Kapitel 8

A m nächsten Morgen schlurfte Cheyenne aus ihrem Schlafzimmer, rieb sich die Wangen und versuchte auf dem Weg ins Bad, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Sie hielt inne, als sie Ember am Ende des Couchtisches sitzen sah, auf dem drei verschiedene Seiten des Zauberbuchs ausgebreitet waren. »Hast du da die ganze Nacht gesessen?«

»Was? Oh.« Ember gähnte, schüttelte den Kopf und blinzelte schnell. »Nö. Ich bin früh aufgestanden, weil ich nicht zu spät anfangen wollte, schätze ich.«

»Mit diesem Illusionszauber für mich?«

»Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn ich all diese Zaubersprüche kombiniere, wird das ziemlich genau das machen, was du willst.«

Cheyenne schüttelte den Kopf und ging weiter in Richtung Badezimmer. »Ich weiß nicht, wie du dir das ansehen und im Kopf zusammensetzen kannst.«

»Ist das dein Ernst? Es ist so, als ob man ein paar Schichten Code hinzufügt oder zusätzliche Ebenen in einem Stylesheet. Nur mit Magie.«

»Wir können einfach festhalten, dass wir das sehr unterschiedlich auffassen. Aber ich schätze es sehr, dass du weißt, was du tust.« Die Halbdrow trat ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Kaum war sie wieder draußen, sah sie Ember vor sich, die geradezu strahlte und ihre Hand in die Luft reckte. »Tada!«

»Was?«

Ember wackelte mit den Ohrringen, die an ihren Fingern baumelten und hob die Augenbrauen. »Dein eigener Illusionszauber.«

Cheyenne lachte laut auf. »Und du hast diese Ohrringe ausgesucht?«

»Was? Komm schon, die sind süß.«

»Ich dachte, Lila wäre deine Farbe, aber okay.«

Ember verdrehte amüsiert die Augen und betrachtete die fünf Zentimeter großen Ohrringe, die funkelten, als sie sie erneut hochhielt. »Nun, ich habe sie in den von dir gewünschten Zauber verwandelt, also bekommst du sie. Gern geschehen.«

»Danke, Em.« Cheyenne streckte ihre Hand aus und die Ohrringe fielen in ihre offene Handfläche. »Lila und glitzernd.«

»Sei einfach still und zieh sie an. Wenn du so besorgt bist, dass ein Paar Ohrringe deinen Stil stören, dann bind deine Haare nicht hoch, dann sieht es keiner.«

»Das ist ironisch.« Cheyenne entfernte die silbernen Ohrstecker von ihren Ohrläppchen und setzte die verzauberten Ohrringe an ihren Platz. »Es ist immer etwas mit den Ohren.«

»Ja, denn spitze Drowohren zu verstecken, damit die Leute nicht merken, dass du ein Halbwesen bist, ist genau das Gleiche wie ein Paar funkelnde Ohrringe zu verstecken? Glaubst du, die Leute nehmen dein Goth-Sein nicht so ernst, wenn sie sehen, dass du die trägst?«

»Nein. Ich stehe nur nicht auf Glitzer, aber das ist in Ordnung. Schau, ich trage sie.«

»Aha.« Ember verschränkte die Arme und beobachtete, wie Cheyenne unbewusst ihr schwarz gefärbtes Haar um ihr Gesicht zog, um ihre Ohren zu verbergen. »Das Einzige, was zählt, ist, ob sie funktionieren, also los.«

»Genau.« Cheyenne rief ihre Drowmagie auf, deren heißer Strom von der Basis ihrer Wirbelsäule aus nach oben schoss. Sie blickte auf ihre Hände, die immer noch so blass und menschlich aussahen wie eh und je. »Es fühlt sich an wie damals, als ich den Anhänger hatte.«

»Im Ernst, versuch es mal mit Magie. Aber nur etwas Kleines. Du weißt schon, für den Fall, dass ich einen Teil des Zaubers übersehen habe.«

»Du bist dir da nicht sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher. Ich meine ja nur.« Ember zuckte mit den Schultern und sah Cheyennes offene Handflächen erwartungsvoll an. »Los.«

Cheyenne zauberte einen Schwall lilafarbener Funken aus ihren Fingerspitzen und grinste. »Das ist ganz anders als mit dem Anhänger.«

»Ganz genau.« Ember rieb ihre Hände aneinander und nickte. »Okay, versuch etwas anderes.«

Die violettfarbenen Funken flackerten in Cheyennes Hand auf, bevor sie durch eine funkelnde Kugel aus schwarzer Energie ersetzt wurden. Die Magie zischte in ihrer Handfläche und beleuchtete ihr blasses, menschlich aussehendes Gesicht mit violett-schwarzem Licht. »Das ist seltsam.«

»Ja, aber es ist so cool. Es sieht so aus, als hätte ich es gerade geschafft, drei Zaubersprüche zu deinem maßgeschneiderten Illusionszauber zu kombinieren.« Das Fae-Mädchen klopfte auf die Armlehnen ihres Stuhls. »Du bist eine Halbdrow, die sich ziemlich glücklich schätzen kann, weißt du das?«

»Im Vergleich zu vor ein paar Wochen, ja. Ich würde sagen, ich habe es ziemlich gut.« Cheyenne löschte die Energiekugel. »Im Ernst, Em, danke. Das wird alles viel einfacher machen.«

»Das will ich ja wohl hoffen. Du kannst es mir zurückzahlen, indem du Kaffee kochst.«

»Ha. Abgemacht.« Cheyenne machte sich auf den Weg in die Küche, blieb aber stehen, als sie ihr Handy in ihrem Schlafzimmer summen hörte. »Verdammt.«

»Was?«

»Anruf. Dann mache ich Kaffee. Versprochen.« Die Halbdrow schlich um die Möbel herum in Richtung ihres Zimmers.

»Ich bin immer wieder überrascht, dass man die Hälfte von dem, was du hörst, überhaupt hören kann.«

»Es ist eine Gabe und ein Fluch zugleich«, rief Cheyenne, als sie durch die Tür eilte und ihr Handy vom Nachttisch nahm, um den Anruf entgegenzunehmen. »Corian. Hey.«

»Es hat sich herausgestellt, dass der Geschäftsinhaber, den du vertrittst, uns überwiegend gute Informationen gegeben hat.«

»Scheiße.« Sie drehte sich und schritt durch ihr Schlafzimmer. »Was ist passiert?«

»Wir haben gestern Abend bei allen drei Adressen zugeschlagen. Wer auch immer dieser Typ ist, er muss seine Unterlagen aktualisieren, denn die erste Wohnung wurde abgerissen.«

»Was ist mit den anderen?«

Corian antwortete: »Nicht viel besser. Wir haben ein paar zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände gefunden, aber alles andere wurde eingepackt und woanders hingebracht. Keine Ahnung, wohin. Anscheinend dachte Syno, es wäre super lustig, den Ort mit einem Haufen Fallen auszustatten.«

»Ihr wurdet angegriffen.«

»Ja. Ein paar Mauern, die leicht zu zerstören waren und eine Handvoll Maschinen. Sie haben sich aber nicht sonderlich gewehrt. Persh’al glaubt, dass sie so programmiert wurden, dass sie auf jeden reagieren, der das Gebäude betritt. Es sah nicht so aus, als ob sie einen aktiven Feed hätten, der irgendetwas an denjenigen sendet, der sie bedient, aber wir wissen es nicht genau. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein Fan der zusätzlichen Information bin, die du in deiner Nachricht über die Verbindung des Firmeninhabers zu deinen anderen Freunden in Schwarz geschickt hast.«

Ja, das ist mal ein Name für die FRoE. »Er sagte, es sei sein Onkel.«

»Wie auch immer, wenn die Verbindung zwischen dieser Organisation und Syno tiefer geht als eine einmalige geschäftliche Transaktion vor ein paar Jahren, wird das die Sache für uns noch viel schwieriger machen. Wir müssen es noch einmal versuchen.«

»Das tun wir. Wir werden es noch einmal versuchen, wenn ich mit meiner Vorlesung heute Morgen fertig bin.«

»Cheyenne!«

»Nö. Ich sage dir nicht, wo der Firmeninhaber wohnt und überlasse es dir, das auf deine Weise zu regeln, wenn ich nicht da bin. Ich habe gesehen, was mit magischen Wesen passiert, wenn man es noch einmal versucht, und das will ich dieses Mal wirklich vermeiden. Wir werden gemeinsam mit ihm reden, wenn ich zurück bin.«

»Was ist, wenn er uns immer noch nicht gibt, was wir brauchen?«

»Dann werden wir einen anderen Weg einschlagen, klar. Aber das wird nicht die erste oder gar zweite Option sein, okay?«

Es gab eine lange Pause in der Leitung, gefolgt von Corians leisem Lachen. »Du wirst immer besser darin.«

»Worin?«

»Antworten, statt zu reagieren. Das ist gut. Ruf mich an, wenn du nach der Uni nach Hause kommst, Professorin Summerlin.«

»Wie auch immer.« Mit einem Seufzen beendete Cheyenne das Gespräch und ging zu ihrer Kommode, um nach Kleidung zum Wechseln zu suchen.

Ember blieb in der Tür stehen. »Was ist passiert?«

»Anscheinend dachte Syno, es sei ein guter Zeitpunkt, seine Gebäude zu räumen und eine Reihe von Fallen für alle aufzustellen, die dort herumschnüffeln wollen.«

»Das ist nicht gut.«

»Nö.« Cheyenne zog sich schnell um, zerrte ihre Haare unter dem Kragen eines schlichten, schwarzen T-Shirts hervor und durchquerte erneut ihr Zimmer, um die Taschen der Hose zu durchsuchen, die sie ein paar Tage zuvor getragen hatte. »Wenn ich von der Vorlesung zurückkomme, werden wir Matthew noch einmal einen Besuch abstatten.«

»Warte, Corian glaubt doch nicht, dass Matthew uns angelogen hat, oder?«

»Nein, er sagte, die Informationen seien größtenteils gut. Nur nicht gut genug.« Cheyenne fand einen Zettel, faltete ihn auseinander und ließ ihre Hose wieder auf den Boden fallen. »Aber das Timing scheint ein bisschen zu perfekt zu sein.«

»Matthew hätte Syno nicht kontaktiert, um ihn zu warnen. Er meinte, dass er den Kerl nicht mag.«

Mit einem Achselzucken nahm Cheyenne ihr Mobiltelefon wieder in die Hand und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand. »Ich hoffe nicht, Em. Aber das können wir erst wissen, wenn wir noch einmal mit Matthew gesprochen haben.«

»Ich komme auch mit.«

Die Halbdrow sah von ihrem Handy auf, begegnete dem Blick des Fae-Mädchens und nickte. »Ja. Natürlich.«

»Okay. Gut.« Ember deutete mit einem Nicken auf das Papier in Cheyennes Hand. »Was ist das?«

»Maleshis Nummer. Wir kennen uns jetzt wirklich schon seit einer Weile und sie hat mir ihre Nummer erst vor ein paar Tagen gegeben.«

»Was sollte sie darüber wissen?«

»Keine Ahnung. Ich hoffe nur, dass sie ein Auge auf Corian werfen kann, damit er nicht versucht, Matthew zu finden, bevor ich zurück bin. Das würde ich ihm zutrauen.«

»Hm.« Ember drehte sich von der Tür weg und runzelte die Stirn. »Ich werde Kaffee kochen gehen.«

»Oh, Entschuldigung.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich habe im Moment nichts anderes zu tun und ich brauche Koffein.«

Während Ember in die Küche rollte, stellte Cheyenne den Anruf zu Maleshi durch und wartete auf eine Antwort.

»Hallo?«

»Hey, ich bin’s, Cheyenne.«

»Oh.« Maleshi räusperte sich. »Was ist los?«

»Nichts Unmittelbares. Hast du von diesem Syno-Typen gehört, der …«

»Die Kontrolle über ein paar Kriegsmaschinen und einen Deal mit jemandem hat, der offenbar in deinem Wohnhaus wohnt? Ja. Ich habe alles darüber gehört. Corian hat mir ganz schön viel erzählt.«

»Ja, er war gestern Abend bereit, ein paar Köpfe einzuschlagen.« Cheyenne ging aus ihrem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. »Wenigstens habe ich ihn so weit beruhigt, dass er stattdessen in diese Gebäude gehen konnte.«

»Hast du mich angerufen, um darüber zu reden oder gibt es noch etwas anderes?«

Okay, unvermittelt und auf den Punkt. Verstanden. »Ich wollte nur wissen, ob du gehört hast, was passiert ist oder ob du irgendwelche anderen Informationen hast. Und keine Ahnung, aber du kannst Corian vielleicht besser davon überzeugen, nicht durch die Wohnungstüren zu stürmen und nach diesem Kerl zu suchen.«

»Nun, wenn er dir gesagt hat, dass er das nicht tun wird, wäre ich sehr überrascht, wenn er sein Wort zurücknehmen würde. Das ist nicht seine Art, unabhängig davon, was du davon hälst, wie wir mit Leuten umgehen, die uns in die Quere kommen.«

Cheyenne seufzte. »Okay. Was kommt jetzt?«

»Abgesehen davon, dass wir uns später neu gruppieren, um bessere Informationen zu bekommen?« In der Leitung raschelte es, als Maleshi schnell ihre Aktentasche schloss. »Ich werde heute meine Vorlesungen wie jeden anderen Freitag halten, Cheyenne. Das solltest du auch tun. Wir spielen das Spiel jetzt auf beiden Seiten, denn deine streng geheimen Freunde sind vielleicht mehr in die Sache verwickelt, als wir ihnen zugetraut haben.«

»Ich weiß, aber das haben wir noch nicht herausgefunden.«

»Das heißt aber nicht, dass wir nicht vorsichtig sein müssen. Jeder Fehler unsererseits, der diesen Syno oder diesen schuppigen Taratas oder wen auch immer auf den Plan ruft, bevor die Zeit reif ist, ist ein gefährlicher Fehler, den wir uns nicht leisten können. Also komm zum Campus, halte deine Vorlesung und dann sehen wir weiter.«

»Genau. Gut, dass ich vorhatte, dort aufzutauchen.«

»Das ist eine gute Wahl, denn so bleibst du für den Studiengang eingeschrieben.« Maleshis leises Lachen drang durch die Leitung.

»In Ordnung. Ich denke, wir sprechen uns später.«

»Ja.« Die Nachtpirscher-IT-Professorin legte ohne ein weiteres Wort auf und Cheyenne steckte ihr Handy in die Gesäßtasche.

»Irgendwelche mächtigen Erkenntnisse von der Generalin?«, rief Ember neugierig aus der Küche, als der Geruch von kochendem Kaffee den verstärkten Geruchssinn der Halbdrow traf.

»So ziemlich das Gleiche. ›Warte. Warte noch ein bisschen. Lass die Dinge so weiterlaufen wie bisher, bis wir mehr Informationen haben und keine andere Wahl, als sofort etwas zu tun‹.«

»Und das schließt sie ein?«

»Ja.« Cheyenne hob ihren Rucksack vom Boden neben der Couch und stellte ihn auf die Armlehne, um sicherzugehen, dass sie alles Nötige dabeihatte. »Auch wenn die O’gúl-Kriegsmaschinen den Ort zerreißen und überall neue Portale auftauchen, meldet sich Generalin Hi’et als College-Professorin zum Dienst.«

Ember schmunzelte, schenkte die erste Tasse Kaffee ein und wartete darauf, dass der Rest weiterbrühte. »Sie hat sich einen der letzten Berufe ausgesucht, die man von einer O’gúleesh-Legende erwarten würde.«

»Es ergibt aber Sinn.« Cheyenne nahm dankbar die erste Tasse Kaffee, als Ember sie ihr anbot. »Sie weiß, wie die O’gúl-Technik dort drüben funktioniert. Nachdem ich gesehen habe, was ihr Zeug auf der anderen Seite anrichten kann, ja. Mit menschlicher Spitzentechnologie zu arbeiten, ist wie mit Babyspielzeug zu spielen. Hey, guter Kaffee. Danke.«

»Ja.«

Cheyenne durchstöberte die Speisekammer. »Wir brauchen Lebensmittel.«

»Ich werde Lebensmittel bestellen. Willst du irgendetwas Bestimmtes?«

»Nur Essen.« Die Halbdrow nahm einen weiteren Schluck Kaffee und schaute auf die Uhr über dem Herd. »Scheiße, ich muss los.«

»Fünfundvierzig Minuten zu früh?«

»Ich werde nicht mit leerem Magen vor einem Haufen skeptischer Studierender einen Vortrag halten. Ich muss Zeit für ein Frühstück einplanen. Das war viel einfacher, als ich noch in der Nähe einer Tankstelle gewohnt habe, wenn ich darüber nachdenke.« Sie nahm drei große Schlucke des dampfenden Kaffees, dann stellte sie die Tasse auf den Tresen und holte ihren Rucksack.

Ember warf einen Blick auf den noch kochenden Kaffee, dann schnappte sie sich Cheyennes halbvolle Tasse und fing an, zu trinken. »Bitte sag mir, dass das wirklich das Einzige ist, was du an deiner alten Wohnung vermisst.«

»Eigentlich ist da noch etwas.« Die Halbdrow holte ihren schicken, neuen Trenchcoat aus dem Schrank neben der Eingangstür und zog ihn achselzuckend an. »Ich hatte da drüben auch bessere Nachbarn.«

Weil Ember beinahe den ganzen heißen Kaffee herausgeprustet hätte, schluckte sie ihn in einem Zug herunter, woraufhin sie das Gesicht verzog und gleichzeitig lachte. »Na gut.«

»Apropos Nachbarn.« Cheyenne setzte ihren Rucksack auf und zeigte auf ihre Freundin. »Denk nicht einmal daran, Matthew noch einen Besuch abzustatten, ohne dass ich dabei bin.«

»Bitte.« Ember verdrehte die Augen. »Ich will im Moment nicht mit ihm allein sein. Oder überhaupt bei ihm, ehrlich gesagt. Wir sehen uns später.«

»Ja.« Cheyenne schlüpfte durch die Eingangstür und schloss sie hinter sich ab. Bevor sie den Flur entlang zu den Aufzügen ging, warf sie einen kurzen Blick auf Matthew Thomas’ Haustür und runzelte die Stirn. Wir werden früh genug zurück sein.