Eine seltsame Begegnung

Der Prof hatte Ahnung von erster Hilfe und sah sich deshalb Monicas Hand an. »Reiner, feiner Schnitt«, meinte er. »Und nicht besonders tief. Das ist bald verheilt.«

»Und du?«

»Ich kriege schon Nasenbluten, wenn mich jemand zu scharf anguckt«, sagte er. »Das dauert nicht lange.«

Wir halfen ihr dabei, die Glasscherben zusammenzufegen.

»Ich glaube, ich kenne deine Schwester«, sagte ich. Der Prof bedachte mich mit einem warnenden Blick, aber ich fand es richtig, dieses Risiko einzugehen.

»Pia?«

»Ja. Sie hat uns zum Einweihungsfest vom neuen Restaurant deines Vaters eingeladen.«

»Viel Vergnügen.«

»Gehst du nicht hin?«, fragte der Prof.

»Nein, darauf kannst du Gift nehmen. Wer seid ihr überhaupt?«

Wir stellten uns vor und ich merkte zu meiner Erleichterung, dass unsere Namen ihr absolut nichts sagten.

»Mein Vater ist ein Arsch«, sagte sie. »Ein materialistischer Hirni. Mehr gibt's dazu im Grunde nicht zu sagen. Von mir aus soll er feiern, so viel er will.«

»Und dieser Typ, der eben hier war?«, fragte ich und nickte dabei zu dem Schrotthaufen hinüber, der uns umgab. »Hast du den gekannt?«

»Noch nie gesehen. Die Zustände in dieser Stadt werden wirklich immer schlimmer. In der vergangenen Woche hat ein Kerl in den Topf der Yuccapalme gepisst. Kein Wunder, dass sie die Blätter hängen lässt. Ich werd mir noch einen Pitbull zulegen müssen. Wie geht's Pia denn?«

»Gut, soviel ich weiß«, log ich.

»Wir haben nicht sehr viel Kontakt. Aber Pia ist schon in Ordnung. Sie ist Stier. Das sind ruhige Leute. Danke für eure Hilfe, Jungs. Ich glaube, ich mache jetzt Feierabend.«

Doch da wurde hinter uns die Tür geöffnet. Wieder bimmelte die Glocke und nach allem, was hier schon passiert war, erschien mir das als Alarmsignal.

»Aber Kind, was ist denn hier los?«

Wir fuhren herum. Vor uns stand Dreiäuglein. Liselotte Winger. Sie trug ein dunkelgrünes Kostüm mit passendem Stirnband. Tolle Frau, das musste ich zugeben. Verwirrt starrte sie den Scherbenhaufen an.

»Monica …«

Mit Monica passierte etwas. Sie kniff die Augen zusammen und ballte die heile Hand zur Faust.

»RAUS!«, schrie sie. »Hier hast du keinen Zutritt!«

»Aber liebes Kind, ich …«, Liselotte Winger wirkte wirklich verzweifelt. Sie machte einige unsichere Schritte auf uns zu.

Der Prof räusperte sich. »Also, wenn wir sonst nichts tun können, dann sollten wir uns wohl zurückziehen.« Er schaute auf die Uhr. »Himmel, schon nach halb drei.«

Monica Winger sah uns nicht mehr. Sie war völlig in den Versuch vertieft, mit ihren dunklen Augen ihre Mutter tödlich zu durchbohren. Der Prof und ich drückten uns seitwärts am Opfer vorbei in Richtung Tür.

Als wir die Tür öffneten, hörten wir Mutter Winger jammern: »Aber Monica, wir müssen doch miteinander reden können.«

»Hau ab hier, hab ich gesagt!«

Wir schlossen die Tür hinter uns.

»Tja«, sagte der Prof. Er betrachtete sein blutbeflecktes Taschentuch. »Ich weiß nicht so recht, was wir davon halten sollen.«

Ich zog ihn einige Meter weiter. »Die hassen sich gegenseitig«, sagte ich. »Auf jeden Fall hasst Monica ihre Mutter. Das hier war nicht einfach ein Moment von mieser Laune.«

»Was für ein Einkaufsbummel«, sagte der Prof. »Zuerst taucht ein Hirni auf und schlägt einen Tresen und eine sauteure chinesische Vase zu Klump. Und dann erzählt sie uns, dass ihr Vater ein Arsch ist. Und dann …«

»Dann schaut ihre Mutter herein und wird in Grund und Boden gepöbelt«, fügte ich hinzu. »Leffy kennt Monica ein bisschen. Er findet sie reichlich durchgeknallt.«

»Und weiß er sonst noch was?«

»Dass sie sehr wenig Kontakt zu ihrer Familie hat.«

»Ja, den Eindruck hatte ich auch«, sagte der Prof. »Das glaub ich also gern. Ansonsten kam sie mir nicht so schrecklich verrückt vor. Was ich hier nicht raffe, ist, warum sie nicht sofort die Bullerei angerufen hat.«

»Genau«, sagte ich. »Dieser Überfall war geplant. Der Typ hatte draußen einen Kumpel auf einem Motorrad mit laufendem Motor postiert. Und besoffen war er auch nicht, wie sie uns einreden wollte.«

Wir setzten uns auf eine Treppe. Draußen auf der Straße strömte träge der Verkehr vorüber und die miese Innenstadtluft bewegte sich nicht einen Millimeter. Es war heiß.

»Eins macht mir Gedanken«, sagte der Prof. »Wenn Pia nicht hysterisch ist und wenn ihr Vater wirklich auf irgendeine Weise unter Druck gesetzt wird, dann gilt das vielleicht auch für Monica. Sie kann ihn offenbar nicht leiden, aber vielleicht geht es bei dieser Kiste trotzdem um die ganze Familie. Und dann ergibt es einen Sinn, dass so ein Kerl ihren Laden verwüstet. Das machen ‘Beschützer’ und bezahlte Schläger doch gern. Und dass ihre Mutter auftaucht, fügt sich auch in dieses Muster. Wir haben da eben doch keinen spontanen Wutanfall erlebt.«

»Du meinst, ihre Mutter ist im Laden aufgetaucht, weil sie in einer Lage steckt, in der sie einfach Kontakt zum Rest der Familie aufnehmen muss? Obwohl sie weiß, dass sie nicht willkommen ist?«

»So in etwa.«

»Steht heute in den Zeitungen irgendwas über Magne Vendel?«, fragte ich.

»Es wird nur kurz erwähnt, dass er gestern tot aus dem Hafenbecken gefischt worden ist. Die Kopfverletzung wird auch erwähnt, aber das ist alles. Ansonsten gibt es keinerlei Spekulationen. Der Fall wird als unklarer Todesfall untersucht, aber laut Polizei gibt es noch keinen Anlass zur Annahme, es sei Mord gewesen.«

»Eigentlich ein bisschen seltsam, dass dieses Fest nicht abgeblasen worden ist«, sagte ich. »Vendel war doch trotz allem Karl Wingers Geschäftspartner.«

»Das habe ich total vergessen. Karl Winger hat das in einem Interview in VG gesagt. Er sagt, er sei zutiefst geschockt, aber er könne das alles nicht so kurzfristig absagen. Außerdem behauptet er, das Atlantis sei von Anfang an Vendels Idee und Augapfel gewesen. Und es wie geplant zu eröffnen sei in Vendels Sinn. Was er nicht sagt, was aber die Jungs unten beim Dagbladet gemurmelt haben, ist, dass er wohl kaum eine Wahl hat. Er pfeift so ungefähr auf dem letzten Loch. Ein Kumpel von Gøran sagt ganz offen, wenn das Atlantis nicht von Anfang an auf Hochtouren läuft, dann ist Winger fertig. Endgültig, wohlgemerkt. Von einem zweiten Absturz wird er sich nicht wieder erholen.«

»Interessant«, sagte ich. »Auf die Idee wäre ich gestern Abend auf seiner Terrasse nicht gekommen.«

»So leben diese Knaben eben, Peter«, sagte der Prof. »Bei denen heißt es alles oder nichts. Aber hallo! Da haben wir ja die Exgattin.«

Liselotte Winger kam in raschen Schritten die Straße entlang. Sie wirkte gelinde gesagt hektisch und ihr Hals war von roten Flecken übersät. Offensichtlich war sie außer sich vor Wut. Ein Stück von uns entfernt stand ein großes, schwarz lackiertes Auto, der Motor wurde angelassen, als sie es erreichte. Jemand öffnete von innen die Tür und wir sahen für einen Moment eine sonnengebräunte Männerhand mit einer pfundschweren Rolex. Liselotte Winger glitt auf den Vordersitz und der Wagen fuhr los.

»Verdammt!«, sagte der Prof. »Das war lahm von uns. Wir hätten uns die Autos hier in der Nähe ansehen sollen. Ich gab was drum, wenn ich wüsste, wer in dieser Karre gesessen hat.«