht glauben kann –, sagt meine Mutter zu mir: »Spar schon mal für uns, Schatz!« Und ich antworte: »Mama, bitte spart selbst, ich muss schon für mein eigenes Alter sparen.« Dann lachen wir, mit einem etwas schalen Beigeschmack.
Einige westdeutsche Freunde von mir sind jetzt, mit um die 30, in Eigentumswohnungen gezogen, die ihnen ihre Eltern bezahlt haben. Ich saß mit 26 Jahren das erste Mal bei einer Bank, um mich nach einer privaten Altersvorsorge zu erkundigen.
Viel Geld.
Eine Freundin aus Magdeburg ist nach Westdeutschland gezogen, weil ihr Freund Wirtschaftsingenieur ist. Ein Bekannter ist ein Wissenschaftler aus Baden-Württemberg und hat zehn Jahre in Magdeburg gelebt, jetzt geht er nach Münster. Für beide gibt es im Osten keinen Job.
Neulich war ich in einem kleinen Dorf bei Schweinfurt und traf einen 18-Jährigen, der mir erzählte, dass er mit seinem Ferienjob in acht Sommerwochen bis zu 5000 Euro verdienen könne. Bei welchem der mehreren Großunternehmen in der Gegend er das tue, könne er sich eigentlich aussuchen. Ich wüsste nicht von solchen Ferienjobmöglichkeiten in Magdeburg, ich ging kellnern.
Macht.
Immer wieder erzählen mir Ostdeutsche, die älter sind als 50 Jahre: »Der Kapitalismus ist genauso skrupellos, wie sie es uns im Staatsbürgerkundeunterricht angekündigt haben.« Ich höre so oft die gleichen Erzählmuster, dass ich mich frage: Wie können Leute annehmen, dass 40 Jahre in einem anderen System keine eigene Identität erzeugen?
Eine Taxifahrerin erzählte einmal einem Freund von mir, was sich aus ihrer Sicht nach dem Systemwechsel geändert hat: »In der DDR konntest du deinem Chef sagen, was du willst, musstest aber gegenüber den Politikern deine Klappe halten.« Heute sei es umgekehrt. Was davon schlimmer sei, wisse sie auch nicht.
Vielen scheint das heutige System immer noch fremd zu sein. Zu wenige Ostdeutsche haben »es geschafft«, zu wenige können Vorbilder sein.
Zukunft.
Vor einer Weile fuhr ich mit meinen Omas ins Kino, eine halbe Stunde in die nächstgrößere Stadt. Nach dem Film spazierten wir in das Gebäude gegenüber, das von außen wie ein Einkaufszentrum aussah. Aber drinnen war alles kahl, fast alle Geschäfte hatten dichtgemacht. Es wirkte traurig. Eine meiner Omas sagte: »Brauchen sie sich nicht wundern, dass alle wegziehen, wenn sie alles zumachen.«
Es stand für mich nie zur Debatte, nach meinem Schulabschluss in Magdeburg zu bleiben. Nicht, weil es Magdeburg war. Sondern weil ich dachte, nach der Schule verlasse man halt seine Heimatstadt. Erst als ich in München lebte, merkte ich, dass das gar nicht überall so üblich ist. Da traf ich so viele Leute, die dort aufgewachsen waren und ganz selbstverständlich geblieben sind.
Mit einem Schwung mache ich meinen Laptop zu. Ich schnappe mir die Zettel und räume sie auf den Küchentisch, schmeiße die Stifte hinterher, die Teebeutel in den Müll, und die benutzten Teller kommen in den Geschirrspüler. Nach und nach verschwindet alles vom Boden, was dort nicht hingehört. Ein bisschen Ordnung schaffen, ein bisschen Klarheit.
Natürlich gibt es noch Unterschiede zwischen Ost und West. Natürlich wirken die sich auf Menschen aus, natürlich auch auf die jungen Leute und ihre Lebensumstände.
Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren. Ich hatte eine sehr gute Kindheit und habe heute alle Möglichkeiten. Mir geht es gut. Und trotzdem: Natürlich haben die Zahlen auch mit mir zu tun.
Zahlen sind immer eine Verallgemeinerung, die nie auf alle zutreffen kann. Trotzdem muss man mit ihnen hantieren, wenn man nicht nur über die eigenen Probleme, sondern die der Gesellschaft sprechen will.
Schon oft wurde ich gefragt: »Was bringt es, über Ost und West zu reden? Es gibt doch auch Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden!« Das stimmt. Aber beim nächsten Mal werde ich in dieser Situation sagen: Schaut doch bitte gern auf diese Differenzen, und lasst uns ergründen, woher sie kommen. Aber die Unterschiede zwischen Ost und West zu beleuchten ist genauso legitim, relevant, interessant. Legitim, weil sich in so vielen ökonomischen, politischen, sozialen Daten noch immer die innerdeutsche Grenze nachziehen lässt. Relevant, weil die Frage, wie das sein kann, seit den AfD-Erfolgen eine neue politische Dringlichkeit hat. Interessant, weil beide Teile Deutschlands eben 40 Jahre lang getrennte Staaten waren. Aber auch seit 30 Jahren wiedervereint sind. Da sollte man doch schlicht neugierig sein, wie sie sich jeweils entwickeln.
Die Vorstellung, dass sich die Unterschiede zwischen Ost und West recht bald erledigt hätten, existiert bereits seit der Wiedervereinigung. Doch genauso lange weisen Menschen darauf hin, dass dem nicht so ist. Seit fast 20 Jahren betonen Ost-Expertinnen zudem, dass man die Nachwendezeit in den Blick nehmen müsse.
Vor allem in den Medien mit starkem Ostbezug gibt es schon seit vielen Jahren immer wieder Artikel über die wirtschaftliche Talfahrt im Osten, die in Teilen perspektivlose Jugend, das sich radikalisierende Denken, die ansteigende Wut. »Da braut sich etwas zusammen im Osten«, steht im Jahr 2006 im Neuen Deutschland. »Dieses Gefühl der Ohnmacht und Nichtbeachtung schürt eine schwelende Wut«, in der SuperIllu im Jahr 2009. »Ostdeutsche sehen für sich in der Heimat keine Zukunft«, in der Berliner Zeitung im Jahr 2005. Und daneben schafften es natürlich auch mal derartige Artikel in die restliche Presselandschaft – manchmal sogar abseits der Herbstjubiläen (»Das Weggucken in Sachen Ostdeutschland findet im Kollektiv statt«, schrieb der Spiegel im April 2004).
Und doch ist es ein bisschen, als gäbe es einen eigenen Ost-Kosmos. Einen Kosmos mit vielen Sternen, Querverbindungen und vielen Erklärungen, aber der Westen ist ein autark funktionierendes Paralleluniversum, in dem nicht viel davon ankommt – oder dem das (Stern-)schnuppe ist.
* * *
Heringsdorf ist ein kleiner, beschaulicher Ort, der sich am Strand entlangzieht. Restaurants, Geschäfte, Hotels, viele Banken und Bänke reihen sich aneinander, für viele Touristen im Hochsommer. Daneben gibt es natürlich den Strand, der angenehm leer ist, weil keine Saison ist. Und eine Seebrücke, von der aus man jene beobachten kann, die trotzdem hier sind und sich an den Wellen erfreuen. Ich gehe viel spazieren und vergesse dabei oft fast, dass ich ja in Mecklenburg-Vorpommern bin, in Ostdeutschland. Es ist eben ein sehr touristischer Ort, touristische Orte gleichen sich irgendwann anderen touristischen Orten an. Aber einmal telefoniere ich mit einer meiner Omas. Die erzählt mir begeistert, dass sie schon hier gewesen ist. Vor vielen Jahren – im Osten. Sie kann sich sogar an die Seebrücke erinnern. Heringsdorf war, so berichtet sie mir, zu DDR-Zeiten ein beliebtes Reiseziel, ein Sehnsuchtsort. Hier standen riesige Ferienanlagen für Urlauberinnen aus dem Land, aber es waren trotzdem nie genug. Deswegen gab es lange Wartelisten. Meine Oma kann mir noch genau erzählen, wie lange sie gewartet hat, wo sie genau war und mit wem.
Das finde ich irgendwie verrückt. Ich bin schon auf anderen Kontinenten gewesen, habe schon Vulkane bestiegen, aber war noch nie hier auf Usedom. Ist es gerade typisch ostdeutsch, möglichst weit wegzufahren? Weil man das früher nicht konnte? Oder wäre es typisch ostdeutsch, wenn ich jeden Sommer nach Usedom käme?
Eigentlich komische Fragen, aber ich merke, dass ich die ganze Zeit nach einer Definition suche, was typisch ostdeutsch ist. Was Ostdeutsch-Sein eigentlich heißt. Das werde ich auch immer von anderen gefragt.
Die Antwort ist nicht leicht. Sogar jede Studie definiert ostdeutsch anders. Einige Untersuchungen gehen nach dem Wohnort, andere danach, in welchem Landesteil man aufgewachsen ist, wieder andere danach, wo man vor 1990 die längste Zeit seines Lebens verbracht hat. Nach manchen Definitionen wäre Angela Merkel keine Ostdeutsche, weil sie in Hamburg geboren ist. Diese ein, zwei markanten Sätze, auf die sich alle einigen können, habe ich nirgends gefunden. Das macht die Studien nicht unwissenschaftlich – sie haben nämlich einen Methodenteil, in dem sie genau erläutern, was sie in ihrer Untersuchung mit ostdeutsch meinen. Nur reden auch abseits solcher Studien alle ständig über die Ostdeutschen. Aber ich habe noch nie gehört, dass einem Tagesschau-Beitrag so ein Methodenteil vorangestellt gewesen wäre.
Was allerdings in Analysen und Büchern, die sich mit den Ostdeutschen beschäftigen, immer wieder auftaucht, ist die Umbrucherfahrung.
Aber wenn es das ist, was die Ostdeutschen ausmacht, gehöre ich nicht dazu. Oder?
Mein Textprogramm und ich legen eine Pause ein. Zurück in meiner Wohnung setze ich mich in die Küche. Ich probiere es jetzt mit etwas Handfestem, um meine Gedanken zu ordnen. Vor mir liegen Dutzende Zettel in Grün, Gelb, Orange. Auf ihnen habe ich Definitionen, Zahlen, Schlagworte notiert. Ich nehme den ersten in die Hand, auf dem »Migranten?« steht.
Auf den Begriff stoße ich immer wieder, und ich denke viel darüber nach. Dahinter steht die These, dass Ostdeutsche in einigen Bezügen eigentlich wie Migranten seien. Die einen haben ihr Land verlassen, die anderen wurden von ihrem Land verlassen. So sagte es die Integrationsforscherin Naika Foroutan in einem Interview mit dem ostdeutschen taz-Redakteur Daniel Schulz im Frühsommer 2018. Beide Gruppen teilen laut Foroutan die Erfahrungen von Heimatverlust, Fremdheitsgefühlen und Abwertungserfahrungen. Ganz neu ist die Analogie nicht. Die Autorin Kübra Gümüsay beispielsweise schrieb im Jahr 2013 in der ZEIT, dass sie das Gefühl habe, Ostdeutsche könnten nicht nur verstehen, was es bedeute, in Deutschland in einer Minderheitsposition zu sein – sondern sie könnten es sogar mitfühlen. Sie wären ebenfalls dem »anderen Blick« ausgesetzt. Kübra Gümüsay berichtet von einer Freundin aus Mecklenburg-Vorpommern: »Wenn ich ihr von Beschimpfungen und abwertenden Blicken gegenüber mir als Muslimin und Deutschtürkin erzählte, erzählte Jette mir von den Bananen-Witzen und Nazi-Anspielungen. Wir beide, Jette und ich, hatten den Muselmanen und den Ossi gemeinsam.«
Naika Foroutan hat die These erforscht. In der im Frühjahr 2019 veröffentlichten Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung wurde untersucht, wie Ostdeutsche und Migranten in der Gesellschaft wahrgenommen werden – und wie sie sich selbst wahrnehmen. Eines der Ergebnisse: Ostdeutsche fühlen sich ähnlich benachteiligt wie Migranten.
In vielen Überschriften von Artikeln, die über diese Studie berichteten, stand allerdings: »Ostdeutsche benachteiligt wie Migranten«. Doch diese Verkürzung entstellt die Ergebnisse – denn sie beruht auf persönlichen Einschätzungen, nicht auf Tatsachen. Denn Tatsache ist natürlich, dass Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte viel mehr und viel heftigeren Diskriminierungen ausgesetzt sind als weiße Ostdeutsche.
Das ist auch der Grund, warum ein Fragezeichen auf meinem Klebezettel steht. Ich finde die Analogie spannend. Und ja, es scheint Parallelen zu geben. Aber so ein Vergleich droht auch mal eben Rassismus zu verharmlosen. Deswegen muss man zumindest vorsichtig mit ihm sein.
Ich lege den Zettel zurück und schaue auf die anderen. Auf einigen stehen Zitate, die ich mir herausgeschrieben habe. Entstanden seit der Wende. Ich bewege sie über den Tisch hin und her, hoch und runter, rechts, links, bis immer zwei nebeneinanderliegen. Wie ein Memory-Spiel, in dem ich Jahrzehnte zusammenschiebe.
Die Kärtchen stehen für leere Versprechen und hohe Erwartungen, für Übereinander- statt Miteinanderreden. Für eine West-Perspektive, die mit der ostdeutschen wenig gemein hat. Sie stehen dafür, wie heute alles viel offener daliegt als in der Anfangszeit des geeinten Deutschlands.
Ich finde, je länger man darüber nachdenkt, desto weniger kann Zeit ein Argument sein. Egal für was. Und erst recht nicht dafür, dass es mit irgendwas mal gut sein sollte. Wenn man ein Jahr ins Ausland geht, fühlt sich das beim Abschied wie zehn Jahre an und bei der Rückkehr wie ein Tag. Wenn man 45 Minuten mit dem Fahrrad nach Hause fahren muss, kann das sehr lang sein. Wenn man dabei das »Best of«-Album der Ärzte hört, ist es sehr kurz. Wir können etwas ewig herbeisehnen und doch überrascht sein, wenn es schon morgen ist. Wir können fühlen, dass etwas lange her ist, und gleichzeitig wissen, dass es gestern war. Zeit rinnt uns allen durch die Hände, wir reden ständig über sie und können sie doch nicht fassen.
Also, was sind eigentlich 30 Jahre?
* * *
Nach eineinhalb Wochen in Heringsdorf bin ich mir mit meinem Befund recht sicher.
Ich bin auf dieser Insel der einzige Mensch unter 50 Jahren. Der einzige ohne Partner im ähnlichen Trenchcoat. Und der einzige mit Laptop. Gestern Abend wollte ich unter Leute gehen, wie man das so sagt. In einem Laden wurde ich offiziell rausgeschmissen, als ich nichts essen wollte, ich vermute jedoch, dass mein Laptop das Ambiente kaputt gemacht hat. Im nächsten Laden gab’s wegen des Ambientes nur romantischen Kerzenschein. Nachdem ich mein Buch eine Stunde hochgehalten hatte, um im Kerzenschein wenigstens ein bisschen etwas erkennen zu können, und fast einen Muskelkrampf bekam, entschied ich, dass ich es in der Wohnung doch ganz okay finde.
Deswegen sitze ich heute Abend mit einem Rotwein in der Küche. Aus Rebellentum habe ich überall Licht und ganz laut Feine Sahne Fischfilet angemacht (die kommen immerhin aus Meck-Pomm). Von meiner Küchenbank aus kann ich auf die Ostsee blicken. Einem Freund aus Berlin habe ich gerade für heute abgesagt, weil ich »am Meer« sei. Jetzt stellt er sich vielleicht vor, wie ich an einem weißen Sandstrand unter wolkenlosem Himmel sitze, und ahnt nichts von der Fensterfront zwischen mir und dem Wasser.
Wir hantieren ständig mit Begriffen, die dann Bilder in unseren Köpfen auslösen. Meistens sprechen wir nicht darüber, ob das eigentlich die gleichen Bilder sind.
Auch Menschen, die noch nie am Meer waren, haben wohl eine Vorstellung davon, was das ist, wie das aussieht, wie das riecht. So wie ich eine Idee davon habe, wie gut die Pizza in Neapel schmeckt, obwohl ich noch nie da war. Realität wird nicht nur durch unser eigenes Erleben konstruiert. Sonst könnten wir uns ja über gar nichts unterhalten außer über das, was direkt vor unseren Fenstern passiert. Wir erschaffen uns unsere Welt durch Dinge, die wir von anderen erfahren.
Ich schaue wieder auf den Küchentisch, der gerade meine ganze Realität ist. Auf einem Zettel steht groß, zweimal unterstrichen: »MEDIEN«.
Wer noch nie bewusst eine ostdeutsche Person getroffen hat, der hat oft trotzdem eine Idee davon, wie Ostdeutsche sind – hat die Schublade im Kopf, auf der Ossi steht. Und die ist meistens auch dann gefüllt, wenn man noch nie in dem Landesteil war. Mit Dingen, die man mal in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen hat. Medien haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen.
Das Bild der Ostdeutschen wird von Medien nicht nur abgebildet, sondern auch mitgebildet. Wie sah er also aus, der Ossi im Wandel der Zeit?
Nach der Wende wurden Ostdeutsche in den Medien vor allem mit negativen Stereotypen beschrieben. Demokratieunfähig, autoritätsgläubig, rückständig, spießig. So beschreibt es der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe, der die Darstellung der Ostdeutschen in den Medien seit Jahrzehnten erforscht. Das erste eindrückliche und bleibende Bild sei laut ihm das vom »selig-blöden Ossi mit der Banane« gewesen. Solche krassen Zuschreibungen werden heute nicht mehr aufgeschrieben, aber sie prägten nachhaltig das Denken der Leute.
Und es wird noch immer anders auf Ostdeutschland geschaut. Das hat man zum Beispiel an der Berichterstattung nach der Bundestagswahl 2017 gesehen.
Die Medien suchten Erklärungen für den Erfolg der AfD. Ihr bestes gesamtdeutsches Zweitstimmen-Ergebnis erhielt die Partei in Sachsen mit 27 Prozent, ihr bestes westdeutsches in Bayern mit 12,4 Prozent. Was mir bei der Berichterstattung über den AfD-Erfolg in Bayern und im Osten (der oft zusammengefasst wurde) auffiel, war die unterschiedliche Herangehensweise. In den Ost-Analysen wurde vorrangig gefragt: Was ist mit den Ostdeutschen los? In den Bayern-Analysen jedoch: Was hat die CSU falsch gemacht? Einmal ging es um Parteipolitik, einmal um Psyche. Einmal klang es also nach einem Fehler der Politikerinnen, einmal nach einem der Wähler.
Generell ist sowieso selten von den Westdeutschen die Rede. Ostdeutsche hingegen werden sehr oft als eine Gruppe zusammengefasst und angesprochen.
Das passiert schon dadurch, dass ostdeutsch ein oft verwendetes Attribut ist, westdeutsch hingegen nicht. Oft wird von Deutschland gesprochen, wenn eigentlich Westdeutschland gemeint ist. Egon Krenz? Ostdeutsche Geschichte. Helmut Schmidt? Deutsche.
Der ostdeutsche Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak formulierte das einmal so: »Es gibt immer eine unsichtbare Norm, die das Normale darstellt. Das Normale ist in diesem Kontext das Westdeutsche. Und die Abweichung vom Normalen, die ist es, die benannt wird.« Also: der Osten.
Hinzu kommt, die Medienlandschaft ist sehr westdeutsch geprägt. Alle überregionalen Medien haben ihren Hauptsitz im Westen. Auch Journalistinnen sind in der Mehrzahl Westdeutsche. Vom Westen aus wird auf den Osten geblickt. Über den Osten wurde lange – und wird oft noch immer – vor allem dann berichtet, wenn ein Jubiläum ansteht, es um die AfD oder in irgendeiner Weise Abgehängte geht. Auch die beiden letzten Punkte gehören zur ostdeutschen Realität. Aber für alle, die den Osten nur durch die Medien wahrnehmen, entsteht eben der Eindruck, dass Ostdeutschland aus nicht viel mehr besteht.
* * *
Nach diesen Tagen in Heringsdorf habe ich das Gefühl, ein bisschen mehr von den gedanklichen Reisen verstanden zu haben, die vor mir gemacht wurden. Gleichzeitig haben sie mir Mut für meine eigene gemacht. Denn ich habe nicht nur gemerkt, dass die Stimmen aus meiner Generation noch wenig im Ost-Kosmos vertreten sind. Sondern ich habe auch bemerkt, dass sie fehlen. Denn ich glaube, unser Blick auf die ostdeutsche Geschichte ist ein anderer. Er ist unbeschwerter.
Ich habe keine Erinnerung an die DDR und keine Angst vor den Vorwürfen, ich würde sie verklären. Man kann mir keine Verantwortung für die Existenz dieses Staates zuschieben, deswegen fühle ich keinen Rechtfertigungsdruck. Ich schaue unbefangener auf diese Zeit. Aber gleichzeitig ein wenig parteiisch, weil ich das Kind meiner Eltern bin. Nach der DDR sehne ich mich nicht zurück, natürlich nicht – aber ich fühle mich auch nicht in der Verantwortung, in jedem zweiten Halbsatz alles verurteilen zu müssen, was jemals in diesem Staat existierte. Und die Nachwendezeit? Die habe ich erlebt, aber sie hat mich auch nicht voll erwischt.
Vielleicht habe ich, haben wir als Nachwendegeneration den nötigen Abstand – zeitlich und emotional –, um in Worte zu fassen, wofür unseren Eltern noch die Worte gefehlt haben – und zwar so, dass sie alle verstehen und auch wahrnehmen. Ein paar Sternschnuppen müssen es rüber schaffen.