OLYMPIA

»Sogar Bogenschießen«

Herr Gysi, als Politiker sind Sie Großveranstaltungen gewohnt, die gehören regelmäßig zu Ihren Aufenthaltsorten.

Regelmäßig? Nein.

Ich will auf Sportereignisse hinaus. Sie sind Fan von Olympischen Spielen?

Wenn Olympia läuft, schaue ich mir im Fernsehen sogar Bogenschießen an.

Olympische Spiele sind längst nicht mehr unumstritten.

Ja, es ist seltsam: Die Aufklärung ist eine Bewegung der Vernunft, die allerdings dafür gesorgt hat, dass mehr und mehr Dinge ihre Unschuld verloren.

Auch beim Sport.

Ja, Kommerz, Doping, Korruptionen verschiedenster Art.

Die Profiteure werfen sich die Bälle zu.

Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie sich Bevölkerungen gegen die Ausrichtung sportlicher Großereignisse wehrten. Eben auch bei Olympia. Das verstehe ich. Die Menschen haben Sorge, dass ihr Leben beeinträchtigt wird, dass Busse und Bahnen wegen der Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr fahren. Die Leute lehnen ab, dass in Zeiten sozialer Bremsen so viel Geld verschleudert wird. Und dass auf diesen Großfeiern unbotmäßig angegeben und repräsentiert wird. Das Resultat ist, dass in den Demokratien immer häufiger Nein zu Olympischen Spielen gesagt wird und sich im Gegenzug diktatorische Staaten mit großer Energie – und erfolgreich! – um die Austragung bewerben. Das ist für die doch Werbung pur. Und Geld spielt bei denen keine Rolle.

Olympia abschaffen?

Nein. Aber wir müssen uns entscheiden: Wir können uns nicht über bestimmte Austragungsorte wie Peking oder Katar beschweren und gleichzeitig ablehnen, solche Großereignisse bei uns stattfinden zu lassen.

Der in Cottbus geborene Christoph Harting hat 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro die Goldmedaille im Diskuswurf gewonnen. Beim Abspielen der deutschen Hymne, so die »Süddeutsche Zeitung«, habe er »die Arme verschränkt, geschunkelt und herumgealbert«. Empörung allenthalben.

Typisch deutsch! Anstatt sich über die sportliche Meisterleistung zu freuen, wird kritisiert, dass ein 25‑Jähriger bei der Nationalhymne nicht strammsteht, mit den Händen an der Hosennaht. Ich freue mich, dass solche jungen Repräsentanten unseres Landes im 21. Jahrhundert nicht mehr an Stechschritt und Pickelhaube erinnern. Es ist bedauerlich, dass bestimmte Leute Respekt einfordern und im Falle Hartings Verhaltensregeln aufstellen.

Waren Sie selbst ein guter Sportler?

In der DDR bekam ich eine einzige Ehrung, das war eine Urkunde, die mir die Teilnahme an einem Waldlauf bestätigte. Die Teilnahme, nicht mal eine Platzierung! Aber unabhängig davon: Im Schulschwimmen war ich ganz gut, beim Zehner-Krafttest, beim Bodenturnen und an einigen Turngeräten auch. Aber Leichtathletik und Spiele? Nee. Dieses Gejage und Gerenne und Gespringe war nicht meine Welt.

Welches ist Ihre Lieblingsposition beim Fußball?

Mich faszinieren die Torhüter. Entweder sie langweilen sich, weil sie nichts zu tun bekommen oder sie zerreißen sich fast vor Spannung, wenn sie viel zu tun bekommen. Wenn ich in der Schulzeit Fußball spielte, stand ich immer im Tor, weil ich, wie gesagt, zu faul war, die ganze Zeit über den Platz zu rennen. Andererseits – bedenken Sie meine Kürze – hatte ich Schwierigkeiten, an die Querlatte zu kommen.

Sie mögen den Winter. Was ist das Besondere am Skifahren? Die Geschwindigkeit?

Vor allem die eigene körperliche Bewegung, und die Geschwindigkeit, ja.

Warum betreiben Sie Ski alpin und nicht Langlauf?

Ich finde Abfahrten spannender als Langlauf, und außerdem kann ich Langlauf nicht. Ich stolpere da so mehr vor mich hin.

Hatten Sie je Lust auf Skispringen? Oder war die Angst zu groß?

Man hat immer auf Dinge Lust, die man nicht kann. Und ich kann das Skispringen nicht. Aber ich stand auch noch nie oben auf einer Schanze. Wenn ich dort gestanden hätte, bekäme ich wahrscheinlich Angst. Man sieht ja nicht, wohin man springt. Also wäre ich wieder runtergelaufen. Nun bin ich auch zu alt.

Gehört zum Skifahren der Obstler in der Hütte?

Für viele schon, für mich nicht. Anschließend führe ich ja nicht besser, sondern schlechter.

Tragen Sie auf der Piste einen Sturzhelm?

Ja, aber erst seit dem Unglück des früheren Ministerpräsidenten von Thüringen, Dieter Althaus. Eine Frau kam zu Tode.

Sollen die Olympischen Spiele auch nach Berlin kommen?

Ja, und sie sollten ein Höhepunkt für die gesamte Bevölkerung werden, nicht nur für den betuchten Teil. Berlin wäre doch schon deshalb gut, damit Olympia in dieser Stadt nicht mehr nur mit dem Bild von Hitler verbunden bleibt. Aber die Spiele selbst müssen sich vorher verändern.

Wofür stehen die Spiele noch?

Sport ist Spiel. Und Spiel darf alles. Spiel ist eine Erlaubnis, die von der Romantik ausgestellt wurde.

Schiller war am euphorischsten: Erst im Spiel sei der Mensch – ein Mensch.

Also auch im Sport. Und deshalb müssen die Spiele entkommerzialisiert werden.

Sport ist ein beglückendes Träumen. Denn Schlachten und Endkampf und Verfolgungsjagd und Schuss sind im Wettkampf Worte, die endgültig dem Frieden gehören, nicht mehr dem Krieg, desgleichen Begriffe wie Sieg und Niederlage. Sport ist und möge stets jenes gutmütige Vertrauen darauf sein, dass es zwar Starke und Schwache gibt, sich aber auch ohne Darwinismus so etwas wie ein lebenswertes Gleichgewicht entwickelt.

Im Sport, wenn er noch ehrlich, ohne Doping betrieben wird, lobt man die Gewinnenden – aber eben so, dass gleichzeitig auch jene geehrt werden, die es ansonsten in dieser Gesellschaft elend schwer haben: Letzte, oder noch schöner, Vorletzte.