WALD UND WIESE (1)

»Honecker. Da gäbe es viele Fragen«

Herr Gysi, wir müssen bei unseren Gesprächen nicht immer ein Ziel haben. Ich frag mich heute mal durch Wald und Wiese. Kündigt man Sie auf Veranstaltungen an, dann werden Sie, etwa von Moderatoren, kurz charakterisiert. Das ergibt eine beachtliche Liste von Eigenschaften: ehrgeizig, schlagfertig, eloquent, eigenwillig, pfiffig, eitel, authentisch, galant, witzig, wendig, raffiniert, selbstironisch, listig, gewandt, kosmopolitisch, undogmatisch, zynisch … Welches dieser Attribute trifft Sie am besten?

Na, das trifft wahrscheinlich alles irgendwie zu. Von allem etwas. Aber was und wie viel, das mutmaße ich jetzt nicht. Eines aber weise ich zurück: zynisch. Das war und bin ich nie.

Aber schlagfertig, das trifft zu. Eigentlich ein martialisches Wort.

Schlagfertigkeit heißt nicht: Schlag zu und mach die anderen fertig! Es heißt: Schlag vor, schlag Brücken, ins Bessere, und zwar möglichst schnell.

Und Schlagabtausch?

Ist eine Friedenskultur. Und das Wort »fertig« bei Schlagfertigkeit setzt keinen Schlusspunkt. Es kann auch am Beginn stehen. Denken Sie an den Sport: Auf die Plätze, fertig – los!

Nennen Sie ein Bundestagsthema, zu dem Sie redeten – ohne jede inhaltliche Kenntnis.

Unser Redner vom Fach – es war Anfang der neunziger Jahre – war plötzlich erkrankt, und ich musste zum Stoffkreislauf der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Ich wusste gar nicht, was gemeint ist. Durch die anderen Reden ahnte ich, worum es ging. Ich bin dann schnell ausgewichen und sprach zur Sekundärrohstofferfassung in der DDR. Dasselbe passierte, als es um die Beschaffenheit eines Öltankers ging.

Sekundärrohstoffe! Sie reden ja lieber über den Platz des Menschen in der Gesellschaft.

Nicht übertreiben! Wenn man in einem Hotel ein Zimmer nicht gerade direkt gegenüber dem Fahrstuhl und nicht über dem Luftabzug der Küche hat und frühmorgens ausschlafen darf, ist man mit so einem Platz in der Gesellschaft mitunter schon sehr zufrieden.

Der Alptraum von Schauspielern: Vorhang hoch, Text vergessen. Haben Sie einen wiederkehrenden politischen Alptraum?

Eigentlich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich Oppositions- und nicht Regierungspolitiker bin.

Ihr Friedenslied?

Es gibt sehr viele, sehr schöne Friedenslieder. Gern höre ich die Aufnahme, die vor Jahren entstand, als Chorus gesungen von den international tollsten Sängerinnen und Sängern: »We are the world«.

Wenn es je zu einer Begegnung gekommen wäre: Was hätten Sie Erich Honecker gern gefragt?

Da gäbe es viele Fragen. Aber wahrscheinlich hätte ich ihn am dringlichsten gefragt, warum er nicht eher aufhören und der nächsten Generation eine Chance geben konnte. Oder wollte.

Gingen Sie als Fraktionsvorsitzender zu Staatsempfängen?

Nur dann, wenn es mir politisch wichtig war. Ausgelassen habe ich Königinnen und Könige, weil man dann einen Frack oder zumindest einen Smoking tragen sollte. Im Smoking finde ich mich albern. Der Besuch von Königin Beatrix in Deutschland war eine Ausnahme, da ging ich hin.

Themenwechsel. Was sagen Sie zu Forderungen nach einem Kopftuch- oder Burkaverbot?

Für Großmütter?

Ich merke, Sie sind heute gut aufgelegt.

Meistens doch, oder? Ich weiß natürlich, was Sie meinen. Wenn es nicht unbedingt nötig ist, sollte der Staat generell vermeiden, sich in Kleiderfragen seiner Bürgerinnen und Bürger einzumischen. Wenn Muslima ihre Kopftücher oder Burkas tragen wollen, dann ist das ihre Angelegenheit. Auch wenn ich Menschen lieber ins Gesicht sehe.

Gibt es Einschränkungen?

Beim Kopftuch nicht, bei der Burka schon. Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen, Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen und andere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für die Kinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öffentlichkeit. Also: Das Notwendige müssen wir regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, einschließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten. Das gilt grundsätzlich.

Sind Sie manchmal traurig darüber, dass Sie nicht an Gott glauben?

Vielleicht wäre manches leichter, aber andererseits … nee, ich glaube nicht.

Was empfinden Sie angesichts der Gewissheit, dass es Sie in fünfzig Jahren nicht mehr geben wird?

Das hängt immer von meiner augenblicklichen Verfassung ab. Manchmal denke ich, es ist ein bisschen schade, ein anderes Mal denke ich, es ist vielleicht ganz gut so.

Was würden Sie, hätten Sie die Macht, auch gegen den Willen einer Mehrheit durchsetzen?

Toleranz.

Keine Revolution hat die Hoffnung derer erfüllt, die den Aufstand wagten. Leiten Sie davon ab, dass die ganz große Hoffnung lächerlich sei und nur der Hoffnungslose sich Enttäuschung erspart?

Sicherlich erspart sich der Hoffnungslose jede Enttäuschung, er leidet allerdings an einer Art »Grundenttäuschung«, die er nie überwinden kann, und die finde ich furchtbar.

Menschen mit Hoffnungen setzen sich auch Enttäuschungen aus.

Sie haben aber ebenso sicher mehr Erfolgserlebnisse und deshalb letztlich mehr vom Leben – wie immer die Zeiten auch sind.

Wollten Sie als junger Mann am liebsten in einen revolutionären Kampf ziehen oder wie hat sich Ihre revolutionäre Romantik ausgelebt?

Natürlich habe ich Filme gesehen und Bücher gelesen und ein bisschen davon geträumt, auch etwas Heldenhaftes erleben zu können. Damals Kuba, Nicaragua. Aber es fand halt nicht statt, und vielleicht ist es sogar gut so.

In der DDR hieß es für Jugendliche: »Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden!«

Sehr erbaulich war das für junge Leute nicht. Es ist ein interessantes Problem: Wie schafft man es, in einer Gesellschaft in Sicherheit zu leben, ohne das Gefühl zu bekommen, es wird langweilig? Ist gar nicht so einfach.

Fürchten Sie sich vor den Armen dieser Welt?

Nein, ich fürchte mich eher vor den Reichen dieser Welt.

Teilnehmer welchen historischen Ereignisses wären Sie gern gewesen?

Eigentlich reichen mir schon die historischen Ereignisse, die ich erlebt habe. Ich weiß nicht, ob ich mich nicht zum Beispiel während der Französischen Revolution zu sehr aufgeregt hätte und was mir widerfahren wäre. Interessiert hätte sie mich schon – natürlich nur weitab von der Guillotine.

Von welcher Erfindung würden Sie gern wollen, dass es Ihre sei?

Das Bett.

Welche Zeitung sollte ich unbedingt lesen?

Zur Freiheit eines Menschen gehört, dass er das selbst entscheiden darf. Welche Zeitung lesen Sie denn?

Ganze Zeitungen, gar im Abonnement, überhaupt nicht mehr. Am liebsten das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Jede nur mögliche Nähe zu Kunstwerken hilft.

Kunst … Denken Sie da – spontan – an einen speziellen Künstler?

Daniel Barenboim.

Welches Kunstwerk haben Sie nie verstanden?

Viele. Dazu reicht eine Currywurst nicht, um sie alle aufzuzählen. Aber gerade weil es so ist, freut man sich umso mehr über jene Kunstwerke, die man versteht. Wobei gar nicht entschieden ist, ob man immer alles verstehen muss.

Herr Gysi, können Sie sich erinnern, Sie haben von Ihrem Lieblingsmärchen erzählt: Tiere verbünden sich mit Dingen und strafen einen Menschen, den Herrn Korbes.

Ja, wieso?

Erst spät haben die Gebrüder Grimm den letzten Satz hinzugefügt: »Der Herr Korbes muss ein böser Mann gewesen sein.« Ohne diesen Satz ist die Tötung von Korbes ein Akt gegen Menschen überhaupt.

Interessant. Ohne diesen relativierenden Satz sagt das Märchen also, dass wir generell bei Tieren und Dingen nicht gut angesehen sind.

Indem das Böse letztlich nur auf Herrn Korbes zugeschnitten wird, sind wir als Gattung entlastet.

Politisch korrekt.

Und falsch.

Ich bleibe Zweckoptimist. Herr Korbes muss ein böser Mann gewesen sein. Er, nicht alle.