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D ylan erwachte von Vogelgezwitscher. Er ließ sich Zeit, die Augen zu öffnen, griff dann nach der Armbanduhr seines Großvaters auf dem Nachttisch – und erschrak.

Es war zwei Minuten nach zehn! So lange hatte er ja seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Er ahnte, dass er diese wunderbare Nachtruhe nur Savannah zu verdanken hatte, mit der er gestern noch stundenlang in dem leeren Restaurant gesessen hatte. Es hatte sich so verdammt gut angefühlt, bei ihr zu sein und einfach nur ein bisschen zu reden. Über Gott und die Welt, nicht über Ronny, nicht über seine Vergangenheit. Denn obwohl Savannah ja von seiner früheren Musikkarriere wusste, hatte sie das Thema nicht ein einziges Mal erwähnt, und dafür war er ihr dankbar.

Mit einem Lächeln stand er auf, sprang unter die Dusche und zog sich an. Dann holte er ein Paar neue Socken hervor, die er in der Stadtboutique gefunden hatte. Überteuert zwar, doch die Inhaberin des Ladens hatte ihn sehr freundlich behandelt, auch wenn sie natürlich ebenfalls versucht hatte, aus ihm herauszubekommen, woher er stammte.

«Aus dem Osten», hatte er nur geantwortet.

«Ach so.» Und damit gab sie sich zum Glück zufrieden. «Und? Magst du Mais?», wollte sie dann wissen. Natürlich war sie nicht die Erste, die ihn das in Lake Paradise fragte.

«Klar», antwortete er. «Bin ein großer Popcornfan.»

«Oh! Wir haben hier eine Fabrik, die buntes Popcorn herstellt», informierte die Frau ihn. «Beide Supermärkte bieten es an, halte mal die Augen danach auf.»

«Werde ich machen», hatte er gesagt und zwölf Dollar für ein Doppelpack Socken hingeblättert.

 

Als er jetzt die Treppen runterging, war ihm natürlich klar, dass er Savannah nicht antreffen würde. Denn sie wäre nach der Nachtschicht sicher zu Hause und würde schlafen. Aber als Dylan dann tatsächlich nur diese junge Frau namens Cindy am Empfang entdeckte, machte ihn das fast ein wenig traurig.

Savannah war eine unglaublich tolle Frau. Nur selten hatte er jemanden kennengelernt, der so rücksichtsvoll war, so nett und so schön – von außen wie von innen. Doch auch letzte Nacht hatte er wieder diese Traurigkeit an ihr wahrgenommen. Den Kummer, der ihr ein ständiger Begleiter zu sein schien. Dylan wusste nichts von ihrem Ehemann, doch er hatte insgeheim den Verdacht, dass er ihr nicht das bot, was sie verdiente. Er selbst würde sie ganz anders behandeln. Er würde es zu schätzen wissen, solch eine umwerfende Frau an seiner Seite zu haben.

Er war ein wenig unschlüssig, was er heute machen sollte, denn abreisen wollte er nun doch noch nicht. Also lief er einfach erst mal los ins Zentrum. Mal sehen, was sich ergeben würde. Vielleicht könnte er bei Nolan vorbeischauen und sich etwas zum Frühstücken besorgen, der Cafébesitzer war schließlich der einzige Bekannte, den er in Lake Paradise hatte – neben Savannah.

Heute war es nicht ganz so warm wie die letzten Tage, und während Dylan die Straße entlangspazierte, verdüsterte sich der Himmel. Natürlich musste er dabei gleich wieder an die Beerdigung denken. An jenem Tag war es auch düster gewesen, und die ganze Welt – so schien es ihm – hatte stillgestanden. Seine Mutter war starr vor Schock gewesen und hatte keine Träne vergießen können. Dafür hatte sein Vater – vor Wut und vor Trauer – umso mehr geweint. Seine Tante Ireen wiederum gab Dylan die Schuld an Ronnys Tod und bedachte ihn keines Blickes. Und nach der Beisetzung, als sie sich alle noch im Haus seiner Eltern zu einem Trauerschmaus eingefunden hatten, war seine Mutter auf ihn zugekommen und hatte ihn völlig ausdruckslos gefragt: «Wie hast du es nicht sehen können? Du standest ihm näher als irgendjemand sonst!»

Das war zu viel für ihn gewesen. Noch am selben Tag hatte Dylan seine Sachen gepackt und sich davongemacht.

Er war seiner Mutter nicht böse, es war ihre Weise, mit der Trauer umzugehen. Er verstand sie sogar und seine Tante auch. Die Menschen brauchten jemanden, dem sie die Schuld zuweisen konnten, damit sie diese nicht bei sich selbst suchen mussten. Aber er konnte sich das nicht länger antun – weil er sich doch selbst schon genug Vorwürfe machte.

Als Dylan in den Ort kam, beschloss er, seinen Eltern heute endlich mal wieder eine Postkarte zu schicken. Neulich hatte er welche im Museum gesehen, dort würde er eine besorgen. Und für sich selbst auch gleich eine, denn Lake Paradise war ein Ort, den er ganz bestimmt niemals vergessen wollte. Obwohl er nicht wusste, ob ein simples Souvenir wie eine Postkarte ihm da genügen würde.

Edda begrüßte ihn wieder sehr freundlich, und er suchte sich ein paar Karten aus. Die Museumsleiterin überließ ihm sechs für fünf Dollar. Beim Zahlen bemerkte Dylan, dass er kaum noch Bargeld im Portemonnaie hatte. Also schaute er auch gleich noch in der Bank vorbei und hob ein bisschen was ab. Bei dem Blick auf seinen Kontostand erschrak er ein wenig. Von den fast fünfzigtausend Dollar, die sich am Anfang seiner Reise darauf befunden hatten, waren keine dreitausend mehr übrig. Allein das Paradise Inn kostete achtzig Dollar die Nacht, aber er wollte noch nicht auschecken, ganz im Gegenteil. Am liebsten wäre er den Rest seiner Zeit, die gesamten zwei Monate, hiergeblieben.

Bei Nolan traf er auf die Maisprinzessin, die gerade in ein Gespräch mit der älteren Dame vertieft war, die Ava Garland zum Verwechseln ähnlich sah. Sie winkte ihm zu, und er winkte zurück. Dann trat er an den Tresen.

«Na, mein Lieber, wie gefällt es dir im schönen Lake Paradise?», fragte Nolan, der heute eine schwarze Jeans, ein schwarz-gelb gestreiftes Hemd und eine gelbe Fliege trug – und Dylan ein bisschen an eine Biene erinnerte.

«Sehr gut», antwortete er und lächelte. «Wirklich, ein nettes kleines Städtchen.» Wieder sah er zu dem Tisch mit den beiden Frauen.

Nolan folgte seinem Blick. «Tja, das hättest du nicht gedacht, dass du hier auf eine Hollywood-Diva triffst, was?»

Dylan starrte ihn an. «Ist es denn wirklich …?»

«Oh ja, sie ist es. In Lake Paradise geboren und aufgewachsen, und jetzt möchte sie ihren Lebensabend hier verbringen.»

«Wow.» Das war alles, was er sagen konnte.

«Was kann ich dir bringen?», fragte Nolan.

Da er das Frühstück im Hotel verpasst hatte und schon wieder unglaublich hungrig war, sagte er: «Gibst du mir eins von den belegten Baguettes da und einen Kirsch-Muffin?»

«Aber gerne. Und zu trinken?»

«Irgendeinen Früchtetee, bitte.»

«Okay. Setz dich gerne, ich bringe dir gleich alles.»

Dylan nahm am Fenster Platz und sah hinaus. Dort ging wieder der kleine, untersetzte Mann umher und verteilte gelbe Zettel. Als Nolan ihm seine Bestellung brachte, fragte Dylan: «Was verteilt der Typ da eigentlich immer?»

Nolan lachte. «Gedichte. Na ja, wenn man sie so nennen kann. Hier, das ist das heutige.» Er fischte einen der gelben Zettel aus seiner hinteren Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. Dylan beugte sich vor, und während er in sein Baguette biss, las er die Zeilen.

Autos und Karamellpopcorn

Am liebsten sitze ich ganz vorn

Mädchen in Pyjamas

Und Jungs in Lederjacken

Vergiss nicht,

gute Musik einzupacken

Jung und verliebt

Schön, dass es das heute gibt

Dylan runzelte die Stirn. «Ich hab ehrlich keine Ahnung, wovon das handeln soll.»

«Im Autokino wird heute Grease gezeigt», klärte Nolan ihn auf.

«Oh, echt? Ihr habt hier ein Autokino?»

«Haben wir. In der Paradise Avenue, in Richtung Osten. Na ja, eigentlich ist es nicht unbedingt ein Autokino, sondern eher ein Freilichtkino. Es kommen auch viele Leute, die einfach auf ihren Decken sitzen und während des Films ein Picknick machen.»

«Ist ja echt cool», sagte er, und plötzlich hatte er richtig Lust auf solch einen Kinoabend. Allein würde der ziemlich erbärmlich sein, aber er wusste genau, wen er gern an seiner Seite hätte. Am liebsten hätte er Nolan ein bisschen über Savannah ausgefragt, denn die beiden schienen sich gut zu kennen. Doch wie würde es rüberkommen, wenn er sich nach einer verheirateten Frau erkundigte? Er ließ es also sein, aß auf und bezahlte.

«Wie lange bleibst du noch in Lake Paradise?», wollte Nolan wissen.

«Kann ich nicht genau sagen. Schon noch eine Weile, denke ich.»

«Sehr schön. Vielleicht hast du ja mal Lust auf einen Karaoke-Abend in der Tavern . Das ist immer ziemlich lustig.»

Kurz überlegte Dylan, ob Nolan wohl inzwischen dahintergekommen war, wen er vor sich hatte, da er ihn zum Singen einlud. Doch es sah nicht danach aus, und als Nolan nun lachend meinte: «Ich weiß ja nicht, ob du überhaupt singen kannst», atmete Dylan auf.

«Ein bisschen», antwortete er.

«Na, das reicht doch schon.»

«Ja, vielleicht. Irgendwann mal.»

«Ich nehm dich beim Wort», sagte Nolan und schäumte einen Becher Milch auf.

Dylan verließ das Café und hörte kurz darauf ein Hupen. Ein blauer Wagen fuhr heran, das Fenster wurde runtergelassen, und Savannah winkte ihn zu sich. «Guten Morgen, Dylan, wie geht es dir? Bist du genauso müde wie ich?»

Er trat näher ans Auto und konnte nicht anders, als zu lächeln. «Eigentlich genau das Gegenteil. Ich habe lange nicht mehr so gut geschlafen.»

«Na, das freut mich. Ich will zu Walmart fahren. Und ich bringe dir auch deine Kirschmarmelade mit. Hast du sonst noch irgendwelche Wünsche?»

Walmart? Er horchte auf. Dort gab es günstige Socken in der Großpackung, oder?

«Würde es dir etwas ausmachen, mich mitzunehmen?»

Kurz sah Savannah aus, als würde sie zögern. Doch dann sagte sie: «Nein, überhaupt nicht. Steig ein.»

Während er auf dem Beifahrersitz Platz nahm, blickte sie sich nervös in der Gegend um, als würde sie etwas Verbotenes tun und wolle nicht erwischt werden, dann fuhr sie los.

Sie würden die nächste Stunde oder länger miteinander verbringen. Dylan freute sich sehr darüber, selbst wenn es nur ein Ausflug zum Discounter war.