E r ist nicht zu Hause, oder?«
Cheyenne zog ihre Hand von der Haustür weg und ihre Drowsicht, mit der sie durch Wände und physische Objekte sehen konnte, hörte auf, als sie die Augen öffnete. »Nein. Keine einzige Person in der Wohnung, also vermute ich, dass er bei einem dieser geheimnisvollen Treffen ist, von denen er immer spricht.«
Ember runzelte die Stirn. »Ich habe nie gehört, dass er etwas über Treffen gesagt hat.«
»Das liegt daran, dass er sich immer viel mehr darauf konzentriert, dir zu schmeicheln, wenn ihr zusammen abhängt und was auch immer macht.«
»Reden, Cheyenne, nur reden. Und manchmal machen wir Pizza.«
Cheyenne verdrehte die Augen. »Siehst du? Selbst das wirkt gezwungen. Er versucht viel zu sehr, seine zwielichtige Seite zu verbergen.«
»Genau. Wir kennen sonst niemanden , der das macht.«
Die Halbdrow ignorierte den Seitenhieb ihrer Freundin und trat von der Tür weg. »Wir müssen nur nach ihm Ausschau halten und warten, bis er zurückkommt.«
»Und wie? Willst du einfach an der Tür stehen und den Flur mit deinem dritten Auge beobachten oder was?«
»Es ist kein drittes Auge. Nein. Ich habe keine Lust, den Rest der Nacht vor unserer Haustür zu verbringen.« Cheyennes Blick fiel auf die verstreuten Seiten von Maleshis Zauberbuch. »Siehst du da irgendwelche Zaubersprüche, mit denen man Leute ausspionieren kann?«
»Nein.« Ember schnaubte und drehte sich zurück zu der Couch und dem Couchtisch. »Aber es gibt so etwas wie einen magischen Stolperdraht.«
»Ich hoffe, er stolpert darüber.«
»Stopp.« Ember überflog die Seiten und griff dann nach dem Rest des ungebundenen Zauberbuchs, das an der Armlehne des Sofas lag. Sie blätterte durch die verschiedenen Zaubersprüche, dann zog sie die gewünschte Seite heraus und hielt inne. »Du wolltest doch nicht, dass sie geordnet sind, oder?«
»Da ich nicht diejenige bin, die auch nur irgendwie zaubern kann, ist mir die Organisation davon völlig egal.« Cheyenne legte den Kopf schief und lächelte leicht. »Vielleicht hat Maleshi etwas dazu zu sagen.«
»Maleshi hat dir etwas in die Hand gedrückt, das zur Bombe wird wenn es in die falschen Finger gerät und sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, es zusammenzubinden. Es ist ja nicht einmal schwierig. Die meisten Kopiergeräte haben sowieso einen Locher.«
Die Halbdrow lachte. »Das kannst du ihr gerne sagen, wenn wir sie das nächste Mal sehen.«
»Glaubst du, ich habe Angst vor einer Ex-Generalin, die in Richmond herumläuft und sich als IT-Professorin ausgibt? Ich bitte dich. Ich habe vor keinem der beiden Nachtpirscher Angst.«
»Hör mal einer an. Du klingst langsam wie ich, Em.«
»Mit einem großen Unterschied, Halbdrow.« Ember ließ den Rest des verstreuten Zauberbuchs zurück auf die Couch fallen und überflog die Anweisungen. »Ich kenne den Unterschied dazwischen, keine Angst vor jemandem zu haben und ihn so lange zu provozieren bis er ausrastet.«
Stirnrunzelnd schüttelte Cheyenne ihre Hände aus und ließ die Ketten an ihren Handgelenken klirren. »Dann lass ich dich mal dein Ding machen.«
»Mhh.« Ohne von dem magischen Stolperdraht-Zauber aufzublicken, schnappte sich Ember den Stapel mit den Beweisen gegen Matthew Thomas und ließ ihn auf den Couchtisch fallen.
Die Halbdrow hob die Papiere auf und hätte sich beinahe in den mit Wasser gefüllten Sessel gesetzt, aber schnappte sich stattdessen die Kriegsmaschinenkugel, wischte sie an ihrer Hose ab und ließ sich in den anderen Sessel fallen, während Ember sich an die Arbeit machte.
Zehn Minuten später riss ein stotterndes, gelbes Licht, das in ihrer Wohnung blinkte, Cheyenne aus ihrer konzentrierten Lektüre. »Was war das?«
»Das war eine Fae, die richtig gezaubert hat.« Ember pustete auf ihre Fingerspitzen und schüttelte ihre Hand aus. »Gleich beim ersten Versuch.«
»Wenigstens wissen wir, dass deiner Prahlerei Taten folgen.«
»Hey, tu nicht so, als wärst du nicht beeindruckt.«
»Ich bin beeindruckt, Em.« Cheyenne schaute sich in ihrer Wohnung um und hob die Augenbrauen. »Und was genau war der Zauberspruch?«
»Ich habe es dir gesagt. Ein Stolperdraht. Oder so ähnlich.« Ember las sich die Zauberanweisungen noch einmal durch, um sich zu vergewissern, und nickte dann. »Ja. Um die ganze Wohnung herum, aber ich kann ja nicht einfach auf den Flur gehen und das Ding dort auslösen. Vor allem, wenn er Kameras auf dem Flur hat.«
»Das hat er wahrscheinlich. Zeig mal her.« Ember überreichte den Zauberspruch in Maleshis Handschrift und Cheyennes Augen weiteten sich. »Wir haben keine dieser Zutaten, Em.«
»Ich weiß.«
»Warum bist du dir dann so sicher, dass es funktioniert hat?«
Ember bedeutete der Halbdrow, ihr das Zauberspruchblatt zurückzugeben und sie nahm es wieder an sich, bevor sie es zu einem neuen Stapel von Zaubern legte, die sie ausprobiert und erfolgreich gewirkt hatte. »Ich habe ihn auf den Schutzzauber gebaut, den deine superlustigen Freunde aufgestellt haben.«
»Hm.« Cheyenne sah die Wände und reckte ihren Hals, um das O’gúl-Hornissennetz anzusehen, das über die Seite des Minilofts baumelte. »Das war eine gute Entscheidung.«
»Ja, ich weiß.« Ember verschränkte die Arme, amüsiert über die Überraschung der Halbdrow, und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Ich kann nicht sagen, ob der Zauber auch ohne die Zutaten oder mit dem Schutzwall als riesige Batterie funktioniert hätte, aber ich weiß, dass er so funktioniert hat, wie ich ihn gemacht habe. Ich kann es fühlen.«
»Okay. Wir haben schon einmal Entscheidungen nur auf meinem Gefühl basierend getroffen.«
»Ganz genau. Im Grunde wird alles, was sich außerhalb unserer Wohnung bewegt, einen Alarm auslösen. Da die Wächter aktiv gegen grabende Maschinenkäfer und fliegende Spionage-Dingsbums vorgehen, wird die einzige Bewegung, die wir mitbekommen sollten, draußen im Flur sein.«
»Und was dann?«
Ember zuckte mit den Schultern. »Dann geht eine Art Alarm los. Ich schätze, ein paar helle, blinkende Lichter, vielleicht ein oder zwei Warnknalle. Ich habe nicht herausgefunden, wie ich den Alarm an mein Handy schicken kann.«
»Sehr witzig. Es ist ja nicht so, dass wir irgendwo sein müssen, bis er zurückkommt, oder?«
»Ernsthaft? Wir waren erst vor ein paar Stunden im Wald. Aber unabhängig von der ganzen Zeremonie-Sache – wir wurden einfach überfallen.«
Cheyenne hob einen Finger in Richtung ihrer Freundin. »Erfolglos überfallen.«
»Das heißt aber nicht, dass es nicht passiert ist. Wenn du mir das Zauberbuch nicht gegeben hättest, würde ich mir jetzt sowas von eine neue Serie ansehen.«
»Ich bin froh, dass ich dich mit einer konstruktiven Ablenkung versorgen konnte.«
Ember kicherte und schnappte sich die Fernbedienung vom Couchtisch. »Ja, aber jetzt bin ich zu sehr abgelenkt, um über unser bevorstehendes Gespräch mit Matthew nachzudenken. Er scheint einfach wirklich ein echt …«
»Wenn du ihn heute noch einmal als netten Kerl bezeichnest, werde ich erst Löcher sprengen und dann Fragen stellen.« Cheyenne drehte langsam den Kopf, um ihrer Freundin einen durchdringenden Blick zuzuwerfen.
»Eine überaus freundliche Person also.« Ember rümpfte die Nase und hob die Fernbedienung, um sie auf den Tisch neben der Eingangstür zu richten. Der Mechanismus brachte ihren riesigen Flachbildfernseher mit einem leisen Summen zum Vorschein. »So, jetzt brauche ich eine Ablenkung von dieser Ablenkung. Hast du irgendwelche Wünsche?«
»Abendessen.« Cheyenne schob sich aus dem Sessel und machte sich auf den Weg in die Küche.
Ember lachte und blickte konzentriert auf den Fernseher, wo sie sich durch ihre Bingeing-Optionen klickte. »Ich glaube, unsere Vorräte gehen zur Neige.«
»Wir sind noch nicht einmal eine Woche hier.«
»Und niemand würde beim Anblick dieser Halbdrow glauben, wie viel Essen sie wegstecken kann.«
Als sie den Kühlschrank öffnete, sagte Cheyenne: »Wir haben saure Gurken.«
»Gönn dir.«
»Oder wir bestellen etwas.«
Ember lächelte übermütig und schnappte sich ihr Wasserglas, um den Rest davon zu trinken. »Jetzt verstehen wir uns.«
* * *
Vierzig Minuten später, mitten in einer Orphan Black -Folge, von der Ember geschworen hatte, dass sie Cheyenne gefallen würde, blitzte rechts neben der Haustür ein helles, gelbes Licht auf. Cheyenne blickte auf die Wand. »Hast du das gesehen?«
»Was gesehen?«
»Ein Licht.«
Ein schriller Alarm schallte durch ihre Wohnung. Cheyenne reagierte und schlüpfte sofort in Drowgestalt. Ihr schwarzes Haar verwandelte sich augenblicklich in ein strahlendes Weiß, während ihre Haut von der Bleiche eines Goth-Mädchens in das Grau einer Halbdrow überging.
Ember zuckte in ihrem Stuhl zusammen und presste sich beide Hände auf die Ohren. »Was zum Teufel ist das?«
»Du bist diejenige, die den Alarmzauber gesprochen hat!«
»Scheiße.« Ember lehnte sich weit über die Seite ihres Stuhls und blätterte durch die Seiten mit den Zaubersprüchen, bis sie den gewünschten fand. Sie überflog die Seite, als das Heulen noch lauter wurde.
Cheyenne verzog das Gesicht. »Mach das aus, Em!«
»Ich versuch’s ja. Halt die Klappe.« Embers Finger bewegten sich nach dem vorgegebenen Muster, um den Alarm zu deaktivieren, der abrupt abbrach.
Schwer atmend in der plötzlichen Stille, schaute die Halbdrow ihre Freundin an und legte den Kopf schief. »Sieht so aus, als hätte der Mittelfinger für die O’gúleesh, die diese Zaubersprüche geschrieben haben, eine ganz andere Bedeutung, was?«
»Nein, der ist nur für dich.« Ember blinzelte. »Hör auf, mich anzuschreien.«
Cheyenne verdrehte die Augen und versuchte, nicht zu lachen. »Es gab keine andere Möglichkeit für dich, mich zu hören .«
Ein lautes Klopfen ertönte an der Haustür und die Halbdrow sprang auf.
»Glaubst du, er hat den Alarm gehört?«, fragte Ember und vergaß, weiterhin den Mittelfinger zu zeigen, als Cheyenne zur Tür ging. Sie steckte sich das dünne, silberne Armband ans Handgelenk und sah innerhalb von Sekunden wie ein normaler Mensch aus.
»Das ganze Gebäude hat es wahrscheinlich gehört. Aber warum zum Teufel sollte er an unsere Tür klopfen?« Cheyenne blickte durch den Türspion in den Flur, stöhnte und schlüpfte wieder aus ihrer Drowgestalt. »Weil es nicht Matthew ist.«
»Was ?« Ember lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wer zum Teufel ist es?«
Als sie den Riegel zur Seite schob und das Schloss im Türknauf entriegelte, drehte sich die Halbdrow kurz um und murmelte: »Der Pizzatyp.«
»Mein Gott.« Die Fae erschlaffte in ihrem Stuhl und brach in Gelächter aus, als Cheyenne langsam die Tür öffnete.
»Genau pünktlich.«
Der Junge, der im Flur vor ihrer Wohnung stand, starrte die irrsinnig lachende Ember an. »Lieferung für Cheyenne.«
»Ja. Warte mal.« Sie holte ihren Rucksack, der neben der Couch auf dem Boden lag, zog einen Zehn-Dollar-Schein aus ihrem Geldbeutel und reichte ihn dem Jungen.
Jetzt starrte er sie an. »Du hast schon bezahlt.«
»Und das ist dein Trinkgeld.« Cheyenne streckte ihre Hände nach der Pizza aus und Ember brach erneut in Gelächter aus. »Komm schon, Mann. Nimm mein Essen nicht als Geisel.«
»Entschuldigung. Richtig. Entschuldigung.« Der Junge zog den dampfenden Pizzakarton aus der Tasche, die über seiner Schulter hing, und reichte ihn weiter. »Danke für das Trinkgeld.«
»Danke für die Pizza.« Cheyenne schloss die Tür, bevor er weggehen konnte und drehte sich um, um Ember anzuschauen. »Der Pizzabote.«
»Der Pizzabote!« Die Fae lachte herzhaft und klopfte sich auf den Oberschenkel. »Und wir waren … du warst so …«
»Ja, du auch.« Lachend trug Cheyenne die Schachtel zum Couchtisch und wischte mit einer Hand die verstreuten Papiere weg. »Der Kerl dachte wahrscheinlich, ich wäre deine Pflegerin, so wie du gerade durchdrehst.«
»Das wäre nicht das erste Mal.« Ember lachte wieder, schlug beide Hände vor den Mund und kicherte weiter, während die Halbdrow das Essen öffnete.
»Willst du daran arbeiten, die Lautstärke ein wenig zu reduzieren?«
»Vom Fernseher? So laut ist er nicht.«
»Von dem Alarm .«
Ember riss ihren Kopf hoch, um Cheyennes Blick zu begegnen. »Der Alarm!« Sie brach wieder in Gelächter aus.
Kichernd schob Cheyenne den Pizzakarton näher zu ihrer Freundin und schüttelte den Kopf. »Das ist schlimmer, als als du dieses Fae-Dingsbums im leeren Fass getrunken hast.«
»Was?« Ember stieß ein spöttisches Schnaufen aus. »Wir haben noch keine einzige Flasche geöffnet, seit wir hier eingezogen sind.«
»Nein, du warst zu sehr damit beschäftigt, die ganzen Kartons zu öffnen.« Die Halbdrow zog ein Stück weiche Pizza heraus und schob die Schachtel in Richtung Ember, nachdem die Fae sich wieder zusammengerissen zu haben schien.
»Wir sind nicht offiziell eingezogen, wenn wir noch nicht darauf angestoßen haben.«
»Bitte. Wir haben bereits alles außer den sauren Gurken gegessen, du wurdest im Schlaf angegriffen und eine Bande von O’gúleesh-Rebellen haben das Haus mit Schutzmauern umgeben. Ich würde sagen, es ist offiziell.«
Ember schmatzte mit den Lippen und griff nach einem Stück. »Das ist Haarspalterei. Das hier ist auf keinen Fall schlimmer, als wenn ich in Peridosh trinke, was auch immer du damit andeuten willst.«
»Ich will damit sagen , dass sich die Fae vielleicht von ihrer Magie betrinken. Schon mal daran gedacht?«
Ember erstarrte mit dem Mund voller Pizza und runzelte die Stirn. Dann zuckte sie mit den Schultern, schnappte sich die Fernbedienung aus ihrem Schoß und drehte die Lautstärke auf.