Es war ein so genanntes »offenherziges« Interview. Liselotte Winger, die zum Zeitpunkt des Interviews gerade von Karl Winger geschieden worden war, hatte zuvor ein Jahr im Frauengefängnis Bredtvedt verbracht. Und zwar weil sie Kokain aufbewahrt und benutzt hatte. Ich überlegte mir, dass sie eine solide Dosis »aufbewahrt« haben musste, wenn der Staat ihr dafür ein Jahr Kost und Logis spendiert hatte.
»Es war völlig aus dem Ruder gelaufen«, sagte sie. »Ich war in etwas hineingeraten, dessen Konsequenzen ich nicht ahnen konnte. Das, was so unschuldig angefangen hatte, mit einer Line Kokain hier und da, wurde zu massivem Missbrauch. Was jetzt im Nachhinein vor allem wehtut, ist, dass ich die Menschen angelogen habe, die mir am nächsten standen. Ich habe Karl belogen, ich habe meine Kinder belogen. Es war ein Albtraum!« Auf die Frage, ob sie bitter sei, antwortete sie: »Nein, bitter nicht, ich bin ja trotz allem am Leben. Heute bin ich froh darüber, dass die Polizei der Sache ein Ende gemacht hat.«
Danach wurde uns allen noch dringlichst geraten uns ja nicht auf Drogen einzulassen. Liselotte Wingers elende Lebensumstände wurden beschrieben und mit dem unvorstellbaren Reichtum verglichen, in dem sie sich während ihrer Ehe mit Karl Winger gewälzt hatte. So schrecklich arm konnte sie aber gar nicht sein, fand ich. Immerhin war sie in einer großen Wohnung mit Kunst an den Wänden und Möbeln auf dem Boden zu sehen. Aber natürlich ist alles relativ. Wer an Filetsteak gewöhnt ist, leidet bestimmt unsäglich, wenn es plötzlich nur noch Frikadellen aus der Dose gibt.
»Pettersen!«
Ich war an der Reihe.
Das Ganze dauerte nur zehn Minuten. Wovor hatte ich eigentlich solche Angst gehabt? Ich hatte fast nichts gemerkt. Ich taumelte zurück auf die Straße und in meiner Hosentasche steckte ein bestimmtes Interview, das ich aus einer bestimmten Zeitschrift herausgerissen hatte. Mir fiel ein, dass Pia gesagt hatte, ihre Eltern seien »zum Glück« geschieden. Welche Beziehung sie heute wohl zu ihrer Mutter hatte? Und welche Beziehung hatten ihre Eltern zueinander? Hatte Liselotte Winger es seit dem Interview geschafft, die Finger von dem weißen Schnupfpulver zu lassen? Und was machte sie jetzt eigentlich? Mir gefiel die Vorstellung, dass ich ausnahmsweise einmal vor dem Prof eine Spur gefunden haben könnte. Sein lehrerhafter Tonfall, in dem er mich über Karl Wingers Restaurant-Imperium und über Investitionshypes und Konkurse informiert hatte, hing mir noch immer in den Ohren. Ich solle die Zeitungen genauer lesen, hatte er erklärt. Aber gewisse Dinge schien er ja auch übersehen zu haben. Denn Liselotte Winger war garantiert nicht in aller Heimlichkeit verhaftet worden. Die Boulevardpresse hatte bestimmt mehr als nur eine kleine Notiz gebracht. Ob diese Geschichte allerdings in irgendeinem Zusammenhang mit den gemeinen Anrufen auf Aker Brygge stand, war eine ganz andere Frage. Ich wusste schließlich, wie viele Sackgassen es in solchen Fällen geben konnte.
Es war fast halb elf, deshalb fand ich es überflüssig, noch in der Schule vorbeizuschauen. Ich ging in eine Telefonzelle und schlug das Telefonbuch auf. Es gab jede Menge Wingers, aber nur zwei Liselotten. Eine in Holmlia, die andere in der Bygdøy alle. Ich entschied mich für die Bygdøy alle. Da Leffy gleich um die Ecke wohnte, wollte ich meine Schultasche bei ihm deponieren. Wenn er nicht zu Hause war, konnte ich sie immer noch in seine Garage stellen.
Er bastelte an seinem Lkw herum, nur seine Beine ragten unter dem Wagen hervor. Oscar, sein weißer Kater, saß in der Sonne und putzte sich.
»Leffy!«
»Schrei doch nicht so!« Er schob sich hinaus ans Tageslicht. »Hier läuft irgendwo Öl ab, aber ich kann das Loch nicht finden.« Er wischte sich die Hände mit einem Bund Putzwolle ab. »Hast du schon Ferien?«
»Nein, ich war beim Zahnarzt. Und ich hätte doch die anderen in der Klasse nur gestört, wenn ich plötzlich reingeplatzt wäre.«
»Du bist wirklich rücksichtsvoll«, sagte Leffy. »Nicht viele in deinem Alter denken so weit.«
»Kann ich meine Schultasche für ein paar Stunden hier abstellen?«
»Ja, aber bring sie in die Garage. Ich muss bald los, ob ich das Leck nun finde oder nicht. Wie geht's denn Rolf so? Noch immer sauer?«
»Weißt du, dass Karl Wingers Exfrau vor zwei Jahren eingebuchtet wurde, weil sie Kokain geschnupft hat?«, fragte ich.
»Aber sicher. Und diese Superbonzenfrau hat bestimmt einen auf die Nase gekriegt, als sie zu den Mädels in Bredtvedt gesteckt wurde.«
»Weißt du, was sie jetzt macht?«
»Lass den Müll, Peter. Was willst du denn von ihr?«
»Ich will gar nichts von ihr«, sagte ich. »War bloß eine Frage.«
»Alles klar. Nur eine Frage, einfach so locker aus dem Ärmel geschüttelt. Hör zu, Peter: Wenn du vorhast mich wie einen Schwachsinnigen zu behandeln, dann kannst du auch gleich verschwinden.«
»Ich hab doch gerade ihre Tochter kennen gelernt«, sagte ich. »Das habe ich ja gestern erzählt. Aber ich habe nicht erzählt, dass sie sich offenbar aus irgendeinem Grund Sorgen macht.«
»Natürlich macht sie sich Sorgen. Leute mit viel Geld machen sich immer Sorgen. Welche Tochter meinst du überhaupt? Monica?«
»Nein«, sagte ich. »Die, die ich kenne, heißt Pia.«
»Kenne ich nicht. Aber Monica ist auch knatschverrückt. Wir haben dieselbe Stammkneipe, deshalb stolpere ich ab und an über sie.«
»Ach nee«, sagte ich. »Ich war nie auf die Idee gekommen, dass eine aus dieser Familie solche Löcher aufsucht.«
»Sie hat wohl nicht viel mit denen zu tun. Mit der Familie, meine ich. Sie hat oben im Hegdehaugsvei einen kleinen Laden für Esoterik-Kram. Magiebücher und Zaubersteine und diese ganze Schiene. Ihr Vater hat offenbar ein paar Tausend da reingeschossen, damit er weiß, was sie so anstellt. Und das war garantiert eine sinnvolle Investition, die Frau ist total abgefahren. Einmal wollte sie im Künstlerhaus strippen. Nicht dass ich das so schlimm gefunden habe, aber …«
»Himmel, was für eine Familie«, sagte ich. »Ich stell mir gerade vor, wie sich die ganze Bande vor dem Weihnachtsbaum versammelt.«
»Wirklich? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass die irgendwann mal was zusammen unternommen haben. Ja, natürlich hat Karl Winger mit seiner Frau zwei Kinder produziert, aber bestimmt hat er selbst dabei in den Wirtschaftsnachrichten geblättert. «
Im Führerhaus klingelte sein Handy.
»Leffy!« Er lehnte sich an die Karosserie und starrte mich an. »Ja, er steht gerade vor mir und glotzt doof vor sich hin.« Er reichte mir das Telefon. »Professor Erlandsen.«