S avannah hockte im Blumenbeet vor dem Hotel und war dabei, die verwelkten Narzissen abzuschneiden, die wirklich nicht mehr sehr einladend aussahen. Die Eingangstür stand offen, sodass sie das Telefon hören konnte und auch die Glocke am Empfangstresen, falls einer der Gäste nach ihr verlangte. Bei diesem schönen Wetter waren die meisten zwar unterwegs, ein paar saßen aber bereits im Restaurant, um ein leckeres Stück Kuchen oder einen Eisbecher mit frischen Erdbeeren zu genießen. Das Hotel verfügte sogar über eine hübsche Terrasse, auf der man wunderbar in der Sonne sitzen und auf den See schauen konnte.
«Hallo», hörte Savannah plötzlich eine Stimme und blickte auf.
Ein bärtiger junger Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, stand vor ihr. Er hielt einen Gitarrenkoffer in der Hand und sah sie ein wenig verloren an.
«Hallo», erwiderte sie und erhob sich. «Kann ich Ihnen weiterhelfen?»
«Ich suche das Paradise Inn . Bin ich hier richtig?»
«Ja, das sind Sie.» Sie schenkte ihm ein Lächeln. «Herzlich willkommen.»
«Danke.» Er kaute auf seiner Lippe herum. «Ich wollte mich mal erkundigen, ob Sie ein Zimmer frei haben.»
In dem Moment fuhr die Bimmelbahn am Hotel vorbei, und Savannah winkte dem Fahrer Eddie und den wenigen Gästen zu. Eddie winkte zurück, und da niemand zum Einsteigen bereitstand und anscheinend auch keiner aussteigen wollte, hielt er nicht an, sondern fuhr laut bimmelnd weiter.
Savannah wandte sich nun wieder dem Fremden zu, der ein wenig verblüfft der Bahn hinterhersah. «Sie haben nicht online reserviert?», fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. «Nein. Ich bin ohne Laptop und Handy unterwegs.»
Oh. Das wunderte sie. Denn welcher junge Mensch hatte heutzutage kein Handy dabei?
Der Mann blickte sie erwartungsvoll an. «Ich hoffe echt, Sie haben noch ein Zimmer, denn sonst bin ich aufgeschmissen. Nolan meinte, es gibt hier nur dieses eine Hotel?»
«Ah, Nolan schickt Sie? Na, dann kommen Sie mal mit rein.»
Sie zog die Gartenhandschuhe aus und legte sie zusammen mit der Schere neben das Beet. Zwei Sekunden später hob sie doch lieber alles auf und nahm es mit, bevor sich ein Kind dafür interessieren konnte. Schließlich vergewisserte Savannah sich, dass der Fremde mit seinem riesigen Rucksack und dem Gitarrenkoffer auch durch die Tür passte.
«Also, für heute Nacht haben wir ganz sicher noch ein freies Zimmer. Wie lange wollen Sie denn bleiben?», fragte sie und begab sich hinter den Empfangstresen.
«Das weiß ich noch nicht.» Er stellte seine Sachen ab.
«Lassen Sie mich nachsehen …» Savannah setzte ihre Lesebrille auf, blätterte im Gästebuch und sah dann auf den Laptop. «Ich habe gute Nachrichten. Zimmer 7 steht die ganze nächste Woche leer.»
«Oh, gut. Da bin ich erleichtert. Dann würde ich das erst mal nehmen. Muss ich jetzt schon die Zahl der Nächte nennen, oder kann ich spontan entscheiden, wie lange ich das Zimmer möchte?»
«Das geht auch spontan. Ich bräuchte aber Ihren Ausweis und eine Kreditkarte und müsste Ihnen die erste Nacht schon mal in Rechnung stellen.» Sie begutachtete ihn, war sich plötzlich nicht sicher, ob er überhaupt eine Kreditkarte besaß. Immerhin hatte er nicht mal ein Handy!
«Okay, kein Problem», sagte er jedoch und holte aus der hinteren Jeanstasche eine abgenutzte Brieftasche hervor. Daraus zog er einen Personalausweis und eine Mastercard . «Akzeptieren Sie die?»
«Ja, natürlich.» Sie nahm alles entgegen, betrachtete den Ausweis und zog die Karte durch das Gerät. Sie berechnete achtzig Dollar für die erste Nacht und fragte sich, ob der Mann namens Dylan Heard wohl länger bleiben würde. Er war ihr nämlich ein ziemliches Rätsel, und wenn er nicht erwähnt hätte, dass er Nolan kannte, hätte sie vermutlich gezögert, ihm gleich ein Zimmer für eine Woche zu geben.
«Hier, bitte sehr, Mr. Heard.» Sie gab ihm seine Kreditkarte zurück und den Ausweis, der besagte, dass er aus Nashville kam, und auf dessen Bild er ein komplett anderer zu sein schien. Kurz flackerte etwas in ihrem Gedächtnis auf, sie konnte es aber nicht richtig einordnen.
Sie nahm Schlüssel Nummer 7 vom Haken und überreichte ihn ihrem Gast. «Einen schönen Aufenthalt wünsche ich.»
«Danke schön.»
Oftmals brachte Savannah die Gäste persönlich auf ihr Zimmer, zum Beispiel um ihnen ein wenig Gepäck abzunehmen, aber das war ja in diesem Fall nicht nötig. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass dieser Mann seinen Gitarrenkoffer hergeben würde. Oder dass sie den Rucksack überhaupt tragen konnte, der aussah, als würde er fünfzig Kilo wiegen.
Sie fragte sich, wieso der junge Mann wohl auf diese Weise unterwegs war. Mit schwerem Gepäck, aber ohne Handy … Er sah außerdem so aus, als hätte er seit Wochen nicht geduscht oder sich rasiert. Andererseits müffelte er nicht, vielleicht war es also einfach sein Lifestyle. Womöglich gab es einen guten Grund für das alles.
Ob sie in den kommenden Tagen mehr über ihn erfahren würde, wusste sie nicht. Und sie musste sich wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie ihren Gästen gegenüber doch immer neutral blieb, nicht urteilte und sie erst recht nicht ausfragte, wenn sie nicht von allein von sich erzählen wollten.
Dennoch … bei diesem Gast war es irgendwie anders. Er war einer der interessantesten, die seit Langem bei ihr eingecheckt hatten.
Savannah musste schmunzeln, wenn sie an Murielle, Sadie und Delores dachte, die sicher schon von seiner Ankunft erfahren hatten. Entweder von Nolan oder weil eine von ihnen den Mann bereits gesehen hatte. Oh, was sie sich wohl für wilde Geschichten ausmalten.
Savannah schwor sich jedoch, ihnen nichts preiszugeben, was auch immer sie erfahren sollte.
Mit der nächsten Bimmelbahn traf dann auch tatsächlich schon das Tratschtrio ein. Murielle in ihrem pinkfarbenen Jogginganzug, Delores in Jeans und gelbem Sommerpullover und Sadie noch in dem schicken Kostüm, das sie auch zur Kirche angehabt hatte. Ihre Tante war eine treue Kirchgängerin und öffnete deshalb sonntags auch erst nach dem Gottesdienst ihre Eisdiele. Dass sie die jetzt entweder schon geschlossen oder eine Vertretung gefunden hatte, zeigte, wie heiß sie auf Neuigkeiten war, die bestimmt den Fremden betrafen. Da war sich Savannah sicher.
«Savannah!», rief ihre Tante überschwänglich und kam auf sie zu. Murielle und Delores dackelten hinter ihr her, alle drei mit Neugier in den Augen.
«Hallo, Sadie. Murielle. Delores. Wie geht es euch?» Sie betrachtete das Trio und versuchte, dabei nicht zu lachen.
«Uns geht es gut, und dir?», fragte Sadie, während Murielle sich suchend umsah.
«Ihr seid doch sicher wegen des leckeren Kuchens von Alice hier, oder?» Savannah konnte es sich nicht verkneifen. «Heute gibt es Walnusskuchen und Cherry Pie, beides erst am Morgen frisch gebacken.»
«Aber natürlich sind wir wegen des Kuchens hier, weshalb denn auch sonst?», erwiderte Sadie sogleich.
Delores allerdings, die immer ein wenig schwer von Begriff war, sah ihre Freundinnen fragend an. «Ich dachte, wir wären auch hier, um etwas über den bärtigen jungen Mann zu erfahren?»
Murielle und Sadie drehten sich zu ihr und sahen sie ein wenig verärgert an. Savannah legte derweil den Kopf schief und schmunzelte.
«Nein, nein, natürlich nicht», versicherte Murielle ihr schnell. «Wir hatten nur vorhin kurz überlegt, ob er vielleicht hier abgestiegen sein könnte. Deshalb sind wir aber natürlich nicht hier, sondern allein wegen des Kuchens. Du weißt doch, ich komme sonntags gerne mal vorbei und genehmige mir ein Stück.»
«Ja, das weiß ich. Aber Delores verbringt die Sonntage meist mit George, und Sadie …» Sie wandte sich ihrer Tante zu. «Solltest du nicht eigentlich im Ice Cream Paradise stehen?»
«Ach, es war überhaupt nichts los, also habe ich mir gedacht, ich kann es auch mal für ein Stündchen schließen.»
Savannah kräuselte die Stirn. An einem sonnigen Sonntagnachmittag sollte nichts los sein? Das konnte Sadie sonst wem erzählen, aber nicht ihr.
«Na gut, dann lasst es euch mal schmecken», sagte sie und machte eine einladende Geste in Richtung des Restaurants.
Die drei Frauen bewegten sich jedoch nicht vom Fleck, sondern drucksten herum.
«Ähm … hat er denn nun hier eingecheckt?», fragte Murielle.
«Das kann ich euch nicht sagen, und das wisst ihr genau. Ich darf nichts über meine Gäste preisgeben.»
«Wir wollen ja nicht seinen Namen wissen oder seine Kreditkartennummer», meinte Sadie. «Sondern nur, ob er hier ein Zimmer hat.»
«Falls nämlich nicht, dann könnte etwas an der Vermutung dran sein, er sei Nolans fester Freund», warf Murielle ein.
Jetzt musste Savannah doch lachen. «Ihr seid unmöglich, wisst ihr das?»
«Aber wieso denn?», fragte Murielle unschuldig.
Savannah schüttelte den Kopf. «Ich verrate euch gar nichts. Und jetzt ab mit euch ins Restaurant. Alice ist heute Nachmittag sogar auch da, vielleicht hat sie ja irgendwelche spannenden Neuigkeiten auf Lager.»
Sie sah den drei aufgekratzten Damen hinterher, wie sie durch den länglichen Gang hin zum Hotelrestaurant eilten. Und dabei die Augen und Ohren überall hatten.
Savannah atmete tief durch. Na, zum Glück hatte Dylan Heard das nicht mitbekommen, der hätte sicher sofort wieder ausgecheckt, dachte sie. Dann ging sie zurück in den Vorgarten und kümmerte sich weiter um die Blumen.