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A ls die Tür geöffnet wurde, sah Savannah durch ihre Lesebrille von ihren Unterlagen auf. Mit einem Lächeln begrüßte sie die neuen Gäste, die soeben das Hotel betraten.

«Guten Tag. Sie müssen die Hoovers sein.»

«Die sind wir», antwortete die junge Mutter, die ein wenig gestresst wirkte. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand und ein Baby auf dem Arm. Ihr Mann folgte ihr schwer bepackt mit einigen Koffern und Taschen und schien ziemlich aus der Puste zu sein. Sein Gesicht war knallrot angelaufen.

«Willkommen im Paradise Inn !», sagte Savannah und eilte um den Empfangstresen herum, um den Leuten etwas von ihrem Gepäck abzunehmen.

«Danke», sagten beide gleichzeitig. Mr. Hoover gab Savannah einen Koffer, und Mrs. Hoover reichte ihr den Rucksack, den sie an einem Riemen um die Schulter hängen hatte. Dann setzte die Frau das Baby auf den Tresen, was andere Hotelinhaber vielleicht nicht so prickelnd gefunden hätten, doch Savannah machte es nichts aus, ganz im Gegenteil. Sie liebte Kinder, konnte es selbst kaum erwarten, welche zu haben, und sie freute sich immer, in ihrer Nähe zu sein.

«Du bist ja ein süßer Fratz», sagte sie, nachdem sie das Gepäck neben dem Empfang abgestellt und sich zurück hinter den Tresen begeben hatte. «Wie heißt du denn?» Sie sah das Baby an, als könne es ihr antworten, doch das übernahm dann die Mutter.

«Der Kleine hier heißt Luther, und das ist Marjorie», gab Mrs. Hoover preis.

Luther und Marjorie? Savannah zuckte innerlich zusammen. Sie fragte sich immer, wie Menschen ihren Kindern heutzutage noch solche altmodischen Namen geben konnten. Wahrscheinlich waren die beiden nach ihren Groß- oder gar Urgroßeltern benannt – etwas, das Savannah ihren Kindern bestimmt nicht antun würde. Ihre Großeltern mütterlicherseits hießen Herbert und Gertrude, sie waren deutscher Herkunft. Wie so viele Einwohner von Lake Paradise hatte Savannah deutsche Wurzeln, auch wenn sie selbst noch nie in Deutschland gewesen war oder irgendwo sonst im Ausland. Als Pastorentochter war sie mit ihren Eltern so gut wie nie verreist, denn ihr Vater musste natürlich bei jedem sonntäglichen Gottesdienst anwesend sein. Mit zweiundzwanzig hatte sie dann geheiratet und gehofft, dass sie nun die Welt bereisen würde. Sie hatte von exotischen Urlauben und tollen Ausflügen zusammen mit ihrem Liebsten geträumt, doch wie mit vielem anderen war sie auch in dieser Hinsicht enttäuscht worden.

Inzwischen machte ihr das jedoch überhaupt nichts mehr aus, denn sie führte diese kleine Pension am Lake Paradise und hatte bereits Reisende aus fast allen fünfzig US -Staaten beherbergt und dazu sogar einige aus fernen Ländern. Von ihren Gästen bekam sie oft wundervolle Geschichten erzählt – über ihre Heimatstädte, über die Roadtrips, die sie machten, und über die Orte, die sie als Nächstes besuchen wollten. Ein bisschen nahm es Savannah das Fernweh, und manchmal fühlte es sich sogar an, als wäre sie dabei gewesen. Sie war dankbar für jede einzelne Story.

Manche Gäste mochten auch nichts über sich erzählen, und das war ebenfalls okay. Die Hoovers gehörten zu diesen Menschen, das spürte Savannah sofort, also stellte sie keine unnötigen Fragen, sondern versuchte ihnen lediglich einen Ort der Ruhe und Erholung zu schenken.

«Du siehst ja aus wie eine Prinzessin in deinem hübschen rosa Kleidchen», sagte sie zu der kleinen Marjorie, die nicht älter als vier sein konnte. Dann bat sie Mrs. Hoover um ihren Ausweis und ihre Kreditkarte.

«Einen Moment», sagte diese und versuchte, alles aus der Handtasche zu kramen, während sie weiterhin das Baby festhielt, damit es nicht vom Tresen fiel. Ihr Mann hatte sich erschöpft in einen der Sessel gesetzt und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab.

Savannah tippte die üblichen Angaben in den Laptop und sah anschließend wieder auf. «Vielen Dank, Mrs. Hoover. Ihr Zimmer ist gleich hier in der unteren Etage, es ist die Nummer 3.» Sie deutete zum Gang hinter den Sesseln. «Wie gewünscht, habe ich ein Gitterbettchen hineingestellt. Wenn Sie möchten, bieten wir ab siebzehn Uhr ein Abendessen an, es gibt aber auch einige sehr gute Restaurants im Ortszentrum. Waren Sie schon einmal in Lake Paradise?»

Mrs. Hoover schüttelte den Kopf und versuchte den kleinen Luther zu beruhigen, der jetzt zu quengeln begann. Schließlich nahm sie ihn vom Tresen und setzte ihn seinem Vater auf den Schoß, dann kam sie wieder zurück zu Savannah. «Nein, das ist unser erstes Mal. Mein Mann war der Meinung, wir sollten einen Roadtrip durch den Mittleren Westen machen. Mit zwei Kleinkindern!» Die Frau sah nicht sehr angetan aus.

Savannah ging nicht darauf ein, es war nicht ihre Aufgabe zu urteilen. «Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt. In Lake Paradise gibt es viel zu sehen und zu erleben für die Kinder. Zum Baden im See ist es noch zu kalt, aber an der Südseite liegt ein großer Spielplatz, und die Bimmelbahn wird den beiden bestimmt ebenfalls gefallen.»

«Ja, danke. Können wir jetzt aufs Zimmer? Luther muss seinen Mittagsschlaf machen.»

«Aber natürlich. Folgen Sie mir.»

Savannah nahm den Schlüssel vom Haken, schnappte sich so viel Gepäck, wie sie tragen konnte, und ging voran.

 

Zehn Minuten später waren die Hoovers in ihrem Zimmer und ruhten sich aus, und Savannah stand wieder am Empfang. Sie goss sich eine selbst gemachte Limonade ein und sah aus dem großen Fenster, durch das man direkt auf den See blicken konnte. Sie liebte diesen Ort und hätte sich für ihr kleines Hotel keinen schöneren wünschen können.

Das Paradise Inn war das einzige Gästehaus der Stadt, und als Savannah vor sechseinhalb Jahren erfahren hatte, dass es zum Verkauf stand, weil die früheren Besitzer, die Mastersons, nach Florida ziehen und dort ihren Ruhestand genießen wollten, hatte sie sofort ein Angebot gemacht. Das Erbe ihrer Großeltern väterlicherseits hatte ihr wahrlich geholfen, den Rest konnte sie sich von der Bank leihen. Es hatte ein halbes Jahr gedauert und sie einiges an Schweiß gekostet, die alte Pension in ein modernes, aber dennoch gemütliches Hotel umzuwandeln, doch es hatte sich gelohnt. Mehr als das. Das Paradise Inn war zu einer Oase der Geborgenheit geworden, und in den vergangenen sechs Jahren hatten ihr schon viele Gäste gesagt, wie schön sie es hier fanden und dass sie auf jeden Fall zurückkommen würden.

Savannahs Handy klingelte. Es war Helena, ihre beste Freundin seit Grundschultagen. Helena war nach der Highschool aufs College in St. Louis gegangen, hatte dort ihre große Liebe Parker kennengelernt und war mit ihm in seine Heimatstadt Kansas City gezogen. Die beiden hatten zwei bezaubernde Kinder, ein Mädchen namens Leslie und einen Jungen namens Matthew (gute Namen, wie Savannah fand). Die vier lebten ein glückliches Familienleben. Leider sah Savannah ihre Freundin nur noch selten, denn Helena kam lediglich ein paarmal im Jahr nach Lake Paradise, um ihre Familie zu besuchen. Und Savannah schaffte es wegen des Hotels leider auch nicht sehr oft nach Kansas City, das immerhin vier Autostunden entfernt lag. Seit der Eröffnung war sie gerade zweimal dort gewesen, obwohl sie sich immer vornahm, öfter hinzufahren. Aber so war das Leben. Ihr Mann Gene hielt nichts davon, wenn sie allein wegfuhr, besonders über Nacht, und das Paradise Inn konnte nun mal auch nicht lange ohne sie auskommen. Es hatte seine Zeit gebraucht, einen engagierten und vertrauenswürdigen Mitarbeiter zu finden, dem sie ihr Hotel ruhigen Gewissens anvertrauen konnte. Doch dann hatte der Himmel ihr Miles geschickt. Miles war ein sechsunddreißigjähriger verheirateter Stadtbewohner, mit dem auch der eifersüchtige Gene einverstanden gewesen war. Er war der Sohn von Moesha, der Floristin im Ort, und hatte eine Ausbildung als Hotelfachmann in Omaha gemacht. Da er Frau und Kinder hatte, richtete Savannah sich bezüglich der Arbeitszeiten nach ihm. Meistens übernahm Miles die Nachtschicht, die von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens ging, damit er sich nachmittags um die drei Töchter kümmern konnte, wenn seine Frau Sonya in der Kindernotaufnahme in Hamilton arbeitete. Savannah hatte ihn schon oft gefragt, ob ihm die paar Stunden Schlaf, die er fand, wenn seine Kinder in der Schule beziehungsweise im Kindergarten waren, wirklich reichten, doch jedes Mal beteuerte er, dass ihm der wenige Schlaf nichts ausmache, solange er nur für seine Familie da sein konnte. Wenn er so etwas sagte, wurde es Savannah immer warm ums Herz, gleichzeitig war sie aber auch traurig, weil ihre Zeit voranzuschreiten schien, ohne dass sie Aussicht auf eine eigene Familie hatte. Immerhin war sie schon zweiunddreißig, die Uhr tickte. Sie wünschte nur, Gene würde das verstehen.

Savannah ging ans Handy. «Helena, wie schön, von dir zu hören.» Als sie vor die Tür trat, wehte ihr eine Frühlingsbrise entgegen, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Für einen Moment schloss sie die Augen.

«Hey, Savannah, wie geht es dir? Ich habe gerade eine Viertelstunde und dachte, ich ruf mal durch.»

Sie öffnete die Augen wieder und lächelte. «Das ist ja lieb. Mir geht es bestens, und wie geht es dir?»

«Ich bin im Stress, wie immer. Parker ist auf Geschäftsreise in Wichita, Leslie ist bei den Pfadfinderinnen und Mattie beim Fußballtraining.»

«Oh, und wo bist du?»

«Ich stehe am Spielfeldrand und juble meinem Jungen zu. Eine der anderen Mütter wollte mir gerade wieder ausführlich von irgendwelchen Rezepten erzählen, die sie ausprobiert hat. Als ob ich Zeit hätte, mich stundenlang in die Küche zu stellen, um einen Schmorbraten mit Kastaniensauce oder ein Soufflé mit selbst eingekochtem Himbeerkompott zuzubereiten!»

Savannah konnte Helena quasi durchs Telefon die Augen rollen sehen und musste lachen. «Aha, ich bin also nur Mittel zum Zweck, hm?»

«Nein, nein, du bist gerade der einzige Mensch, der mich nicht in den Wahnsinn treibt, und ich vermisse dich ganz schrecklich.»

«Ich vermisse dich auch. Wann kommst du denn mal wieder nach Lake Paradise?»

«Meine Mom fragt auch schon immer, und es stimmt ja, es ist wirklich schon wieder eine ganze Weile her, es muss zu Weihnachten gewesen sein. Nur leider ist es nicht immer so leicht, einfach mal nach Hause zu fahren, ich … Los, Mattie, hau ihn rein!», hörte Savannah ihre Freundin plötzlich schreien und hielt das Handy schnell einen halben Meter von sich.

«Und? Hat er ihn reingehauen?», fragte sie ihre Freundin kurz darauf.

«Nein. Pfosten. Leider.»

«Wie schade.»

«Ja. Na, wie auch immer, wo waren wir? Ach ja, Lake Paradise. Ich komme, so bald es mir möglich ist, ja?»

«Okay. Ich wollte dir auch noch was anderes vorschlagen. Wenn Parker mal nicht auf Geschäftsreise ist und du es irgendwie einrichten kannst, dann könnten wir beide doch mal ein Frauenwochenende machen. Wellness oder so, wie klingt das?»

«Oh, das klingt nach dem Himmel auf Erden. Aber ich glaube, das wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren nichts. Die sind doch hier alle aufgeschmissen ohne mich.»

Enttäuschung machte sich in Savannah breit, es wäre zu schön gewesen.

«War nur so eine Idee …» Sie sah zwei Enten dabei zu, wie sie den Spazierweg zum See entlangwatschelten, nebeneinanderher wie jeden Tag.

«Würde denn Gene das überhaupt mitmachen?», fragte Helena misstrauisch.

«Das würde er einfach müssen», antwortete Savannah, obwohl sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Es war eine dumme Idee gewesen.

«Irgendwann machen wir das bestimmt mal, ja?» Helena klang aufmunternd. «Und bis dahin versuche ich, öfter nach Lake Paradise zu kommen. Ich melde mich, wenn es konkret wird, okay?»

«Okay.»

«So, das Spiel ist vorbei, ich muss leider Schluss machen. Wir hören voneinander?»

«Tun wir doch immer.» Savannah lächelte und drückte den roten Button ihres Handys. Die Stille des Sees hatte sie wieder.