27

S avannah stand an der Rezeption und sah die Boysenberrys auf sich zukommen. Die beiden strahlten sie an und bedankten sich für das wundervolle Frühstück.

«Was für eine nette Idee», sagte Mr. Boysenberry.

«Ich bin auch immer noch ganz gerührt», fügte seine Frau hinzu.

«Das ist doch selbstverständlich, immerhin ist heute Ihr fünfzigster Hochzeitstag. Ich gratuliere noch einmal herzlich.»

«Danke schön, Sie sind zu freundlich.»

Savannah lächelte. Trotz der schlaflosen Nacht hatte sie an die beiden gedacht und ihnen einen besonderen Tisch hergerichtet mit einer roten Tischdecke und Servietten mit vielen Herzen darauf, die noch vom Valentinstag übrig waren. Außerdem gab es Brötchen in Herzform, die Alice extra gebacken hatte, und Savannah hatte herzförmige Luftballons an einem Band an den Tisch geklebt, damit sie nicht davonflogen.

«Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag. Falls Sie irgendwelche Wünsche haben, scheuen Sie sich nicht, zu mir zu kommen.»

«Oh, danke, aber wir sind wunschlos glücklich», sagte Mrs. Boysenberry. Dann begaben sich die beiden auf ihr Zimmer.

Savannah hatte Tränen in den Augen. Dieses Pärchen war das perfekte Beispiel für eine Ehe, wie sie sein sollte. Ihre Eltern führten auch eine solche. Warum, warum, warum war ihr das nur nicht vergönnt?

Die Nacht war ein Albtraum gewesen. Savannah hatte kaum ein Auge zubekommen, nachdem sie Gene verlassen hatte. Nun, so richtig verlassen hatte sie ihn ja eigentlich gar nicht. Zumindest hatte sie die Beziehung nicht endgültig beendet. Doch sie war immerhin ausgezogen, und sie konnte jetzt nur hoffen, dass ihrem Mann endlich klar werden würde, was er an ihr hatte. Und dass er sich änderte. Denn wenn nicht … würde sie nicht zurückkommen. Zimmer 8 war die nächsten Tage frei, und sie konnte es so hinbiegen, dass es das auch blieb.

Als die Frühstückszeit vorbei war und der letzte Gast das Restaurant verlassen hatte, ging sie zu Alice in die Küche.

«Ich habe im Hotel geschlafen», sagte sie.

Ihre Freundin war damit beschäftigt, die schmutzigen Teller in die Spülmaschine zu stellen, und blickte nicht einmal auf. «Ich dachte, Miles ist zurück? Wieso hast du eine Nachtschicht eingelegt?»

«Das habe ich nicht. Ich meinte, ich habe die ganze Nacht hier geschlafen. In einem der Zimmer. Weil ich zu Hause ausgezogen bin.»

Alice fiel vor Schreck ein Teller aus der Hand, und er zersplitterte auf dem Boden. «Du hast Gene endlich verlassen?» Ihre Freundin starrte sie überrascht an.

«Nein, ich habe nur meine Sachen gepackt und bin ausgezogen. Für eine Weile.»

Alice zog die Augenbrauen zusammen. «Aber ist das nicht dasselbe?»

«Nein. Denn ich habe ja nicht Schluss gemacht. Ich gebe uns eine kleine Auszeit – und Gene die Chance, sich zu ändern.»

«Glaubst du denn, er wird sich wirklich ändern?»

«Ich hoffe es zumindest.»

Alice legte ihren Kopf schräg und seufzte. «Aber willst du das denn wirklich?»

«Wie meinst du das?»

«Na, willst du, dass er sich ändert? Willst du wieder zu Hause einziehen und eurer Ehe noch eine Chance geben?»

«Wieso sollte ich das denn nicht wollen?», fragte sie verwirrt.

«Weil es dafür vielleicht schon zu spät ist?»

Savannah schüttelte den Kopf. «Nein. Ich will es wirklich. Ich bin kein Mensch, der so einfach aufgibt, das solltest du wissen.»

«Ja, ich weiß. Ich kenne dich nämlich besser, als du denkst. Und ich glaube ehrlich gesagt, dass du insgeheim schon mit deiner Ehe abgeschlossen hast.» Alice sah sie mit diesem bestimmten Blick an, und Savannah fragte sich, ob sie etwas von ihren Gefühlen für Dylan wusste. Hatte ihre Freundin sie zusammen gesehen? Oder hatte sie in ihren Augen dasselbe entdeckt wie Savannah selbst, wenn sie in den letzten Tagen in den Spiegel geguckt hatte? Da war nämlich endlich wieder ein Funkeln zu erkennen, eins, das ihr vor langer Zeit abhandengekommen war.

«Na, warten wir mal ab, was die nächsten Tage bringen», sagte sie. «Cindy macht gerade die Zimmer. Wenn sie zurück am Empfang ist, gehe ich mal kurz los und gieße Gregorys Blumen, okay?»

«Ja, klar. Ein Spaziergang um den See wird dir guttun. Du musst jetzt deine Gedanken sortieren.»

«Ja, das muss ich wohl», stimmte sie zu. Denn noch immer musste sie viel zu oft an Dylan denken. Sie hatte ihn heute noch nicht gesehen, doch zu wissen, dass er direkt im Zimmer nebenan geschlafen hatte, war merkwürdig gewesen. Und ein paarmal hatte sie sich vorgestellt, er würde an ihre Tür klopfen und sie fragen, ob er hereinkommen dürfe.

Die Gefühle, die allein diese Vorstellung bei ihr ausgelöst hatten, waren überwältigend gewesen. Und Savannah hatte sich dafür geschämt, denn sie war schließlich noch immer eine verheiratete Frau, eine gottesfürchtige noch dazu. Mitten in der Nacht hatte sie dann auf ihrem Handy ganz leise Musik von Lauren Daigle angemacht, einer christlichen Sängerin, die sie immer schon gern gehört hatte.

Früher einmal hatte Savannah auch selbst gesungen, im Kirchenchor. Das war, bevor sie wegen des Hotels keine Zeit mehr gehabt hatte, an den Chorproben teilzunehmen.

Irgendwann war sie schließlich für eine oder auch zwei Stunden weggeschlummert, doch natürlich hatte das nicht gereicht, um heute ein munterer und fröhlicher Mensch zu sein, und Savannah wusste auch gar nicht, wann sie überhaupt wieder fröhlich sein würde. Im Moment war sie einfach zu durcheinander, es war zu viel passiert. Aber Alice hatte recht, ein Spaziergang am See würde genau das Richtige sein, um einen klaren Kopf zu bekommen.

 

Um kurz vor eins spazierte Savannah los. Sie ging bewusst langsam. Cindy würde noch bis um drei da sein, sie hatte also genügend Zeit. Einen Moment lang überlegte sie, ihr Handy hervorzuholen und Helena von ihrem Auszug zu erzählen, doch dann würde ihre Freundin sicher sofort ihren Sushi-Kurs absagen, und Savannah ahnte ja, wie sehr Helenas Schwester Lexi sich schon darauf freute. Denn Lexi war wohl mit dem größten Sushi-Liebhaber überhaupt zusammen und hatte den Kurs wahrscheinlich nur belegt, um ihrem Aaron endlich selbst welches zaubern zu können. Savannah wollte den Schwestern die gemeinsame Zeit nicht verderben. Also schritt sie voran und ließ das Handy in der Tasche.

Nach nicht einmal zweihundert Metern entdeckte sie Dylan, und zwar wieder an jenem Baum, wo sie neulich neben ihm gesessen hatte. Er schrieb in sein Notizheft, und Savannah vermutete, dass es sich um ein Songbook handelte.

Sie wollte ihn nicht stören, doch er schien ihre Anwesenheit zu spüren, blickte auf und lächelte. Sie winkte, und er erhob sich und kam auf sie zu.

«Hallo», sagte er. «Wie geht es dir?»

Seinem besorgten Blick entnahm sie, dass er bereits irgendwo von ihrem Einzug ins Hotel gehört hatte.

«Es geht so. Ich will gerade zum Haus meines Bekannten auf der Ostseite des Sees gehen. Er ist verreist, und ich gieße seine Blumen.»

«Darf ich dich ein Stück begleiten?», fragte Dylan. Und obwohl Savannah wusste, dass es nicht richtig war, nickte sie. Es war doch nur ein Spaziergang, was sollte daran denn so schlimm sein?

«Gerne.»

Dylan lächelte erneut, steckte sich das Heft hinten in den Bund seiner Jeans und ging neben ihr her.

«Hast du da gerade einen Song geschrieben?», fragte sie.

«Ich habe es versucht, ja. Aber es fällt mir nach wie vor ziemlich schwer.»

«Oh, das tut mir leid.»

«Das muss es nicht. Wenn es nicht sein soll, dann ist es so. Irgendwann wird es vielleicht wieder besser klappen.»

«Ja. Manchmal hat man so viel anderes im Kopf, dass für die schönen Dinge nichts mehr übrig bleibt.»

«Bei mir ist es ein bisschen was anderes», vertraute Dylan ihr an. «Es ist etwas vorgefallen … Danach ging einfach gar nichts mehr. Ich war nicht mehr derselbe.»

Savannah sah diesen Mann an ihrer Seite an, der doch noch gar nicht so alt war und schon so wirkte, als hätte er viel Kummer hinter sich. Doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie könnte sie ihm denn schon helfen?

«Mein Bruder Ronny ist letztes Jahr gestorben», sagte er, und seine Stimme brach dabei.

«Oh mein Gott, wie traurig. Das tut mir sehr leid.» Sie selbst hatte ja weder Bruder noch Schwester, doch sie wusste von Helena und Lexi, wie innig eine Beziehung zwischen Geschwistern sein konnte. Und sie erinnerte sich an das, was Dylan geantwortet hatte auf ihre Frage, ob er sich Kinder wünsche. Zwei Jungen, hatte er gesagt.

«Danke», krächzte er, und dann sagten sie gar nichts mehr, sondern gingen nur still nebeneinanderher.

Irgendwann erreichten sie Gregorys Haus, und Savannah ließ Dylan mit eintreten. Gregory hatte sicher nichts dagegen. Denn was sollte schon passieren? Er würde weder eine der Orchideen klauen noch das Bild mit den bebrillten Hunden.

«Wow!», sagte er und blickte sich sprachlos um.

Sie lachte. «Ja, diese Einrichtung ist mal was anderes, oder?»

«Das kannst du laut sagen.»

Dylan lachte nun ebenfalls und deutete auf die quietschgelbe Skulptur von zwei rammelnden Ziegen.

«Gregory ist ein wenig … nennen wir es extravagant . Ich war noch nie in seinem Haus, bevor er mich gebeten hat, seine Orchideen zu gießen. Und ich glaube, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich seine Bitte abgelehnt. Das ist nämlich schon ein bisschen traumatisierend.» Sie grinste schräg.

Da mussten beide erneut lachen, und Savannah war froh, dass die Stimmung nicht mehr so bedrückt war. Sie ging hoch in den zweiten Stock, wo die Orchideen ihr eigenes Zimmer hatten, und begann, sie zu gießen. Dylan folgte ihr und fragte, ob er irgendwie helfen könne.

«Du kannst die Gießkanne wieder mit Wasser auffüllen, wenn du magst.» Sie reichte ihm die leere Kanne.

«Klar. Vom Wasserhahn?»

«Ähm. Nein, da müsstest du raus zur Regentonne. Das Regenwasser ist weicher und besser für die Pflanzen.»

«Oh. Okay.» Dylan zuckte die Achseln und ging die Treppen runter. Währenddessen versuchte Savannah, ruhig durchzuatmen.

Wieso war denn mit diesem Mann alles so verdammt aufregend? Ein spätes Abendessen im einsamen Hotelrestaurant, ein Supermarktbesuch, ein Spaziergang am See, das Blumengießen bei Gregory … Und die ganze Zeit lag etwas in der Luft!

Vielleicht war es die Tatsache, dass sie allein waren? Und dass, wenn sie es wollten, jederzeit mehr passieren konnte? So wie hier in Gregorys Haus. Niemand weit und breit, nur Savannah und Dylan. Sie könnten sich hier die Kleider vom Leib reißen, und niemand würde je davon erfahren.

Natürlich würde Savannah das niemals tun. Sie war verheiratet. Doch allein der Gedanke …

Dylan kam zurück und stellte die Gießkanne ab. Dann sah er ihr dabei zu, wie sie die Blätter der Blumen besprühte.

«Was ist in der Sprühflasche drin?», fragte er.

«Ich habe keinen blassen Schimmer», erwiderte sie und lachte nervös. Dann fing sie Dylans Blick auf, der wieder so stechend war. Auf eine angenehme Weise intensiv. Er sah sie an, als würde er sie begehren, und das hatte Savannah schon sehr lange nicht mehr erfahren.

«Bitte hör auf», sagte sie schließlich, weil sie sonst für nichts garantieren konnte.

«Womit denn?» Dylan schien verwirrt.

«Na, mich so anzusehen.» Ihr Blick war starr auf die Blumen gerichtet.

«Oh, tut mir leid, ich wollte nicht …»

«Ich bin verheiratet, Dylan», erinnerte sie ihn.

«Ja, das weiß ich. Ich wollte wirklich nicht … dass du dich unwohl fühlst in meiner Nähe.»

«Tue ich nicht. Ganz im Gegenteil. Und das ist ja das Problem.» Endlich wagte sie es, ihn anzusehen.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen, doch er verbarg es gleich wieder.

«Ich kann das nicht», sagte sie. «Es tut mir leid.»

Er nickte. «Schon okay. Ich verstehe.» Und trotz seiner Worte kam er einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand.

Obwohl sie wusste, dass sie sich ihm sofort entziehen sollte, ließ sie ihn gewähren. Ein paar Sekunden lang. Bis er noch ein bisschen näher kam und sein Gesicht ganz dicht an ihrem war. Sie waren sich so unglaublich nah, und dieses zunehmende Kribbeln war eigentlich viel zu schön, um es aufzuhalten. Doch sie durfte es einfach nicht zulassen. Und bevor ihre Lippen sich trafen und ihre Körper miteinander verschmolzen, machte Savannah einen Cut.

Sie trat einen Schritt zurück und zog ihre Hand weg.

Dylan schüttelte den Kopf. «Entschuldige. Ehrlich. Ich weiß selbst nicht genau, was hier mit mir passiert.»

Da ging es ihm wie ihr. Denn sie wusste es auch nicht.

«Wir sollten gehen», sagte sie, und wenige Minuten später verließen sie das Haus.

Ob sie nun alle Orchideen gegossen und besprüht hatte, vermochte Savannah nicht genau zu sagen, aber ihr klarer Verstand schien ihr ja sowieso abhandengekommen zu sein.

Draußen sagte Dylan: «Ich hab da vorne einen Baum entdeckt, an dem es sich sicher gut schreiben lässt.»

«Ja, bestimmt.» Savannah war froh, dass er nicht mit ihr zurückspazieren wollte, und sie wusste, er hatte es ihr zuliebe so entschieden. «Okay. Wir sehen uns sicher später im Hotel.»

Dylan nickte und ging den Weg entlang.

Savannah sah ihm nach, und in genau diesem Moment wünschte sie, sie wäre nicht mehr verheiratet, sondern frei, das zu tun, was immer sie tun wollte.

Sie lief los, in die andere Richtung. Doch nur fünf Häuser weiter blieb sie plötzlich stehen und starrte verwirrt auf zwei Männer, die mit ein wenig Abstand aus einer Eingangstür herauskamen. Es waren Nolan und Jamie, dessen Onkel dieses Haus gehörte.

Du heiliger Maiskolben! Hatten die beiden etwa was am Laufen?

Nolan entdeckte sie, wie sie dastand und starrte, und er eilte schnell davon. Jamie tat so, als wäre nichts geschehen, grüßte kurz und spazierte an Savannah vorbei. Doch sie konnte ihm ansehen, dass es ihm genauso ging wie ihr selbst. Er fühlte sich schuldig. Und im Gegensatz zu ihr hatte er anscheinend allen Grund dazu.