Der Tote hat einen Namen

Die ganze Kiste war ja total unwirklich. Der Anblick von Aker Brygge selber, mit den sonnenbraunen Leuten und dem frohen Lachen, hatte null und nichts mit dem Tod zu tun.

»Mach keinen Scheiß«, sagte ich. »Du musst dich irren.«

»Sieh doch selber, Mann!« Der Prof überließ mir seinen Platz. Hinter mir hörte ich eilige Schritte und gleich darauf fiel eine Tür ins Schloss. Falls ihre Vorfahren nicht in einem Hinterzimmer schliefen, hatte Pia uns die Bude überlassen.

Ich drehte das Teleskop schärfer. Es war einfach unglaublich leistungsfähig. Fast hätte ich die Mitesser im Nacken eines fetten Sacks zählen können, der da unten mit den Armen fuchtelte. Ich wanderte zum Hafenbecken weiter, in dem der Cabincruiser lag, und sah die erste Leiche meines Lebens. Es konnte leider keinen Zweifel geben. Lebendige Menschen trieben nicht ganz still mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Angezogen war der Tote auch. Helle Hose und rotes Hawaiihemd. Ich hatte ein verdammt mieses Gefühl. Nicht nur weil ich eine Leiche anglotzte, sondern auch weil Pia es plötzlich so eilig gehabt hatte. Vor nur wenigen Minuten hatte sie erzählt, dass sie Angst hatte, jemand setze ihren Vater unter Druck. Der Prof hatte offenbar so ungefähr dasselbe gedacht, denn jetzt sagte er: »Wenn der Typ da unten …«

»Wenn der Typ da unten Pias Vater ist, dann wirst du garantiert bereuen, dass du so verdammt unhöflich warst«, sagte ich. Ich ließ das Teleskop los und stützte mich schwer auf das Geländer. Oben beim Rathaus leuchteten zwei Blaulichter auf. Ein Streifenwagen und ein Krankenwagen bahnten sich den Weg durch den Verkehr.

»Das kann nicht möglich sein«, sagte der Prof. »Das ist ein mieser Film.«

»Warte hier«, sagte ich. »Ich halte Ausschau nach Pia.«

»Ich komme mit«, sagte er.

»Irrtum«, sagte ich. »Du bleibst hier. Bei dem Tempo, das sie vorgelegt hat, kann sie sehr gut ihre Schlüssel vergessen haben. Schau dich lieber ein bisschen hier oben um. Ich habe ganz stark das Gefühl, dass sich hier irgendwas zusammenbraut, und wir wissen doch nicht, ob wir noch häufiger hier oben das Parkett platt treten werden.«

»Na gut«, sagte der Prof. »Wonach soll ich mich umsehen?«

»Nach Leuten. Du musst ganz sicher sein, dass du hier oben allein bist, bevor du Schubladen und Schränke durchwühlst. Wenn ich Pia finde, klingele ich unten einmal, ehe wir hochkommen. Dann packst du deinen Hintern ein und bringst ihn zurück auf die Terrasse.«

Ich ging.

Manche sterben ruhig in einem Krankenhausbett oder vielleicht zu Hause auf dem Sofa. Sie werden diskret davongetragen und in einen Sarg gelegt und nur ihre nächsten Angehörigen erfahren davon. Bei dem Mann, der an diesem Juniabend im Osloer Hafenbecken lag, sah das anders aus. Er hatte ein Publikum von mehreren hundert Menschen. Als ich unten ankam, stieß ich gegen eine Wand aus sonnenbraunem Fleisch, es war fast kein Durchkommen. Die beiden Blaulichter hatten dasselbe Problem. Der Wachdienst von Aker Brygge musste in einigen Fällen ziemlich energisch zulangen, um dem Wagen einen Weg freizuräumen. Ich sah, dass der eine ein Feuerwehrauto war, kein Krankenwagen, wie ich gedacht hatte. Die Feuerwehr war für solche Fälle zuständig. Vermutlich hatten sie rund um die Uhr Taucher in Bereitschaft.

Ich ging in die Hocke und quetschte mich durch die Beine der Schaulustigen hindurch. Als ich endlich das Hafenbecken erreichte, waren schon zwei Taucher ins Wasser gestiegen. Sie hatten es nicht sehr eilig, der Mann war ja einwandfrei tot. Ich fürchtete einen Moment, er könne schon sehr lange tot gewesen sein, ich hatte keine Lust, für den Rest meines Lebens eine Horrorerinnerung mit mir herumzuschleppen. Aber als die Taucher die Leiche dann zum Beckenrand gebracht hatten und die Polizisten sie nach oben zogen, sah ich zu meiner Erleichterung, dass der Mann Gesicht und Haare hatte. Er schien zu schlafen. In diesem Moment entdeckte ich Pia. Sie war zwischen zwei Fleischbergen in Bermuda-Shorts eingeklemmt.

Und sie weinte und nagte an ihrem kleinen Finger. Verdammt, dachte ich. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich hatte noch nie Leute trösten müssen, die ihren Vater verloren hatten. Ich hielt das auch für ziemlich unmöglich, aber einen Versuch musste ich immerhin machen.

»Lasst mich durch, zum Teufel«, fauchte ich. Das half.

Pia zuckte zusammen, als sie mich sah. Ich zog sie zwischen Muskeln und Bermudas hervor und hielt sie plötzlich in den Armen. Ihre Haare dufteten nach Sonne und sie zitterte heftig.

»Das ist wirklich schrecklich«, sagte ich und streichelte vorsichtig ihren Rücken. »Das ist einfach schrecklich.«

»Reg dich ab«, schniefte sie. »Er ist nicht mein Vater.«

Ich hatte das Gefühl, nach einem Tagesmarsch einen bleischweren Rucksack ablegen zu dürfen. Oder vom Boden abzuheben. Ich hätte gern laut gelacht, aber das tat ich natürlich nicht.

»Na los«, sagte ich. »Weg hier.«

Ich zog sie durch die Menschenmenge und unter die Markise eines Straßencafés, das jetzt so gut wie leer war. Sie wischte sich mit einem T-Shirt-Zipfel die Augen trocken und riss sich gewaltig zusammen.

»Schieß los«, sagte ich. »Behaupte nicht, dass du ihn nicht kennst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hast du eine Zigarette?«

Ich gab keine Antwort. Ich lief ins Restaurant und kaufte für mein letztes Geld eine Schachtel Prince und Streichhölzer. Gab ihr eine Kippe und danach Feuer. Sie machte einen Lungenzug und stieß den Rauch dann durch die Nase wieder aus. »Das war Onkel Magne«, sagte sie.

»Dein Onkel?«

»Nein, das nicht … er ist kein echter Onkel. Wir nennen ihn nur so. Ich kenne ihn mein Leben lang. Mein Vater und er waren schon vor meiner Geburt Geschäftspartner.«

»Pia!«, sagte ich. »Das musst du denen dahinten erzählen!« Ich nickte zu den uniformierten Jungs und Mädels am Beckenrand hinüber. Sie hatten die Leiche jetzt auf eine Bahre gelegt und schoben sie in den Feuerwehrwagen.

»Nein«, sagte Pia. »Jetzt nicht.« Sie ging vor mir her zum Eingang des Palasts, in dem sie wohnte, und ich sah ein, dass es blödsinnig von mir gewesen wäre, sie jetzt zu etwas überreden zu wollen.

Sie hatte ihren Schlüssel nicht vergessen. Ich weiß wirklich nicht, wo sie ihn aufbewahrt hatte, denn das Einzige, was sich unter ihrer hautengen Kleidung ausgebeult hatte, war weich und rund gewesen.

Ich machte einen kurzen Besuch beim Klingelknopf, dann folgte ich ihr ins Haus.