OCHSEN UND ANDERE TIERE

»Als Cowboy überall gefragt«

Herr Gysi, wieso wurden Sie Rinderzüchter?

Die Volksbildungsministerin der DDR, Margot Honecker, meinte, dass man in der Erweiterten Oberschule nicht genügend mit der Arbeiterklasse verbunden sei. Deshalb wurde entschieden, dass wir neben dem Besuch der Schule einen Beruf zu erlernen hatten. In meiner Klasse standen zwanzig Berufe zur Auswahl. Ich entschied mich, Kraftfahrzeugschlosser zu werden. Denn in der DDR war es schon schwer, ein Auto zu erwerben, aber noch schwerer, es repariert zu bekommen. Deshalb meine Entscheidung. Der Direktor teilte mir dann allerdings mit, dass der Gesundheits- und Arbeitsschutz in dem LKW-Werk forderte, dass ich mindestens sechzehn Jahre alt sein müsste. Ich war aber erst vierzehn. Ich schlug vor, dann eben den Beruf des Kochs zu erlernen. Der Direktor sagte, die Berufe seien vergeben. Ich sagte, na, noch besser, dann nehme ich gar keinen. Daraufhin erklärte er, dass das nicht ginge und fragte mich – einen Berliner Jungen –, wie meine Beziehung zu Tieren aussieht. Ich dachte natürlich nur an Hund und Katze und Tierpark und sagte: »Nicht so schlecht.« Daraufhin sagte er, das ist phantastisch, denn er hätte sowieso nur noch den Beruf des Rinderzüchters übrig. So wurde ich das.

Welche Erinnerungen haben Sie an die ersten Stunden im Stall?

Der Geruch war anstrengend.

Was nützt Ihnen Ihr Beruf heute?

Dass ich gelernter Rinderzüchter bin, kommt mir in der Politik gut zupass. Ich kann ausmisten, das ist eine politische Grundtätigkeit. Ich kann melken, also Steuern eintreiben. Ich kann künstlich besamen, also den Leuten was vorgaukeln, so, wie den Kühen ja ein erotisches Erlebnis vorgelogen wird. Und ich kann mit Hornochsen umgehen. Nur mit einer Ochsentour kann ich nicht dienen – ein Glück.

Warum nennt man denn die landläufige Politiker-Laufbahn eine Ochsentour?

Weil es bei vielen sehr lange dauert und mühsam ist, wie bei einer Wanderung mit einem Ochsen. Politikerinnen und Politiker müssen beim Aufstieg elende Geduld aufbringen – über die Jugendorganisation, das Kommunalparlament, den Landesverband, vielleicht den Landtag, dann in die Bundespolitik, vielleicht in den Bundestag, irgendwann wird man vielleicht auch Ministerin oder Minister.

»Kollektivwirtschaft« wurde zum westdeutschen Wort der Abfälligkeit. Was ging mit Herstellung der deutschen Einheit auf dem Lande, im Dorf verloren?

Ich habe mal eine Bäuerin im Rentenalter danach gefragt. Sie lebte mit ihrem Mann zusammen auf einem Grundstück mit einem Haus, das ihnen gehörte. Es gab auch keine Ansprüche Dritter. Sie erklärte mir, dass ihr im Dorf der Konsum, die Kneipe und die Jahreshauptversammlung der LPG fehlten. Ich fragte erstaunt nach, und sie erklärte es mir. Beim Konsum trafen sich früher alle Frauen des Dorfes für eine Stunde. Dort fand ihre Kommunikation statt. In die Kneipe ging ihr Mann abends für eine Stunde, dort fand seine Kommunikation statt.

Aber wieso Jahreshauptversammlung der LPG?

Da wurde eine halbe Stunde langweilig geredet, aber dann gab es Essen, Trinken, Musik und Tanz. Ich habe die Frau gefragt, warum man sich heute nicht gegenseitig besucht. Sie erklärte mir, dass dies außer bei besonderen Anlässen nicht üblich sei. Da habe ich gemerkt, was auf dem Lande passieren muss: Wir müssen Kommunikation und Kultur organisieren, wiederbeleben.

Sind Kühe wirklich so doof, wie das allgemeine Vorurteil behauptet?

Selbstverständlich nicht. Allerdings können sie vorne ruhig fressen und hinten treten. Das heißt, ihren Körper hinsichtlich der Aktivitäten vollständig teilen.

Beim Blick auf unsere Art des Wirtschaftens: Tut Ihnen die Tierwelt leid?

Schon. Wobei Tierhaltung etwas anderes ist als das Gleichgewicht der Natur außerhalb.

Warum gehen Sie, wenn Sie unterwegs sind, so gern in Tierparks oder in den Zoo?

Ich beobachte die Tiere gern.

Prominente werden oft gebeten, Tierpatenschaften zu übernehmen. Sind Sie auch Pate?

Selbstverständlich. Erstens bin ich auch der Namensgeber und Pate eines Rotbrüllaffenbabys. Wer außer mir kann denn in der Politik mit Brüllaffen umgehen? Und da er ein »Roter« ist, führte der Weg automatisch zu mir. Dieser Affe, er heißt Marlon-Gregor, lebt im Tierpark von Berlin. Außerdem bin ich Pate einer Flusspferdchendame im Berliner Zoo. Als ich Debby Mohrrüben zu fressen gab, ließ sie sich sogar streicheln. Einfach süß, diese Dame.

Warum diese Patenschaft?

Es ist eine finanzielle Unterstützung. Außerdem habe ich festgestellt, dass man sich im Alter sowieso mehr und mehr für Tiere und Pflanzen interessiert. Tierfilme im Fernsehen habe ich früher kaum gesehen. Aber inzwischen … Da fällt Unruhe von mir ab, man spürt den Naturkreislauf, fühlt sich eingebunden, Begriffe wie Harmonie und Demut spielen plötzlich eine Rolle und holen dich aus der Routine des Betriebs.

Tierfilme … um sich von Menschen zu entfernen?

Ein bisschen, ja. Muss ich zugeben. Geht’s Ihnen nicht so?

Doch. Nietzsche nennt den Menschen das »unvollendete Tier«. Der Blick aus Augen eines Tieres ist ein Blick aus der Tiefe, er sagt: Denken rettet dich nicht … Hätten Sie gern ein Haustier gehabt? Welches?

Als ich ein Kind war, hatten wir Hühner, eine Ziege und regelmäßig auch einen Hund. Später hatte ich einen Wellensittich. Meine Tochter hatte einen Kater. Das alles hat genügt.

Ist Zirkus Tierquälerei?

Es kommt darauf an, wie Zirkus stattfindet. Wenn er vernünftig organisiert ist, ist er auch keine Tierquälerei. Natürlich leben die Tiere nicht in freier Natur, aber sie haben regelmäßig zu fressen, es gibt einen Tierarzt, der sie behandelt, und auch andere Annehmlichkeiten.

Teilen Sie die Leidenschaft, mit der sich Menschen für Tierrechte und gegen Quälereien aller Art einsetzen?

Natürlich. Völlig. Aber ich frage mich, wie bei Kindern Tierliebe entsteht und wächst. Durch Bücher, durch Bilder? Ja. Aber doch auch durch Anschauung. Wie soll die in Städten möglich sein? Schon sind wir beim Zoo und beim Zirkus. Ich weiß, dass es viele Tierschützerinnen und Tierschützer gibt, die dies nicht wollen. Mir ist auch klar, dass das, was ich da sage, einen Widerspruch benennt. Ich glaube aber, dass gerade über die Tiere im Zoo, im Tierpark und im Zirkus Kinder an Tiere herangeführt werden und so erst lernen, sie zu lieben und zu schützen.

Sie essen Rindfleisch?

Ja. Zum Beispiel Steak oder Tartar, mit Ei, aber ohne Kapern bitte – die ich sonst aber mag.

Mit Tieren hat’s die Familie Gysi.

Einer meiner Vorfahren väterlicherseits war Robert Oettel aus Görlitz, im 19. Jahrhundert der Begründer der deutschen Rassegeflügelzucht.

Sind Sie jemals, aus welchem Grund auch immer, in die Landwirtschaft zurückgekehrt?

Zwei Wochen Ernteeinsatz zu Beginn des Studiums. Mein Vater sagte immer: Wenn ich je in meinem Leben in einem anderen Land Asyl beantragen müsse, könne ich meinen Beruf als Jurist vergessen, aber als Cowboy sei ich weltweit gefragt.