Kapitel 16

U m 18:30 Uhr hatte Cheyenne genug. »Warum will er mir keine klare Antwort geben? Ja oder nein. Wie schwer ist das?«

Ember aß den letzten Rest des Hühnchenauflaufs, den es zum Abendessen gab, und stellte ihren Teller auf den Couchtisch. »Vielleicht, weil du ihm in den letzten vier Stunden ununterbrochen Nachrichten geschrieben hast.«

»Es sind schon viel mehr als vier Stunden vergangen.« Cheyenne scrollte durch ihre Nachrichten an Persh’al und rümpfte die Nase. »Okay, ich habe also das Zeitgefühl verloren.«

»Du machst die Sache nicht einfacher, wenn du ihn so nervst.«

»Ich bin diejenige, die ihn nervt?« Die Halbdrow lachte trocken. »Das glaube ich nicht. Wenn er aufhören würde, mir halbherzige Antworten zu geben, die mir nichts bringen, würde ich aufhören zu fragen.«

Ihr Handy surrte mit einer neuen Nachricht und sie öffnete sie sofort.

Wir haben es im Griff. Positive Ergebnisse. Ich versuche zu arbeiten, also lass mich in Ruhe.

»Was steht da?«

Cheyenne ließ ihr Handy in ihren Schoß und schlug den Kopf auf das Kissen des voll ausgezogenen Sessels. »Er denkt, er sei besser als ich, weil er ein Lagerhaus in DC hat und weiß, wie man magische Frequenzen aufspürt.«

Ember stieß ein Lachen aus. »Das hat er nicht gesagt.«

»Das kannst du gar nicht wissen.«

»Okay. Gib mir dein Handy.«

»Was? Nein. Ich brauche es.«

Ember streckte ihre Hand aus und bedeutete der Halbdrow, ihr das Handy zu geben. »Nicht jetzt. Wenn es klingelt, wirst du es hören, aber du musst Persh’al in Ruhe lassen und versuchen, an etwas anderes zu denken.«

Cheyenne sah sie ausdruckslos an. »Hast du mir gerade gesagt, dass …?«

»Ja. Komm schon.«

»Nein.«

»Cheyenne, gib mir das verdammte Handy. Ich habe es nämlich schon satt, dass du ihm ständig Nachrichten schreibst.«

Die Halbdrow lachte und schüttelte den Kopf. »Danke, Mama, aber wenn ich den Troll ärgern will, ist das meine Sache.«

Ember seufzte und zeigte auf das Handy. Es leuchtete in violettfarbenem Licht auf und flog in ihre ausgestreckte Hand.

»Woah, hey! Nicht cool.«

»Stimmt.«

»Ember.«

Das Fae-Mädchen klemmte das Handy zwischen ihre Knie und zeigte darauf. »Siehst du? Ich werde nicht darin rumschnüffeln.«

»Oh, ja. Das war meine größte Sorge, dass du etwas finden könntest, was ich dir nicht zeigen wollte.«

»Wie auch immer. Es ist hier. Du musst aufhören, dich zu quälen.«

Cheyenne blickte starr auf das Handy und biss die Zähne zusammen. »Du weißt, dass ich auch Magie habe, oder?«

»Ja. Du hast nicht einmal versucht, sie zu benutzen, also denke ich, dass du wolltest, dass jemand dein Handy an sich nimmt. Ist schon okay, du musst mir nicht danken. Deine beste Freundin zu sein, ist ein Vollzeitjob.«

Cheyenne schloss die Augen und lachte. »Dazu habe ich nichts zu sagen.«

»Gern geschehen.«

Die Halbdrow versuchte, dem dritten Film in Folge ihre Aufmerksamkeit zu schenken, konnte sich aber nicht dazu aufraffen. »Ich verstehe nicht, wie so viele Leute den ganzen Tag damit verbringen können, sich so etwas anzusehen. Wird dir nicht langweilig?«

»Nö.« Ember schnippte mit den Fingern. »Ich hätte aber gerne Popcorn.«

»Du hast Popcorn auf die Einkaufsliste gesetzt?«

»Es ist zwar nur eine verdammt riesige Tüte, aber es ist Popcorn und es erspart mir die ganze Arbeit, es selbst zu machen.«

»Ja. Eine Tüte in die Mikrowelle zu stecken, ist ein komplizierter Vorgang. Das erfordert echtes Geschick.«

Ember legte den Kopf schief und warf ihrer Freundin einen enttäuschten Blick zu. »Das ist nicht so cool wie das hier.« Sie hob den Finger und ein lilafarbenes Licht blitzte in der Küche auf. Die Schranktür öffnete sich mit einem Knall und eine riesige, wiederverschließbare Tüte Popcorn segelte durch die Wohnung und fiel neben ihr auf die Couch. Ember blickte auf die Tüte hinunter und zuckte mit den Schultern. »Okay, ich wollte eigentlich, dass es auf meiner Hand landet, aber die Couch passt auch.«

»Du wirst kreativ.«

Die Tasche raschelte und quietschte, als Ember sie aufzog und ihre Hand hineinschob. »Aus der Not heraus, Drow. Warum soll ich mich den ganzen Weg in die Küche quälen, wenn ich die Snacks mit Magie zu mir bringen kann?«

»Darauf habe ich keine Antwort. Außerdem ärgere ich mich ein bisschen darüber, dass ich nie daran gedacht habe, meine Magie für schwebende Popcorntüten zu nutzen oder dafür, die Handys anderer Leute zu stehlen.«

»Du warst ein bisschen beschäftigt. Ich verstehe das.« Ember stopfte sich eine Handvoll Popcorn in den Mund. »Willst du auch was?«

»Nein, danke.« Cheyenne stellte den Sessel in seine normale Position zurück und stand auf. »Ich halte es nicht aus, mitten am Tag stundenlang vor mich hinzugammeln.«

»Es ist nicht viel anders, als wenn man die ganze Zeit vor einem Computerbildschirm sitzt.«

»Es ist definitiv anders, Em. Es ist nichts Falsches daran, wenn man manchmal sein Gehirn ausschalten und Dinge beobachten will, aber das ist nicht das, was ich am Computer mache.«

»Ach ja, richtig. Du beschäftigst dich mit all dem super wichtigen, streng geheimen Halbdrow-Hacker-Kram.«

»Ziemlich genau.«

Ember lachte und wandte sich wieder dem Fernseher zu. »Nun, lass dich nicht aufhalten.«

»Das hatte ich nicht vor.« Cheyenne stürmte ins Miniloft und ließ sich in den Sessel fallen. Wenn Persh’al mir nicht sagen will, was mit diesen maschinensteuernden Idioten los ist, muss ich mich einfach umsehen und schauen, ob noch jemand etwas mitbekommen hat. Genau wie Corian gesagt hat, oder? Folg der Spur .

Sie schnaubte und schaltete Glen ein, bevor sie auf den Einschaltknopf des Monitors drückte. Nachdem sie sich eingeloggt hatte, richtete sie ihr VPN ein, überprüfte ihre Sicherheitseinstellungen und loggte sich erneut ins Dark Web. Im Borderlands-Forum gab es dieses Mal nicht viel, was auch nur annähernd interessant war. Cheyenne scrollte durch einen lächerlichen Threadtitel nach dem anderen.

Ich brauche Hilfe bei einem Verfolgungszauber, um meinen Freund beim Fremdgehen zu erwischen.

Bitte beratet mich bei der richtigen Zubereitung von menschlichen Waffelkuchen.

Hat noch jemand diese Woche von Osnas Grog Durchfall bekommen?

»Verdammt.« Mit einem kurzen Lachen schüttelte sie den Kopf und scrollte weiter nach unten. Wenn das im Moment das größte Problem ist, sieht es so aus, als würde Corian seine Überfälle wirklich sehr g eheim halten und vorsichtig sein.

In der Ecke ihres Bildschirms wurde eine private Nachricht angezeigt. »Wer ist das?«

EyeSee4U: Ich habe etwas für dich. Schau einfach mal vorbei, wenn du Interesse hast.

Cheyenne zog die Augenbrauen zusammen. Wenn das so ein Arschloch ist, das mich anmachen will, hat er sich die F alsche im Darknet ausgesucht.

Sie betrachtete den unbekannten Benutzernamen und lehnte sich an die Reling. »Hey, Em.«

»Ja.«

»Kannst du mir meine Jacke zuwerfen?«

Ember blickte auf den Fernseher. »Willst du, dass die Fae im Rollstuhl deine Jacke für dich holt und sie auf den Dachboden wirft?«

»Wenn du das so sagst, klingt es, als wäre ich ein Arschloch.«

Der Trenchcoat hob sich in violettfarbenem Licht von der Rückenlehne der Couch und segelte nach oben in Richtung Miniloft, wo er vor Cheyennes Gesicht zum Stehen kam, wobei der dicke Stoff raschelte. Sie zog ihn langsam in ihren Schoß und sah Ember an. »Ich könnte jetzt viel sagen, aber ich möchte mich nur bei dir bedanken.«

Das Fae-Mädchen schnaubte. »Gern geschehen.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen entwirrte Cheyenne ihre Jacke und griff in die Tasche nach der Aktivatorspule. Dann hängte sie den Trenchcoat über die Reling und befestigte das technische Teil hinter ihrem Ohr. Sofort leuchtete ihr Monitor auf und Hunderte von Codezeilen liefen über ihr Blickfeld, doch sie konzentrierte sich nur auf die private Nachricht des anonymen, komischen Typen.

Dieses Ding hätte mir so viel Zeit erspart, wenn ich es für Corians blöde Schnitzeljagd gehabt hätte .

Cheyennes Finger bewegte sich automatisch in der Luft, während sie die verschiedenen Befehle auswählte, die der Aktivator ihr gab. In zwanzig Sekunden hatte das Ding eine Karte des zentralen Bereichs von Richmond aufgerufen und ein roter Punkt pulsierte über einem Gebäude, das sie erkannte.

»Ha. Anscheinend ist das Orakel für mehr als kryptische Prophezeiungen gut, wenn es das war.«

»Hm?«

»Nichts, Em.« Cheyenne rümpfte die Nase. Ich muss aufhören, mit mir selbst zu reden.

Sie wischte die Karte von Gúrdus Nachbarschaft in ihrer Vision beiseite und tippte eine Antwort an EyeSee4U.

ShyHand71: Ich wusste gar nicht, dass du weißt, wie man einen Computer benutzt, Raug.

Sie drückte die Eingabetaste und lehnte sich zurück. Die Antwort kam fast sofort.

EyeSee4U: Ich weiß eine Menge Dinge. Vor allem den Inhalt von ein oder zwei Nachrichten, von denen ich denke, dass du sie hören willst.

ShyHand71: Welche Art von Nachrichten?

EyeSee4U: Die Art, die persönlich übergeben werden muss. Kein Angebot nötig, Hidna. Nenn es ein Gratisgeschenk.

Cheyenne schmunzelte. Das Raug o rakel will mir eine kostenlose Prophezeiung geben.

ShyHand71: Ist das die Art von Nachricht, die warten kann oder haben wir ein Zeitlimit?

EyeSee4U: Das musst du selbst entscheiden. Ich bin nur der Bote.

Die Halbdrow nahm ihre Hände von der Tastatur und seufzte. Du hältst dich wohl für clever, was? Sie warf einen Blick auf Ember, die immer noch vor dem Fernseher saß und dann auf ihr Handy, das zwischen den Knien ihrer Freundin lag. »Scheiß drauf.«

ShyHand71: Dann mache ich mich auf den Weg zu dir.

EyeSee4U: D u weißt, wo du mich findest.

Das Nachrichtenfeld verschwand von ihrem Bildschirm, bevor sie es wegklicken konnte.

»Hm. Raug.« Cheyenne verließ das Borderlands-Forum, schloss den Dark-Web-Browser und ihr VPN und beschloss, Glen vorsichtshalber laufen zu lassen. Besser, ich synchronisiere ihn vorher.

Kaum hatte sie es gedacht, forderte der Aktivator sie auf, alle Alarme von Glen an eine einzige Nummer zu senden. Als das in weniger als zehn Sekunden erledigt war, nahm sie den Aktivator ab und verzog das Gesicht, weil es hinter ihren Augen zwickte. Sie schnappte sich ihre Jacke und ging die Treppe hinunter. »Em, kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Kommt drauf an.«

Die Halbdrow lachte überrascht. »Wenn du eine Nachricht von Glen bekommst, würdest du sie an mich weiterleiten?«

Ember riss sich vom Fernseher los, als Cheyenne ihren Trenchcoat anzog. »Was? Wo willst du denn hin?«

»Ich habe eine Einladung für eine kostenlose Raug-Prophezeiung bekommen.«

»Hat Corian nicht …?«

»Ja, das hat er, aber ich komme nicht damit klar, einfach nur rumzusitzen, ohne gehen zu dürfen.«

Ember warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Das machst du doch ständig.«

»Klar, aber es ist etwas anderes, wenn ich weiß, dass ich rausgehen kann, wann immer ich will. Ich bin kein großer Fan davon, eingesperrt zu sein.«

»Ich schätze, es gibt eine Sache, die nicht in der Drowfamilie liegt.«

Cheyenne zeigte auf ihre Freundin. »Lustig. Willst du mit mir kommen?«

»Einen Raug sehen? Nein, danke. Ich hatte genug Verrücktes für einen Tag.«

»Okay.« Cheyenne zog ihr Handy zwischen den Knien des Fae-Mädchens hervor und steckte es zielsicher in ihre Jackentasche. »Wie wäre es mit einem Zauber, der meine Magie unterdrückt, während ich unterwegs bin?«

Ember lächelte die Halbdrow an. »Liest du meine Gedanken oder lese ich deine?«

»Ich weiß es nicht. Das hängt davon ab, was du als Nächstes sagst.«

»Ich habe schon daran gearbeitet. Komm her.«

Cheyenne beugte sich zu ihrer Freundin hinüber und Ember holte mit ihrem Arm aus und verpasste der Halbdrow einen heftigen Schlag gegen den Oberarm. Ein Ausbruch von violettfarbenem Licht und kribbelnder Energie raste über Cheyennes Arm und Brust. Sie richtete sich auf und rieb sich den Arm. »Musstest du mir das unbedingt einprügeln?«

»Nein, der Klaps sollte dir Glück bringen und wir wissen beide, dass du wahrscheinlich nicht gehen solltest, aber ich kann dich nicht aufhalten. Übrigens, wenn du Magie einsetzt oder in den Drowmodus wechselst, ist der Zauber vorbei. Dann können magische Wesen dich finden.«

»Dann werde ich nichts benutzen.« Cheyenne lächelte breit. »Danke. Oh und übrigens, sag mir Bescheid, wenn du irgendwelche Benachrichtigungen bekommst, ja?«

»Von Glen?« Ember blickte auf die Rückseite des Computerturms im Miniloft. »Warum sollten sie bei mir ankommen?«

»Weil ich sie gerade mit deinem Handy synchronisiert habe.«

»Du hast auch ein Handy.«

Cheyenne legte den Kopf schief. »Ja, das weiß ich und es ist wieder in meinem Besitz, danke. Ich habe ein paar kleine Recherchen laufen. Nur ein paar Kleinigkeiten, die ich schnell zusammengestellt habe, für den Fall, dass etwas über die Kriegsmaschinen, ihre Betreiber und darüber, ob Corian das Problem in den Griff bekommen hat, herauskommt.«

»Ernsthaft? Du überwachst sie jetzt?«

»Ja. Wenn du mich über die Moral dieser Überwachung belehren willst, erinnere ich dich schnell daran, dass Corian mich mein ganzes Leben lang ausspioniert hat.« Cheyenne grinste. »Das ist nicht mal annähernd eine Heimzahlung für ihn.«

»Okay.« Ember schüttelte schnell ihren Kopf. »Aber warum hast du deinen schicken Computer mit meinem Handy verbunden?«

»Ich gehe raus, um eine Prophezeiung zu holen, Em. Irgendetwas sagt mir, dass ein unerwarteter Alarm die Stimmung ruinieren würde. Wer weiß? Vielleicht kommt er sogar dem in die Quere, was dieser Raug meint, dass ich hören sollte.« Cheyenne steckte die Hände in ihre Taschen und hielt inne. »Es sei denn, du bist total dage…«

»Stopp«, unterbrach Ember sie. »Ich werde deine Spionagewarnungen von dem Computer aus überwachen, den du Glen genannt hast.«

»Danke.«

»Warte, aber was ist, wenn es etwas Wichtiges gibt? Eine SMS würde dich genauso stören wie ein Alarm.«

»Stimmt.« Cheyenne spielte mit dem Schlüsselbund in ihrer Tasche und ging auf die Tür zu. »Aber ich vertraue auf dein Urteilsvermögen. Schreib mir nur, wenn es um Leben und Tod geht, okay? Ich meine, wenn überhaupt etwas auftaucht.«

Ember sah ihre Freundin blinzelnd an. »Warum habe ich das Gefühl, dass du das alles nur inszeniert hast, um mich vom Rest meines Filmmarathons abzulenken?«

Mit einem Lachen öffnete Cheyenne die Tür. »Ich vertraue dir. Irgendwie gefällt mir die Vorstellung, eine Fae als Komplizin zu haben, die für mich ein Auge auf die Dinge wirft.«

»Aha.«

»Und ja, vielleicht findest du ein anderes Hobby, das dir mehr Spaß macht, als den ganzen Tag Filme zu gucken.«

Ember zeigte auf sie. »Wenn ich den ganzen Tag Filme gucken will, dann gucke ich auch den ganzen Tag Filme. Ich bin ein erwachsener Mensch.«

»Stimmt. Dann betrachte es als Rache für den magischen Diebstahl meines Handys. Tschüss.« Cheyenne trat in den Flur und zog die Tür schnell hinter sich zu. Embers Lachen folgte ihr durch den Flur in Richtung der Aufzüge.