«W as hast du denn gemacht?», fragte Nolan am nächsten Morgen, als Savannah ins Paradise Café trat. Sie war extra früh unterwegs, damit sie den drei Tratschtanten nicht begegnete, die immer um Punkt acht hier antanzten. Denn die würden doch sicher gleich denken, Gene hätte ihr das Veilchen verpasst nach all den Streitereien in letzter Zeit. Gene hatte das sogar selbst gesagt, als sie gestern Abend nach Hause gekommen war. Zuerst hatte er wissen wollen, wer sie vor dem Haus abgesetzt hatte, und nachdem sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, war er wütend geworden.
«Na super! Dir ist doch klar, dass jeder denken wird, ich bin das gewesen, oder?»
«Danke für dein Mitgefühl», erwiderte sie.
«Sorry, aber wir wissen beide, wie die Sache aussieht.»
Savannah stöhnte und warf die Plastiktüte aufgetauter Himbeeren auf den Couchtisch. «Kannst du jetzt mal aufhören, dir so blöde Gedanken zu machen, und mir stattdessen etwas zum Kühlen holen, bitte? Das tut nämlich verdammt weh.»
Gene ging in die Küche und kam mit einem Coolpack zurück. Sie nahm es und hielt es sich vorsichtig ans Auge.
«Du solltest den Kerl verklagen», meinte Gene.
«Mr. Hoover? Der hat das doch nicht absichtlich getan!»
«Trotzdem. Da könnte ein bisschen Schmerzensgeld bei rausspringen.»
«Du spinnst doch, Gene!», erwiderte sie, und ein weiterer Streit begann.
Am Ende hatte Savannah auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen. Und nachdem sie zwei Aspirin geschluckt hatte, war ihr das sogar einigermaßen gelungen.
Nolan starrte sie noch immer voller Schrecken an. Und das war auch kein Wunder, denn Savannah wusste natürlich, was sie für ein Bild abgab. Beim Blick in den Spiegel war sie heute Morgen ja selbst erschrocken. Ihr Auge war zwar kaum noch angeschwollen, jedoch war es jetzt kunterbunt: eine Mischung aus Rot, Lila und jeder Menge Blau.
«Ich hatte einen kleinen Unfall im Hotel. Einen Zusammenstoß mit einem Gast», erklärte sie, und in diesem Fall hoffte sie sogar, dass Nolan es weitererzählen würde.
«Du liebe Güte! Warst du beim Arzt?»
Savannah schüttelte den Kopf. «Ist gestern Abend erst passiert. Und es ist auch nur halb so schlimm, wie es aussieht.»
«Bist du sicher?»
«Ja, bin ich.»
«Na gut. Dann gebe ich dir aber wenigstens einen Latte macchiato aus. Selbstverständlich mit dem leckeren Mandelsirup. Der wird dir guttun.»
Ja klar, weil Latte macchiato bekanntlich die beste Medizin war. Sie musste lächeln, auch wenn das wehtat.
Nolan bereitete den Kaffee zu, überreichte ihr schließlich den Becher und wünschte ihr gute Besserung. Savannah bedankte sich, ging aus dem Café und zu einer der Bänke gegenüber auf dem Stadtplatz. Sie setzte sich, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch.
Sie hatte die frühen Morgenstunden immer geliebt. Ein neuer Tag begann, und es war noch alles möglich. Man konnte selbst entscheiden, was man daraus machte, und oftmals halfen ein wenig Fröhlichkeit und eine positive Einstellung schon, um den Tag zu einem wertvollen zu machen.
Doch in letzter Zeit hatte sie ihren Optimismus leider verloren, und auch der Frohsinn war ihr abhandengekommen. Natürlich schenkte sie immer noch jedem ein Lächeln, der ihr über den Weg lief, ob es nun ein Hotelgast oder ein Stadtbewohner war, allerdings tat sie es nicht mehr aus vollem Herzen heraus. Denn ihr Herz war gebrochen. Sich das einzugestehen, hatte lange gebraucht. Aber jetzt war sie an einem Punkt angelangt, wo sie über Alternativen nachdachte. Sie zog ernsthaft in Erwägung, Gene zu verlassen.
Es gab da überhaupt keinen bestimmten Vorfall, der den Ausschlag gegeben hätte. Vielmehr waren es die vielen kleinen Dinge. Genes Faulheit und seine Verantwortungslosigkeit, die vielen Abende in der Tavern , an denen er betrunken nach Hause kam. Es waren die Versprechen, die er nicht hielt, und der fehlende Sex, der ihr alle Hoffnung auf ein Baby nahm. Und es war die Tatsache, dass sie sich nicht mehr vorstellen konnte, mit ihm alt zu werden.
Dass er gestern Abend, statt sie zu umsorgen, einen weiteren Streit begonnen hatte, war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Sie nahm einen Schluck Macchiato und grüßte dann Sadie, die ihr entgegenkam.
«Savannah! Was ist denn mit dir passiert?», fragte ihre Tante schockiert.
Diese Reaktion würde sie wohl heute noch öfter zu sehen bekommen, dachte Savannah.
Sie winkte ab. «Alles halb so schlimm.»
«War das etwa …»
«Nein, es war nicht Gene, falls du das denkst. Ich bin mit einem Hotelgast zusammengestoßen, der sein Baby auf dem Arm umhergetragen hat, um es zum Einschlafen zu bringen. Sein Ellbogen hat mich voll erwischt.»
«Herrje. Tut es sehr weh?»
«Gestern Abend, als es passiert ist, schon. Aber jetzt ist es bereits viel besser. Mach dir keine Sorgen.»
«Hast du es deiner Mutter schon gesagt?»
«Nein, noch nicht.»
«Also, wenn sie es von irgendwem anders als von dir hört, wird sie gleich denken …»
… dass Gene es war.
Savannah seufzte. «Vielleicht magst du das ja übernehmen? Ich muss jetzt ins Hotel. Wir erwarten heute einige neue Gäste.» Das Ehepaar aus Nevada, das gestern schon eintreffen sollte, verspätete sich um einen Tag, die Hoovers würden ab- und ein Geschäftsmann aus Kansas anreisen.
«Apropos Gast … Was kannst du mir über den bärtigen Fremden erzählen?»
Ihre Tante würde nicht lockerlassen, oder?
«Hmmm … lass mich überlegen … Ich kann dir erzählen, dass er keinen Bart mehr hat.»
Sadie machte große Augen. «Tatsächlich? Er hat ihn sich abrasiert?»
«Japp.»
«Das ist ja interessant. Woher kommt er denn eigentlich, und wie lange wird er bleiben?»
«Das sind nun wiederum Dinge, die ich dir leider nicht sagen kann. Ich stehe da sozusagen unter Schweigepflicht.»
«Nicht mal ein ganz kleiner Hinweis?», bat Sadie.
«Na, okay. Er kommt irgendwo aus Tennessee», erzählte sie, weil sie wusste, dass sie ihre neugierige Tante sonst nicht loswurde.
«Tennessee … Von wo denn da? Memphis? Nashville? Chattanooga?»
«Wenn du das wissen willst, musst du ihn leider selbst fragen», sagte Savannah und stand auf. Sie trank ihren letzten Schluck Kaffee, warf den Pappbecher in den Mülleimer und wünschte Sadie einen schönen Tag.
«Warte, Savannah! Wollen wir uns nicht mal wieder zu dritt treffen? Du, Teresa und ich?»
Noch ein Treffen mit ihrer Mutter und ihrer Tante, bei dem die beiden ihr sagen würden, was sie von Gene hielten? Doch am besten gab sie Sadie erst mal, was sie verlangte. «Ja, gerne. Ich schau mal, wann es am besten bei mir passt, und ruf euch an, ja?»
«Sehr schön. Also bis bald!»
Savannah machte sich auf zu ihrem Fahrrad, das sie neben dem Zeitungskiosk angeschlossen hatte. Dann fiel ihr ein, dass sie Alice noch eine Kleinigkeit mitbringen wollte, weil sie sich gestern so lieb um sie gekümmert hatte. Sie machte also einen kurzen Abstecher zum Paradise Market , wo Rupert gerade frische Tulpensträuße in den Eimern vor dem Laden arrangierte.
«Guten Morgen, Rupert», sagte sie. Und Rupert, den man früher immer als grantigen Kerl gekannt hatte, lächelte sie tatsächlich freundlich an.
«Guten Morgen, Savannah, wie geht es dir?» Er stutzte. «Autsch, was ist denn mit deinem Auge los?»
Und noch einmal …
«Ich hatte gestern einen kleinen ungeschickten Zusammenstoß mit einem Gast.»
«Hast du es gekühlt? Als Howie mir mal ein blaues Auge verpasst hat, ist das total angeschwollen, weil ich es nicht genug gekühlt hatte.»
Rupert konnte nur von dem Vorfall von vor ein paar Jahren sprechen, als er sich heftig mit seinem Konkurrenten Howie geprügelt hatte, weil der ihm die Freundin ausgespannt hatte. Rupert war danach kein schöner Anblick gewesen, Savannah erinnerte sich gut.
«Ja, ich hab es den ganzen Abend gekühlt. Aber sag mal, Rupert, wie lange dauert es denn, bis dieses schreckliche Blau verschwindet?», fragte sie, weil sie das ehrlich nicht wusste. Sie hatte keine Brüder oder Söhne, die sich prügelten. Ihr Vater, der Pastor, könnte noch nicht einmal einer Fliege etwas antun. Und Gene hatte bei all dem Ärger, den er bereits heraufbeschworen hatte, selbst noch nie viel abbekommen – obwohl er es manchmal wirklich verdient hätte.
«Oh, das kann schon ein paar Tage dauern», meinte Rupert. «Dann wird es grün und danach gelb.»
Na, das waren ja tolle Aussichten.
«Okay, danke. Wie geht es denn Halle?», erkundigte sie sich.
Die Besitzerin der Pizzeria und Rupert hatten um die Weihnachtszeit herum angefangen, miteinander auszugehen. Savannah mochte Halle sehr. Sie war Trishs Tante, und allein dass sie nach dem Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers für eine Weile bei den drei Nichten eingezogen war, zeigte, was für ein großes Herz sie hatte. Dass sie jetzt zudem den grimmigen Rupert in einen gut gelaunten Mann verwandelt hatte, konnte man ihr einfach nur hoch anrechnen. Denn damit hatte sie allen Stadtbewohnern einen guten Dienst erwiesen.
«Es geht ihr prima, danke der Nachfrage.»
«Sehr schön. Ich will dann mal ein paar Sachen besorgen und mich auf zum Hotel machen.»
«Hab einen angenehmen Tag!», sagte Rupert und fing einen von der Auslage herunterrollenden Apfel auf.
«Danke, du auch», wünschte Savannah. Sie suchte sich ein paar Blumen aus und betrat den Supermarkt, um sie zu bezahlen.
Als sie wenig später wieder auf die Straße trat, schloss Trish nebenan gerade den Tiersalon auf.
Die junge Frau riss die Augen auf. «Scheiße, welche Faust hattest du denn im Gesicht?»
«Es war ein Ellbogen. Der eines Hotelgastes», gab Savannah zur Antwort. Erneut.
«Autsch.»
«Das kannst du laut sagen.» Savannah fiel eine knallpinke Strähne in Trishs dunklem Haar auf, die farblich super zu den pinkfarbenen Plastikschürzen passte, die sie und Lexi bei der Arbeit trugen.
Trish gab ihr noch einen Tipp: «Tu ein bisschen Aloe vera drauf, das lässt es schneller verblassen.»
«Okay, danke. Ich muss los, wir sehen uns.»
«Klar. Hast du eigentlich schon gehört, dass Helena am Wochenende nach Lake Paradise kommt?»
«Ehrlich? Nein, das wusste ich noch nicht», sagte sie, freute sich aber riesig.
«Ja, Lexi meint, sie kommt wahrscheinlich sogar ohne die Kinder.»
Oh. Das machte Savannah fast ein wenig traurig, da sie Leslie und Mattie wirklich gernhatte.
«Vielleicht können wir uns dann ja mal wieder zu viert treffen. Einen Mädelsabend machen», schlug Trish vor.
«Ja, das wäre wirklich schön.» Sie wünschte Trish noch einen schönen Tag und stieg auf ihr Rad.
Eine Viertelstunde später traf Savannah im Hotel ein. Nachdem sie ihre Jacke aufgehängt hatte, ging sie zuallererst in die Küche, um Alice die Blumen zu überreichen.
«Das wäre doch nicht nötig gewesen», sagte ihre Freundin.
«Oh, und ob das nötig ist. Ich weiß gar nicht, was ich gestern ohne dich getan hätte.»
«Alles kein Problem. Wie geht es dir denn heute?»
«Schon viel besser, danke.»
«Sieht aber echt schlimm aus. Hättest du es nicht ein wenig mit Make-up abdecken können?»
Savannah zuckte die Achseln. «Du weißt doch, dass ich so etwas nicht besitze.» Sie war der natürliche Typ Frau. Außer einem blassrosa Lippenpflegestift und einem Fläschchen Mascara besaß sie keinerlei Schminke.
«Vielleicht solltest du dir welches besorgen, würde auf jeden Fall einen besseren Eindruck machen, wenn du deine Gäste begrüßt.»
«Ja, mal sehen.» Sie starrte auf den Kühlschrank, an dem mit zwei Magneten ein altes Foto von Alice mit ihren beiden Söhnen befestigt war. «Die Himbeeren sind übrigens hin, ich musste sie wegschmeißen.»
Alice lachte. «Die hätte ich sowieso nicht mehr verwenden können.»
«Okay. Na, dann will ich mal …» Sie drehte sich schon auf dem Absatz um, als Alice noch etwas sagte.
«Du weißt, dass ich heute Nachmittag für ein paar Stunden wegmuss, oder? Der Termin mit Justin. Er bekommt eine neue Zahnspange.»
«Ja klar. Ihr müsst dafür nach Hamilton, oder?»
«Genau. Leider haben wir ja keinen Kieferorthopäden in Lake Paradise.»
«Kein Problem. Solange du zurück bist, bevor das Abendessen ansteht.»
«Das auf jeden Fall. Ich habe das meiste bereits vorbereitet und sollte spätestens um halb fünf wieder hier sein», versicherte Alice. «Ich lass dich nur sehr ungern allein, darum geht es mir.»
«Danke, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich bin wieder stabil.»
«Na gut, wenn du das sagst.»
Savannah nickte, und als sie in Richtung Rezeption ging, musste sie an ihr eigenes dreizehnjähriges Ich denken, das seine feste Zahnspange gehasst hatte. Zwei Jahre ohne Kaugummikauen waren eine harte Zeit gewesen.
«Guten Morgen», hörte sie eine männliche Stimme sagen.
Sie sah nach links, wo gerade Dylan Heard die Treppe herunterkam. Ohne Bart und unglaublich attraktiv in seinen Jeans, dem weißen T-Shirt, mit gegelten Haaren und einem Lächeln im Gesicht.
«Guten Morgen, Mr. Heard», erwiderte sie freundlich. Manchmal war es schon ein bisschen komisch, die Gäste alle beim Nachnamen anzusprechen, fand Savannah. In Lake Paradise nannte sich sonst jeder beim Vornamen. Förmlichkeiten gab es nicht.
Der junge Mann lächelte sie weiterhin an. Als er jedoch näher kam, zuckte er sichtlich zusammen. «Oh», sagte er und deutete auf ihr Gesicht. «Ist alles in Ordnung?»
«Ja, danke. Nur ein kleiner Unfall, nicht der Rede wert», entgegnete sie. «Viel wichtiger ist: Wie geht es Ihnen denn? Hatten Sie eine angenehme Nacht?»
«Ich hab geschlafen wie ein Baby», erwiderte er.
«Das freut mich. Wollen Sie zum Frühstück?»
Er nickte.
«Dann wünsche ich guten Appetit und einen wunderschönen Tag. Falls ich irgendwie behilflich sein kann, was Ausflüge oder Sehenswürdigkeiten der Umgebung betrifft, kommen Sie gerne auf mich zu.»
«Gut zu wissen, danke.» Er grinste und ging in Richtung Restaurant.
Na klar, dachte Savannah. Dylan Heard würde sicher sehr scharf darauf sein, mit der Bimmelbahn zu fahren oder das Maismuseum zu besuchen.
Sie setzte sich an die Rezeption und tat endlich das, was sie schon seit gestern Nachmittag tun wollte. Sie googelte ihn. Und zehn Sekunden später hatte sie ihre Bestätigung.
Er war derjenige, für den sie ihn gehalten hatte. Dylan Heard, Countrysänger aus Nashville. Sie erinnerte sich an ein oder zwei seiner Songs und an ein Interview in der Country’s Best . Er war nicht unbedingt eine große Berühmtheit, aber er hatte eine Platzierung in den Country-Charts gehabt, wie Savannah jetzt las. Und da sie schon immer ein Fan dieses Musikgenres gewesen war, freute es sie, dass er ausgerechnet hier bei ihr im Hotel abgestiegen war. Unglaublich, was ihr in diesem Beruf manchmal passierte.
Diese wunderbare Erkenntnis machte sogar fast das blöde blaue Auge wieder wett.