KANZLEIALLTAG

»Die Lektüre kann sehr langweilen«

Herr Gysi, gibt es ein Ritual, wenn Sie morgens Ihre Arbeit als Anwalt in der Kanzlei beginnen?

Ja, ich sage allen Anwesenden: Guten Tag!

Ist Ihr Schreibtisch aufgeräumt, wenn Sie dann später nach Hause gehen?

Da ich mehrere Berufe zugleich ausübe, schaffe ich es nur einmal in der Woche in die Kanzlei. Selbstverständlich ist der Schreibtisch vollständig aufgeräumt, wenn ich nach Hause oder woandershin gehe. Aber was sagt das schon! Albert Einstein hat gesagt, wenn ein unaufgeräumter Schreibtisch für einen unaufgeräumten Geist spricht, was bedeutet dann in geistiger Hinsicht und in dieser Logik – ein leerer Schreibtisch?

Welches Foto steht auf Ihrem Schreibtisch?

Fotos von meinen Kindern.

Ist schon die erste Beratungsstunde bei Ihnen kostenpflichtig?

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der DDR waren verpflichtet, gebührenfrei Rechtsauskünfte zu erteilen. Heute ist schon die erste Beratung gebührenpflichtig. Wenn man keine Gebühren nimmt, wird einem standesrechtlich vorgeworfen, Billigkonkurrenz zu organisieren. Ich gehe aber davon aus, dass meine ersten Gespräche in aller Regel noch keine Beratung sind und verzichte deshalb diesbezüglich nicht selten auf Gebühren.

Lesen Sie gern Akten?

Gelegentlich schon, wenn sie eine Spannung widerspiegeln. Die Lektüre kann aber auch sehr langweilen.

Was mögen Sie an Büroarbeit überhaupt nicht?

Langatmige, sehr lange und im schlechten Stil geschriebene Schriftsätze der Gegenseite. Aber ich muss sie zwangsläufig lesen.

Sie agieren inzwischen verstärkt auch als Nebenkläger. Warum?

Die Rolle eines Nebenklägers gab es in der DDR nicht, und mich reizt es, Geschädigte zu vertreten. Aber ich verteidige auch nach wie vor gern.

Aus welchen Gründen haben Sie je Mandate abgelehnt?

In der DDR konnte man in aller Regel keine Mandate ablehnen, weil es nur 600 Rechtsanwälte im gesamten Land gab. Die habe ich heute am Kurfürstendamm in einer Straße. Etwa die Hälfte der Anwälte in der DDR machte auch Strafsachen. Da jeder Mensch das Recht auf Verteidigung hat, gab es nur wenig Ablehnungsgründe. Heute haben wir eine Schwemme von Rechtsanwälten, und es gibt auch viele Spezialisierungen. Das aber bedeutet, dass ich Rechtsextreme, einen Mann, der Kinder sexuell missbraucht oder der vergewaltigt hat, jetzt nicht verteidigen würde.

Wie sind die Vorbereitungen für ein Plädoyer?

Früher hielt ich als Verteidiger Plädoyers aus dem Stegreif und habe mir nur wenige Notizen während der Verhandlung gemacht. Heute, bei zwanzig, dreißig Tagen Verhandlung als Anwalt einer Nebenklägerin, etwa in einer Mordsache, verlasse ich mich nicht mehr auf eine gewisse »Schnellkraft« beim Argumentieren. Trotzdem kommt es immer wieder zu Situationen, in denen spontane Reaktionen nötig sind, sowohl in der Politik als auch im Gerichtssaal. Wenn ich vor Gericht spreche und vor mir redete der Staatsanwalt, muss ich auf dessen Argumentation eingehen, und insofern bleibt manches spontan.

Üben Sie Ihr Plädoyer laut, so wie ein Schauspieler vorher seinen Text durchgeht?

Selbstverständlich nicht.

Fühlen Sie im Gericht bei Staatsanwälten oder Richtern Missgunst oder Neid oder besondere Distanz und Strenge, weil Sie ein Prominenter sind?

Den Berliner Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, Richterinnen und Richtern imponiert Prominenz überhaupt nicht. Die haben sie zuhauf. Auswärts habe ich allerdings erlebt, dass ein Richter sich extra einen neu herausgegebenen Kommentar zum Strafgesetzbuch gekauft hatte, weil er nicht wusste, wie ich agiere.

Nie ein Fall von Neid?

Doch, warten Sie, da war so ein Fall … Ich verteidigte einen Mann und merkte, dass ich weder bei dem Gericht noch beim Staatsanwalt auch nur die geringste Chance hatte. Der Staatsanwalt meinte dann, mich beleidigen zu müssen und erklärte mir, dass ich im Gerichtssaal sei und nicht in einer Talkshow. In meinem Plädoyer dankte ich ihm, mich darüber aufgeklärt zu haben, wo ich mich befände. Ich fügte hinzu: »Ich habe allerdings bemerkt, dass Sie offenbar gern in eine Talkshow eingeladen werden würden. Ich gebe mir größte Mühe, Verantwortliche in den Sendern davon zu überzeugen, Sie einzuladen.« Ich wüsste zwar noch nicht, für welches Thema, aber vielleicht fiele den Redaktionen ja etwas ein.

Wie reagierte er?

Er rief laut dazwischen, das sei eine Unverschämtheit. In scharfem Ton erwiderte ich, er möge mich nicht unterbrechen, es sei mein Plädoyer. Immer wütender wurde dieser Staatsanwalt. Der Richter vermittelte, indem er sagte: »Ja, Herr Staatsanwalt, Sie müssen ihn schon aussprechen lassen«.

Warum wurden Sie überhaupt Rechtsanwalt?

Nichts anderes wäre für mich infrage gekommen. Nicht Richter, nicht Notar, und Staatsanwalt schon gar nicht. Ich wollte in eine Nische. Notar erschien mir zu langweilig. Und der Staatsanwalt kam für mich nicht infrage, weil er weisungsgebunden ist. Außerdem macht er nur Strafrecht, und ich empfand mich als vielseitiger veranlagt.

Sie waren SED-Mitglied.

Na und? Auch jede Nische brauchte Genossen, oder? Nein, ernsthaft: Mit achtzehn wusste ich nicht, was ich werden sollte. Eine Bekannte, die Frau eines Rechtsanwaltes, sagte mir – es war ein zufälliges Gespräch auf der Straße – Jura sei zu empfehlen, ihr Mann sage immer, das sei ein Studium für Doofe. Das gefiel mir, ich war ein bisschen faul, ich hatte keine Lust, mich totzuarbeiten. Aber dann, während des Studiums, wurde ich fleißig, weil ich ja wusste, ich habe von dem Fach keine Ahnung, und Überheblichkeit konnte ich mir also nicht leisten.

Also Richter wollten Sie auch nicht sein?

Ich fürchtete, zu viele Situationen würden mich den Schlaf kosten. Ich stelle lieber Anträge, als zu entscheiden.

Wie in der Politik.

Das haben Sie gesagt – und Sie haben recht.

Was darf ein Verteidiger nicht sein?

Ein zweiter Ankläger.

Welche Unterschiede gibt es zwischen der Rede eines Anwalts und der Rede eines Politikers?

Wenn man vor Berufsjuristinnen und Berufsjuristen spricht, muss man die Fachsprache beherrschen.

Das heißt, man muss nicht unbedingt allgemeinverständlich sein?

So ist es. Dem Mandanten oder der Mandantin gegenüber ist das allerdings unbedingt nötig. Und das ist auch der Kern einer politischen Rede. Ich spreche da gern vom Übersetzen.

Und die Gemeinsamkeit in beiden Welten?

Die besteht darin, dass man den Willen zur Überzeugung hat. Im Gerichtssaal muss ich versuchen, das Gericht zu überzeugen. Aber klar: Im Plenum des Bundestages hat ein Versuch, die Mitglieder der anderen Fraktionen zu überzeugen, logischerweise von vornherein keinen Sinn.

Wen sprechen Sie denn an?

Ich spreche im Grunde für jene Menschen, die eine Sitzung über die Medien verfolgen. Im Bundestag ist das also ein bisschen paradox: Man spricht in einem Saal, da sitzen Leute drin, aber meist sind gar nicht sie die Adressaten, sondern andere.

Ist das deutsche Grundgesetz – geschrieben im Nachschatten eines Weltkrieges – eine Meisterleistung?

In gewisser Hinsicht schon. Es fehlen mir ein paar soziale Rechte.

Wären Sie gern Verfassungsrichter?

Ich glaube nicht. Es klingt reizvoll, ist aber auch sehr anstrengend.

Wie viele Roben besitzen Sie?

Natürlich nur eine.

Wie anders fühlen Sie sich, wenn Sie im Gericht eine Robe tragen?

Da es in der DDR keine Roben gab, habe ich mich beim ersten Tragen etwas wichtiger gefühlt als ohne. Das hat sich aber inzwischen gegeben.