D ylan hatte sein Gepäck in Zimmer 7 gebracht und sich erschöpft aufs Bett gelegt. Nachdem er länger an die Decke gestarrt hatte, schaute er sich jetzt um.
Der Raum sah ganz nett aus, alles war schlicht im Western-Style eingerichtet. An der einen Wand hing ein Bild mit einem kleinen Cowgirl, das mit dem Rücken zur Kamera stand, an der anderen prangte ein Cowboyhut. Auf der hölzernen Kommode stand eine Vase mit ein paar Baumwollzweigen, auf dem Schreibtisch ein Stifte-Becher in Form eines Cowboystiefels. Die Bettdecke, die er nun mit den Fingern befühlte, war braun-beige kariert und weich.
Dylan musste lächeln. Ja, hier würde es ihm ein paar Tage gut gefallen. Wie lange er bleiben würde, wusste er zwar noch nicht, aber wenn er diesen Ort mit den anderen im Mittleren Westen verglich, die er bisher kennenlernen durfte, dann war das hier doch eine wahre Steigerung. Auch wenn die Bewohner im Ortszentrum unverhohlen neugierig gewesen waren. Möglicherweise hatten sie ihn aber auch nur auf diese Weise begutachtet, weil er zurzeit nun mal so verwahrlost aussah. Ja, vielleicht war es an der Zeit, sich wieder ein wenig um sein äußeres Erscheinungsbild zu kümmern – und das nicht unbedingt wegen der neugierigen Kleinstadtleute, sondern vielmehr wegen der attraktiven Hotelangestellten. Die hübsche Brünette in dem blauen Kleid hatte ihn nämlich ebenfalls angesehen, als wäre er der letzte Höhlenmensch. Am Ende hatte er sich sogar gewundert, dass sie ihm überhaupt ein Zimmer gegeben hatte. Er war schon am Überlegen gewesen, wo er sonst unterkommen könnte, als sie ihn doch noch hereingebeten und ihm einen Schlüssel überreicht hatte.
Wie so ziemlich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter einer Hotelrezeption hatte auch sie nur einen kurzen Blick auf seinen Personalausweis geworfen und die Daten mit denen auf seiner Kreditkarte verglichen. Einen Moment lang hatte sie die Stirn in Falten gelegt und sich das Passbild genauer angesehen. Doch sie hatte keine Fragen gestellt. Natürlich nicht. Es war ja nicht ihre Angelegenheit, sie wollte einfach nur ein Zimmer vermieten, dafür wurde sie schließlich bezahlt.
Als er nun merkte, wie müde er wirklich war, setzte er sich auf. Denn wenn er jetzt eindöste, hätte er wieder mal eine schlaflose Nacht vor sich, und das wollte er vermeiden. Weil die einsamen, stillen Nächte mit am schlimmsten waren.
Er ging daher kurz ins Bad, um sich frisch zu machen, und trat dann ans Fenster, das einen perfekten Ausblick auf den See bot.
Dieser Ort war wirklich schön, fand Dylan. Er war zwar schon an einigen Seen gewesen, dieser jedoch wirkte besonders idyllisch. Also würde er mal eine Runde drehen und sehen, was der Lake Paradise zu bieten hatte.
Guter Dinge ging er den Flur entlang, nahm die ersten Stufen der Treppe – und blieb abrupt stehen. Denn er hörte jemanden reden. Und zwar über ihn!
Vorsichtig warf er einen Blick um die Ecke und wich schnell wieder zurück. Denn in der Lobby standen neben der freundlichen Hotelangestellten drei ältere Frauen, die ziemlich tratschbegierig aussahen. Eine von ihnen erkannte er direkt wieder, es war die dauergewellte Frau in dem pinkfarbenen Jogginganzug, die vor dem Café gestanden und ihn – nicht wirklich unauffällig – beobachtet hatte.
Shit! Was sollte er nun tun? Zurück auf sein Zimmer gehen? Und dann? Sich für den Rest seines Aufenthalts verstecken?
Er wartete ab. Hörte zu. Die drei Frauen versuchten aus der jungen Rezeptionistin im blauen Kleid herauszubekommen, ob er im Paradise Inn abgestiegen war. Gott sei Dank verriet sie nichts, was Dylan sehr zu schätzen wusste. Schließlich schickte sie die Tratschtanten zum Kuchenessen ins Restaurant und ging mit ihrer Schere wieder raus, wahrscheinlich, um sich weiter den Blumen zu widmen.
Er atmete erleichtert auf und folgte ihr.
Als er kurz nach ihr aus der Tür trat, blickte sie auf. Sie hockte schon wieder am Boden, erhob sich aber nun. «Gefällt Ihnen Ihr Zimmer?», fragte sie.
«Sehr sogar, danke.»
«Das freut mich. Unsere Räume sind alle individuell eingerichtet.»
«Oh.» Was für ein Zufall, dass er, der Countrysänger, dann das Western-Zimmer bekommen hatte, dachte Dylan.
Die Frau lächelte ihn an. «Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Savannah Keller, ich bin die Inhaberin des Paradise Inn .»
Das überraschte ihn komischerweise nun doch ein bisschen. Die Frau wirkte gar nicht wie eine Chefin, sie war viel zu freundlich.
«Freut mich sehr.» Er lächelte ebenfalls.
«Wollen Sie einen Spaziergang machen?»
Er nickte. «Ja, ich will mir die Gegend mal ansehen.»
«Ist es Ihr erstes Mal in Lake Paradise?»
«Ja, genau.»
«Na, dann wünsche ich viel Spaß. Unser kleines Städtchen hat ein paar wunderschöne Flecken.»
«Da bin ich gespannt.» Er kaute auf seiner Lippe herum, wollte noch irgendwas sagen, noch ein bisschen länger mit ihr reden, ihm fiel aber nichts Gescheites ein. «Wo kann man denn hier essen gehen?», fragte er schließlich.
«Hmmm … bei Jamie bekommen Sie alles, von mediterraner bis lateinamerikanischer Küche. Also, ich spreche von Jamie’s Food Paradise direkt am Stadtplatz. Ein Stück weiter gibt es auf dem Paradise Boulevard noch eine Pizzeria. Oder Sie können natürlich auch hier bei uns essen. Das Hotelrestaurant hat abends von fünf bis neun geöffnet.»
«Ja? Na gut, dann denke ich, dass ich einfach hier essen werde.»
«Sehr schön. Ich reserviere Ihnen einen Tisch.» Sie grinste ihn irgendwie seltsam an.
«Danke.» Er lächelte noch einmal und schritt dann durch den weißen Bogen hindurch und einen sehr gepflegten Weg entlang.
«Moment!», rief sie ihm noch hinterher.
Er drehte sich um und sah sie fragend an.
«Gehen Sie besser in diese Richtung.» Sie deutete nach rechts. «Da ist es … unbelebter.» Er nahm an, dass sie ihn vor den Tratschtanten warnen wollte, die vermutlich auf der anderen Seite anzutreffen waren.
Er musste lachen. «Alles klar.» Dann winkte er ihr noch einmal zu und marschierte los. Nach rechts. Zu dem See, der so schön war, dass es ihm fast den Atem raubte.
Welch wundervoller Ort! Dylan konnte ein paar Schwäne entdecken und niedliche Entenküken, die hinter ihrer Mutter herschwammen. Unendlich viele Seerosen, die das Wasser zierten, und etliche Bäume, die den See umrahmten. Hier und da stand ein Haus, ein paar Ruderboote waren auf dem Wasser, und ein Pelikan saß auf einem Steg. Das Tier machte sich davon, als Dylan ihn betrat. Er setzte sich ans Ende. Das Holz fühlte sich warm an, die Luft war wunderbar frisch, und der sonnige Himmel war so blau wie Ronnys Augen. Ronny. Ihm hätte es hier gefallen, da war Dylan sich ganz sicher. Und es machte ihn unendlich traurig, dass sein Bruder in diesem Moment nicht bei ihm sein konnte.
Ein paar Stunden später ging Dylan frisch rasiert durch die Lobby und schaute sich nach Savannah Keller um, entdeckte sie allerdings nirgendwo. Also nahm er den Gang, durch den Savannah vorhin die drei alten Damen geschickt hatte, und betrat schließlich das Hotelrestaurant. Und er musste direkt lachen. Denn jetzt verstand er Savannahs Grinsen und wie ironisch ihre Bemerkung gemeint gewesen war, sie würde ihm einen Tisch reservieren. Das Restaurant war leer! Es war ohnehin ein kleiner Raum mit nur wenigen Tischen, und von denen waren lediglich zwei besetzt.
Er wartete einen Moment an der Tür, weil er sich nicht sicher war, ob er sich einfach an einen freien Tisch setzen durfte oder auf irgendwen warten sollte, der ihm einen zuwies. Da aber niemand erschien, nahm er einfach am Fenster Platz, wo er einen schönen Blick auf den Spazierweg hatte, den er vorhin noch selbst entlanggelaufen war.
Unauffällig sah er sich im Raum um, in dem zehn helle runde Holztische standen. An ihnen befanden sich je vier Stühle mit blau-weiß karierten Kissen, die farblich mit den Vorhängen abgestimmt waren.
Nach ein paar Minuten wurde die Doppeltür aufgestoßen, die anscheinend zur Küche führte. Eine Frau in einer weißen Kochjacke kam heraus und trug zwei Teller, die sie den Gästen auf der anderen Seite des Raums brachte. Dann sah sie sich kurz um, entdeckte ihn und kam auf ihn zu. «Guten Abend!»
«Hi», sagte er.
«Was kann ich Ihnen bringen?», wollte die Frau wissen. «Haben Sie schon auf die Karte geschaut?»
Dylan sah sich suchend um, da er gar keine Karte entdeckt hatte, zumindest nicht auf dem Tisch.
«Oh, wir haben die Tageskarte immer dort vorne auf der Tafel stehen», sagte sie und deutete zu einer Kreidetafel, die rechts neben dem Eingang stand. «Ich kann Ihnen aber auch so kurz sagen, was es gibt. Heute haben wir Spargel mit Petersilienkartoffeln und Schinken im Angebot sowie einen Caesar Salad mit Spargel und Basilikumcroûtons. Außerdem eine Spargelcremesuppe.»
«Sie scheinen auf Spargel abzufahren», stellte er amüsiert fest.
«Nun, es ist Spargelzeit, das sollte man ausnutzen, oder?» Die Köchin strahlte, als wäre Spargel die köstlichste Zutat auf der Welt. «Oh, ich hoffe, Sie mögen Spargel? Ich kann Ihnen sonst auch ein Sandwich zaubern.»
«Nein, nein, Spargel ist gut. Ich nehme einfach die Suppe und Brot dazu, bitte.»
«Ja, natürlich. Ich habe frisches Maisbrot da.»
«Hört sich toll an.»
«Ein Wasser dazu? Oder lieber etwas anderes?»
«Wasser ist gut.»
Die Frau lächelte und eilte davon.
Dylan blickte hinaus auf den See und beobachtete einen Mann in einem Boot, den er dort auch schon vor einigen Stunden gesehen hatte. Und er fragte sich, was der Kerl da wohl machte. Ob er über etwas nachdachte? Oder einfach nur dasaß und die Stille genoss?
Er atmete tief durch und war froh, als kurz darauf die Suppe kam. Sie schmeckte richtig gut, und Dylan hoffte, dass die frische Luft und das warme Essen ihm heute endlich mal wieder eine schlafreiche Nacht bescheren würden.
Nachdem er die Rechnung auf sein Zimmer hatte schreiben lassen, ging er in Richtung Lobby. Diesmal stand Savannah Keller am Empfang und sortierte irgendwelche Unterlagen, dabei trug sie wieder ihre schwarz umrandete Brille. Sie blickte auf und sah überrascht aus. Doch sie sagte nichts, sondern wünschte Dylan nur einen schönen Abend.
«Danke», sagte er. «Den wünsche ich Ihnen auch.»
«Hat es Ihnen bei uns geschmeckt?», fragte sie dann doch noch, und er ging ein paar Schritte auf sie zu.
«Ja, war sehr lecker, danke.»
«Hatten Sie Spargel?»
«Ja, die Suppe.»
«Ich liebe Alice’ Spargelcremesuppe.»
«Alice ist die Köchin?»
Savannah nickte. «Kommen Sie auch zum Frühstück runter?»
«Wahrscheinlich, ja.»
«Wunderbar. Dann bis morgen früh.»
«Sind Sie denn die ganze Zeit hier?», wunderte er sich.
Sie lachte. «Na ja, nachts schlafe ich auch mal ein paar Stunden. Aber die meiste Zeit bin ich irgendwo im Hotel anzufinden, ja.»
«Gut zu wissen», sagte er. Das hieß dann wohl, dass sie keine eigene Familie hatte, bei der sie sein musste. Sein Blick wanderte zu ihrer linken Hand, und fast war er ein wenig enttäuscht, dort einen Ehering zu entdecken.
«Gute Nacht», wünschte er schließlich.
«Gute Nacht», erwiderte sie und schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln, an das er sicher noch beim Einschlafen denken würde.