Ein Mörder bekommt ein Gesicht

Es war Leif Linde. Der Prof und ich waren so ins Gespräch vertieft gewesen, dass wir ihn nicht gehört hatten.

Der Prof riss sich den Stöpsel aus dem Ohr. »Los! Das muss ich sehen. Die Aufnahme wird nicht so gut, aber das Mikro kann problemlos auch dreißig oder vierzig Meter schaffen. Links von dem großen Wohnzimmerfenster gibt es im Berg eine Mulde. Aus ihrem hellen Zimmer heraus können sie uns nicht sehen, solange wir uns nicht aufrichten, aber wir sehen sie.«

»Und was ist mit allem, was sie sagen?«, fragte ich gereizt und kroch hinter ihm her.

»Die Aufnahme läuft doch, du Trottel. Das können wir uns nachher immer noch anhören.«

Wir rannten um das Haus herum. Zu der Mulde, von der der Prof gesprochen hatte, führte eine schmale Felsscharte. Als wir uns ins Gras fallen ließen, waren wir sofort triefnass, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Das hier war das Finale und wir saßen dabei in der ersten Reihe.

Liselotte saß auf dem Sofa und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Karl stand zusammen mit Tom Turbo mitten im Zimmer. Und Leif Linde betrat die Bühne von der rechten Seite. Wir stopften uns die Stöpsel in die Ohren und der Prof stellte den Ton lauter.

»... unmöglich«, sagte Karl Winger. »Hat sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen?«

Tom lachte. Ein kurzes, hartes Lachen. »Nein, hier ist nur die Rede von Familie und lieben Freunden.«

»Tja«, sagte Linde. »Am Heiligen Abend sollte man doch ein bisschen Großmut zeigen. Im schnöden Alltag würde ich es ja als Beleidigung empfinden, als lieber Freund von Karl bezeichnet zu werden.« Er trat einen Schritt vor und bohrte Winger den rechten Zeigefinger in die Brust. »Setzen!« Er schob Winger zum Sofa und drückte ihn neben Liselotte aufs Polster. »Und damit das klar ist: Tom und ich sind bewaffnet. Ich schlage vor, wir lassen das Spielzeug erst mal stecken, sonst wird das alles so melodramatisch.« Er klopfte sich auf die Jackentasche. »Wir wollen uns doch wie Erwachsene benehmen, oder?«

»Ich hätte es mir ja denken können«, sagte Winger. »Dass du nie genug haben würdest!«

»Irrtum! Du weißt, dass ich nie genug bekommen habe. Als alles in den Teich ging, haben du und Magne mich mit lausigen zweihunderttausend abgespeist. Das geheime Vermögen hatte in erster Linie Magne angehäuft. Er hatte die gerissenen Transaktionen vorgenommen. Als er sagte, für jeden seien noch zweihunderttausend übrig, musste ich ihm doch glauben. Aber als ihr nur zwei Monate später wieder im Geschäft wart, wusste ich ja, was abgelaufen war. Da habe ich alles durchschaut. Und mir fiel ein, wie oft ihr versucht hattet mich auf freundschaftliche Weise aus der Firma zu drängen.«

»Stimmt«, sagte Winger. »Du warst für uns ein Klotz am Bein. Wir konnten dich nicht weiter mit uns herumschleppen. Wenn wir dich früher abgehängt hätten, hätte sich der Konkurs vermeiden lassen.«

»Nein, das hätte er nicht!«, kläffte Linde. »Der war ja schließlich die ganze Zeit geplant. Nur wusste ich damals nicht, was für ein Spiel ihr spieltet. Ich habe mir ein Magengeschwür eingehandelt bei dem Versuch, den Laden in Gang zu halten. Ich hatte doch keine Ahnung, dass ihr schon längst das Fundament angesägt hattet. Dass ihr den Absturz herbeiführen wolltet, den ich zu verhindern versuchte. Das alles ist mir erst später klar geworden. Als ihr in makellosen Anzügen aus der Asche aufgestiegen seid. Tut mir Leid, Liselotte. Ich verstehe nur zu gut, wie verbittert du bist. Du hast jeden Grund dazu.« Er zeigte auf das schwarze Paket auf dem Tisch. »Aber ich habe Blut für dieses Geld geschwitzt. Das ist mein Lohn, um es mal so zu sagen. Ich will dich natürlich gern zu einem guten Essen einladen, wenn das hier hinter uns liegt, aber mehr ist leider nicht drin.«

»Halt die Fresse!«, fauchte sie. Und dann sagte sie zu Tom Turbo: »Und warum hast du die Seite gewechselt? Warum hast du meinen Plan übernommen, um diesem Stinktier da zu Diensten zu sein? Karl hat schon Recht: Er war für sie ein Klotz am Bein. In der Szene waren die drei als die ‘Drei Musketiere’ bekannt. Quatsch! Sie waren zwei Musketiere und ein Findelkind.«

Linde lächelte. »Ja, ja. Aber schließlich fallen Erbschaften immer an die Kinder. Warum Tom zu mir gekommen ist? Tom war bei mir. Von Anfang an.«

Karl Winger stöhnte.

Linde schenkte sich einen Whisky ein. »Genau, Karl. Kapierst du jetzt? Als Tom und Liselotte jemanden suchten, der dich mit fiesen Anrufen und anderen Scherzen bearbeiten sollte, war ich bereits orientiert. Und als in deinem Köpfchen die Sehnsucht nach einem Leibwächter auftauchte und du mich angerufen hast, war ich natürlich von Herzen bereit, dir zu helfen. Du wusstest, dass ich die richtigen Beziehungen habe, und du wolltest nur das Beste.« Er klopfte Turbo auf die Schulter. »Und ich habe dir das Beste gegeben. Den Besten. Recht muss Recht bleiben. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Tom schon durch Liselotte in den Fall eingestiegen war. Aber als ich ihn auf meiner Seite haben wollte, habe ich das ziemlich schnell erfahren. Wieso ich ihn bekommen habe? Das war eine Geldfrage, Liselotte. Ich habe ein höheres Gebot gemacht als du.« Er lachte. »Es lohnt sich, für Qualität zu bezahlen.«

»Und was hindert ihn daran, den ganzen Packen einzusacken?«, rief Liselotte. »Ich glaube kaum, dass du ihn daran hindern kannst. Das Geld da auf dem Tisch existiert offiziell ja nicht. Karl kann das niemals anzeigen. Du bist genauso naiv gewesen wie ich.«

»Nein. Bei dir hört sich das an, als wäre Tom ein ganz normaler Bandit. Aber das ist er nicht. Er ist ein Profi. Er liefert die Dienste, die er liefern kann. Du hast natürlich Recht. Ich könnte ihn nicht daran hindern, mit dem ganzen Kuchen abzuziehen. Aber dann könnte er nie wieder in der Grauzone arbeiten, auf die er sich spezialisiert hat. Dieses Paket enthält viel Geld, vermutlich zwischen vier und fünf Millionen. Aber heutzutage reicht das nicht für ein ganzes Leben in Saus und Braus. Etwas über die Hälfte dagegen ist ein guter Stundenlohn. Und sein Ruf ist so rein und fein wie vorher.«

»Er hat mich betrogen und er hat Karl betrogen«, sagte Liselotte. »Und du redest von reinem, feinem Ruf.«

»In der richtigen Szene wird das höchstens eine gewisse Heiterkeit erregen. Das kann ich dir versichern.«

Worauf Tom Turbo zuschlug. Er stand ganz still da und hielt das Glas in der rechten Hand, während die Linke hochfuhr und Linde unter dem einen Ohr traf. Es sah ganz undramatisch aus, ungefähr wie eine harmlose Ohrfeige, aber der Schlag schleuderte Linde quer durchs Zimmer und gegen die Wand. Dort sank er wie ein Hefekloß in sich zusammen und blieb jammernd liegen.

Turbo stellte sein Glas weg und machte sich mit einem Panthersprung über ihn her. Die beiden anderen fuhren vor Schreck hoch und schon eine Minute später lag Linde bäuchlings auf dem Sofa, auf dem sie eben noch gesessen hatten. Seine Arme waren auf seinem Rücken gefesselt und er murmelte ziemlich unhöfliche Dinge in das schwarze Leder. Tom Turbo achtete nicht darauf. Er steckte sich eine Zigarette an und griff nach seinem Glas.

»Eben hast du mich gefragt, auf welcher Seite ich stehe«, sagte er dann zu Winger. »Jetzt weißt du es. Wir haben eine Abmachung. Du kennst meinen Tagessatz. Ich glaube, die Sache geht dem Ende entgegen, und das heißt, du schuldest mir an die Hunderttausend. Was sich sonst noch in diesem Paket verbirgt, interessiert mich nicht.«

Liselotte und Karl Winger glotzten ihn an.

»Ich … heißt das, dass alles mit Liselotte und Leif nur ein Bluff war?«

»Nein. Aber zu einem bestimmten Zeitpunkt musste ich die Seite wechseln. Ich musste mich für dich entscheiden. Es war schon zu spät, um ganz auszusteigen. Ich werde ordentlich einen auf die Finger kriegen, aber das werde ich überleben.«

»Was ist passiert?«, fragte Liselotte.

Tom Turbo setzte sich auf die Tischkante und fuhr Leif Linde vorsichtig mit seiner riesigen Pranke über den Hinterkopf.

»Dieser kleine Trottel hat Magne Vendel umgebracht«, sagte er. »Und da war mir klar, dass ich mir einen neuen Chef suchen musste.«