ABENTEUER

»Mir ging die Puste aus«

Herr Gysi, träumten Sie in Ihrem Leben auch mal den körperlichen Extremismus: einmal Marathon, einmal 75 Kilometer Rennsteiglauf!?

Nein. Längere Wanderungen sind sehr schön, aber jede Form von Extremismus kam für mich nie infrage.

Gesetzt den Fall: Würden Sie lieber den Everest besteigen oder die Welt im Segelboot umrunden?

Schon deshalb umrundete ich lieber die Welt im Segelboot, weil ich – aufgrund meiner Herzinfarkte vor einigen Jahren – die Höhe des Mount Everest nicht vertrüge.

Welches war das größte Abenteuer Ihres Lebens?

Das ist schwer zu sagen.

Der Parteivorsitz 1989?

Dazu erzähle ich Ihnen einen Witz. 1990 stand ich am Müggelsee, Jesus Christus kam zu mir und fragte mich, ob er mir irgendwie helfen könne. Es war die Zeit, als viele Menschen mir, dem Parteivorsitzenden ausgerechnet der PDS, nichts glaubten. Ich bat Jesus, ein Wunder geschehen zu lassen. Er erklärte mir, dass ich über den Müggelsee laufen könne. Ungläubig folgte ich seinem Rat. Es war ein großes Abenteuer, wahrlich, und es klappte: Ich ging übers Wasser, es hielt mich. Aber die Berlinerinnen und Berliner, die drumherum standen, sagten nur: »Kiek mal, schwimmen kann er ooch nicht.« – Sie sehen, ich drücke mich mit einem Witz um eine ernsthafte Antwort.

Glauben Sie an Wunder?

Nein. Obwohl es Dinge gibt, die wunderschön sind.

Woher und warum dieser erwähnte Wagemut, sich ab Ende 1989, auf gesellschaftspolitischem Feld, sehr großem Hass auszusetzen? Als Vorsitzender einer von vielen verfluchten und wütend abgeschriebenen Partei? Dies scheint ja tatsächlich, der eben erzählte Witz deutet es an, das größte Abenteuer Ihres Lebens eingeleitet zu haben.

Ich wusste durchaus, dass es schwierig wird. Aber ich hatte wirklich nicht mit einem solchen Hass gerechnet. Deshalb war die Übernahme der Parteifunktion zunächst gar keine so mutige Entscheidung. Ich kannte die Folgen zu wenig.

Mut ist oft nur Unkenntnis.

Es war von der Vernunft her idiotisch. Mut überwindet Angst, aber ich ahnte nicht, dass die Gründe für Befürchtungen aller Art nahezu täglich zunehmen würden.

Sie wurden als Parteivorsitzender beschimpft, beleidigt.

Ich kam an Grenzen meiner selbst. Ich kam kaum mehr dazu, über meine Lage nachzudenken. Wobei ich sagen muss: Es gibt Situationen, da bist du froh, nicht nachdenken zu können. Oder zu müssen.

Warum?

Weil du nur so der Verzweiflung entgehst. Dann allerdings, inmitten der Anfeindungen, habe ich an mir festgestellt, dass ich in gewisser Hinsicht preußisch stur bin und einfach nicht gehen kann, wenn ich von so vielen Menschen abgelehnt werde, ich selbst mich aber netter finde. Mein Selbstbild war ein anderes als das vorherrschende Bild.

Sie sind also ein Ausdauermensch?

Wie jeder Mensch bin auch ich unterschiedlich veranlagt, manchmal ungeduldig, manchmal sehr geduldig. Aber ich kann Vorgänge und Prozesse, wenn ich deren Sinn einsehe, lange aushalten, ja.

Da steht also eine Partei, nämlich die SED, vorm gähnenden Abgrund, Sie stellen sich an die Spitze und rufen: »Vorwärts!«

Ich würde meine Entscheidung wahrscheinlich nicht wiederholen. Wenn ich mir mit Abstand betrachte, was ich mir damals antat und was mir daraufhin andere antaten, über Jahre hin: unbegreiflich. Ich muss verrückt gewesen sein. Aber die Aufgabe und die Ausdauer hatten doch ihren guten Grund: das Streben um die Akzeptanz meiner Person und der Partei – ab dem Zeitpunkt, da ich deren Vorsitzender geworden war. Das gilt auch für den Kampf um die Herstellung einer wirklichen Einheit in Deutschland, für soziale Gerechtigkeit und viele andere Themen.

Dieser Kampf ist noch nicht beendet?

Ganz und gar nicht. Manchmal staune ich selbst, wie zäh ich bei bestimmten Auseinandersetzungen sein kann. Ich mache nichts gerne so kurz. Ich mache aber auch nichts gerne ewig. Also, wenn ich etwas anfange, ziehe ich es meistens durch, fange aber trotzdem beizeiten an, auch über ein würdiges Ende nachzudenken.

Abenteuerlich war ja auch die Maueröffnung. Wie haben Sie die mitbekommen?

Ich habe zu Hause gesessen, am Fernseher, und ich dachte: Das ist das Ende der DDR. Aber auf dem Außerordentlichen Parteitag ein paar Wochen später habe ich in meiner Rede noch immer von einer DDR mit Zukunft gesprochen. Das war meine Zerrissenheit.

Haben Sie als Erwachsener jemals eine Nacht im Freien verbracht? Wenn ja: wo und wann und warum?

Am offenen Fenster habe ich schon viele Nächte zugebracht, aber nicht vollständig im Freien.

Können Sie wirklich abschalten?

Früher konnte ich es schlechter als heute. Inzwischen kann ich mich in Gedanken auch mit ganz anderen Fragen beschäftigen, wenn ich wandere oder spazieren gehe.

Wie kamen Sie eigentlich zum Wandern?

Das fand ich früher immer langweilig, aber mein Fahrer hat es mir schmackhaft gemacht. Wenn sich nunmehr eine Gelegenheit bietet, wechsle ich die Schuhe und wandere. Wenn ich unterwegs zwischen zwei Terminen mal eine Stunde Zeit habe, gehe ich einfach los, ohne Plan, quer durch die unbekannte oder bekannte Stadt. Neugierig auf Veränderungen rundum, auf die Natur, aber auch auf die Sehenswürdigkeiten. Du lernst dabei, eine Sache langsam anzugehen, deine Kraft gut einzuteilen.

Berge oder Ebenen?

Weder noch. Wenn möglich, dann Hügel mit Abbiegungen. Weil man auf ebenen Flächen stundenlang nur dasselbe sieht. Das ist langweilig.

Wenn Sie wandern: Kommen Ihnen Gedanken, oder wird der Kopf leer?

Na, damit mir neue Gedanken kommen, muss sich der Kopf erst einmal leeren. Also geschieht beides.

Welches war die längste, anstrengendste Wanderung Ihres Lebens?

Wir hatten schon eine schöne Strecke zurückgelegt, und meine Tochter wollte denselben Weg wieder zurückgehen. Ich meinte aber, wir könnten die Runde vollenden. Leider setzte ich mich durch. Mir ging die Puste aus. Es war einfach zu anstrengend für mich. Ich hätte auf meine Tochter hören sollen.

Mit welcher Politikerin oder welchem Politiker würden Sie eine längere Bergwanderung ertragen?

Ich finde, sie alle reichen mir im Bundestag. Außerdem gönne ich ihnen Ruhe und Entspannung und schließe also auch in ihrem Interesse Bergwanderungen mit mir aus. Allerdings war ich vor nicht allzu langer Zeit mit Bodo Ramelow im Thüringer Wald wandern – und das war schön.

Mögen Sie Einsamkeit im Wald?

Lieber bin ich zu zweit im Wald, auch wenn es Situationen gibt, in denen ich wenig sprechen will.

Aus Angst?

Nein.

Apropos Einsamkeit. Beunruhigt Sie unsere planetarische Position im Universum?

Nein, wir sind doch ganz nett untergebracht.