A m nächsten Morgen, während Savannah, Helena, Lexi und Trish noch schliefen, saßen die drei Tratschtanten bereits wieder im Paradise Café und unterhielten sich über die Neuigkeiten in ihrem Städtchen. Natürlich war das wohl Spannendste die Tatsache, dass Gene Keller am Morgen schlafend auf dem zentralen Platz aufgefunden worden war.
«Er war sturzbesoffen!», erzählte Murielle. «Wyatt hat zwei Helfer gebraucht, um ihn nach Hause zu manövrieren.»
«Herrje. Warum hat er denn mitten auf dem Platz geschlafen?», fragte Delores.
«Das weiß der Himmel.» Murielle schüttelte verständnislos den Kopf. Vor allem war sie sauer, weil ihr Sohn eigentlich seine freie Nacht gehabt hätte, wegen Gene aber schon um fünf Uhr morgens gerufen wurde. Er hatte sie wecken müssen, damit sie rüber in sein Haus kam, um auf Abigail aufzupassen, die natürlich noch schlief. Weshalb Murielle jetzt sehr müde war – und das an einem Sonntagmorgen! Wo es ihr doch sowieso schon schwerfiel, anderthalb Stunden lang dem Gottesdienst zu folgen, ohne ein Wort sagen zu dürfen.
«Es nimmt ihn so schwer mit, dass Savannah ihn verlassen hat», meinte Delores.
«Wissen wir denn inzwischen sicher, dass sie das hat?» Murielle wandte sich an Sadie.
Die wusste aber leider nicht mehr als ihre Freundinnen. «Ich weiß nur, dass Savannah noch immer im Hotel wohnt.»
«Also, ich finde, das sagt alles», erklärte Murielle bestimmt.
Und Sadie wusste zu berichten: «Gestern Abend war sie bei Lexi, hat Donna mir erzählt. Zusammen mit Helena und Trish. Sie haben wohl einen Filmabend veranstaltet oder etwas in der Art. Helena ist diesmal ja ohne die beiden Kleinen in der Stadt.»
«Oh, tatsächlich? Warum hat sie sie nicht mitgebracht?», wollte Delores wissen.
«Sicher hat Leslie wieder ein Pfadfindertreffen, oder Mattie hat ein Fußballspiel», vermutete Murielle.
«Ja, das wird es sein», sagte Sadie, wunderte sich aber dennoch ein wenig. Denn im Normalfall wäre Helena dann auch nicht nach Lake Paradise gekommen. Es stand ja auch kein Geburtstag oder ein anderer wichtiger Feiertag an, den sie auf keinen Fall versäumen durfte.
«Ich hätte die beiden Kleinen zu gerne mal wiedergesehen», sagte Delores, die sich immer freute, Kinder in ihrer Nähe zu haben.
«Helena bringt sie bestimmt bald mal wieder mit her», sagte Murielle. «Und bis dahin bist du jederzeit eingeladen, mit Abigail und mir zum See zu kommen. Wir wollen dort heute Nachmittag auf den Spielplatz gehen.»
Es gab zwar auch einen kleinen Spielplatz im Ortszentrum, doch Abigail mochte den am See viel lieber, wie wohl die meisten Kinder. Denn dort gab es neben einer Schaukel und einer Rutsche noch tolle Klettergerüste und ein paar Wasserspiele, die nun im Mai auch wieder angestellt waren. Es war bereits ziemlich warm, an diesem Sonntag um die zweiundzwanzig Grad, da konnten die Kleinen gerne mit Wasser herumspritzen.
«Vielen Dank für das Angebot», sagte Delores. «Ich werde mal hören, was George so vorhat. Vielleicht komme ich aber darauf zurück.»
Murielle lächelte ihre Freundin an, von der sie ja wusste, wie einsam sie sich ohne Enkelkinder fühlte. Wie froh war sie selbst immer wieder, dass sie Abigail hatte. Auch wenn sie Bedauern empfand, dass ihr einziger Sohn ohne Frau dastand. Nachdem Wyatt kurz nach Abigails Geburt von Hannah verlassen wurde, war der Arme am Boden zerstört. Und auch heute, viereinhalb Jahre später, hatte er sich noch nicht an eine neue Beziehung gewagt. Dabei war er so ein gut aussehender Kerl, er sah seinem Vater so unglaublich ähnlich …
«Alles in Ordnung?», fragte Sadie und riss Murielle aus ihren Gedanken.
«Wie bitte?»
«Du starrst seit zwei Minuten in die Gegend, ohne ein Wort zu sagen. Geht es dir gut?»
«Jaja, alles gut. Ich habe nur gerade über Wyatt nachgedacht.» Dass sie auch an seinen Erzeuger gedacht hatte, mussten ihre Freundinnen nicht erfahren, zumal keine von ihnen wusste, wer dieser überhaupt war. Sie hatte nicht viele Geheimnisse vor Delores und Sadie, ein oder zwei waren es aber doch, und dies war eines davon.
«Ist irgendwas mit ihm? Es geht ihm doch gut?», wollte Delores wissen.
«Es geht ihm gut. Ich mache mir nur Sorgen um ihn. Es ist doch wirklich an der Zeit, dass er sich wieder verliebt, oder was meint ihr?»
«Ja, das habe ich neulich auch gedacht», sagte Sadie. «Dann ist mir aber klar geworden, dass er das wahrscheinlich sogar schon ist.»
Murielle machte große Augen. «Was? Verliebt?»
«In wen denn?», fragte Delores neugierig.
«In Trish Price, denke ich. Ich habe die beiden am Freitag in Ruperts Supermarkt gesehen, und Wyatt hat ihr Blicke zugeworfen … Die konnte man eigentlich nicht falsch deuten.»
Murielle schüttelte den Kopf. «Also, ich würde es doch wohl wissen, wenn mein Sohn verliebt wäre, oder?»
«Nun … wie erklärst du dir denn sonst, dass Wyatt ständig im Tiersalon ist?» Sadie sah sie stirnrunzelnd an.
«Na, er ist dort, weil Abigails Meerschweinchen die Krallen geschnitten werden müssen. Oder weil ich ihn bitte, eine meiner Katzen hinzubringen.»
«Bittest du ihn denn wirklich, oder bietet er es dir vielmehr an?», fragte Sadie.
Da musste Murielle erst mal überlegen. Und Sadie hatte recht! Wyatt war ihr tatsächlich ein paarmal zuvorgekommen und hatte es angeboten, bevor sie überhaupt dazu gekommen war zu fragen.
«Mag sein», sagte sie. «Ich werde dem mal auf den Grund gehen …»
«Sag uns Bescheid, wenn du etwas herausgefunden hast», bat Delores, die es ganz wundervoll finden würde, wenn sich zwischen Wyatt und Trish etwas anbahnen würde. Vielleicht würde es dann in Lake Paradise bald noch mehr Kinder geben. Apropos Kinder!
«Habt ihr es schon gehört?», fragte sie. «Der kleine Aaron kann jetzt schon krabbeln.»
«Oh, wirklich?» Sadie dachte lächelnd an den Sohn von Jonah und May Truman, der im letzten September geboren worden war. Damals war Aaron Highmore zum ersten Mal seit zwölf Jahren wieder in der Stadt gewesen und hatte sich in Lexi verliebt. Da er als Kind Jonahs bester Freund gewesen und es anscheinend all die Jahre über geblieben war, hatte dieser seinen Neugeborenen nach Aaron benannt.
«Oh ja! May hat uns gestern mit dem Kleinen besucht. Er ist aber auch zu süß.» Delores’ Augen leuchteten.
«Abigail konnte auch schon früh krabbeln, und zwar mit sieben Monaten!», warf Murielle sofort ein, da sie fand, das sollte dringend erwähnt werden.
Sadie schmunzelte, denn sie wusste ja, dass für Murielle ihre kleine Enkelin immer die Beste und Größte in allem sein würde.
Delores sah auf die Uhr. «Oh, es ist schon fast Zeit, um aufzubrechen. Der Gottesdienst fängt bald an.»
Auch Murielle blickte auf die Uhr. «Ja, wir sollten uns aufmachen.»
Sie alle fischten ein paar Scheine aus ihren Taschen und legten sie für Nolan auf den Tisch. Dieser winkte ihnen zu und wünschte einen schönen Tag, dann spazierten die drei aus dem Café.
Draußen stand Buddy bereits am Rande der Wiese und verteilte blaue Zettel. Stirnrunzelnd ging Murielle auf ihn zu.
«Warum sind die Zettel denn heute blau?», wollte sie wissen.
Buddy zuckte die Achseln. «Das gelbe Papier war ausverkauft, da musste ich blaues nehmen.»
Murielle ließ sich einen Zettel geben und nahm auch gleich zwei für ihre Freundinnen mit. Sobald sie alle auf der Kirchenbank Platz genommen hatten, kamen sie zum Lesen.
Blaues Papier.
Blauer Himmel.
Blaues Auge.
Blaues Wasser.
Blaue Blumen.
Blaues Haus.
Blaues Gedicht.
Blauer Tag.
Sadie lachte laut auf, erinnerte sich aber sogleich daran, dass sie in der Kirche saß, und hielt sich die Hand auf den Mund. «Na, das ist mal ein blaues Gedicht», sagte sie schließlich.
«Also, ein Gedicht würde ich das nun gar nicht nennen wollen», meinte Murielle abschätzig.
«Aber es spiegelt schon unser Städtchen wider, oder?», fragte Delores. «Er hat es auf den Punkt getroffen.»
Ja, das hatte Buddy wohl. Und doch kam Murielle das alles merkwürdig vor. Allein schon das ungewohnte blaue Papier … Es war, als wäre es eine Vorwarnung. Vielleicht würde der Himmel ja gar nicht mehr lange blau sein, und ein Unwetter war im Anmarsch.