FUSSBALL

»Ich stand im Tor, weil ich faul war«

Herr Gysi, über Sport haben wir schon mal gesprochen. Mögen Sie Fußball?

Ja. Ich bin der klassische deutsche Sachverständige: Ich hab’ keine Ahnung, schau’ mir aber alles an und weiß alles besser.

Sie sind Mitglied vom 1. FC Union Berlin.

Ja. Die Alte Försterei liegt in meinem Wahlbezirk, Treptow-Köpenick.

Stellen Sie sich vor, Union verschießt in der 89. Minute eines ganz wichtigen Spiels den entscheidenden Elfmeter. Wie reagieren Sie? Laut polternd oder in sich gekehrt und leise verzweifelnd?

Ich würde rufen: Das darf doch nicht wahr sein! Danach wäre ich in mich gekehrt und leise verzweifelt. Sehr verzweifelt. Nein, nein, natürlich nur in Maßen verzweifelt. Übertreibung gelingt mir selten.

Das hat Vor- und Nachteile.

Das hat Nach- und Vorteile.

Ihr erster Stadionbesuch war an der Alten Försterei. Gegen wen ging es?

Weiß ich nicht mehr.

Aber können Sie sich erinnern, mit welchem Gefühl Sie die Stufen zur Tribüne hinaufgingen?

Ich sah vor allem zu, einen Platz zu bekommen, von dem aus ich auch etwas sehen konnte vom Spiel. Das ist für mich bei Stehplätzen nicht immer so leicht.

Was hat Fußball in Ihnen langfristig ausgelöst?

Vor allem eine große Verbundenheit mit dem 1. FC Union, zumal ich Fans zu DDR-Zeiten regelmäßig anwaltlich vertreten musste. Nach fast jedem Heimspiel von Union hatte ich zwei Mandanten mehr in der Untersuchungshaftanstalt Rummelsburg. Beim BFC Dynamo hatte ich eine solche Quote nicht. Das heißt, von Union konnte ich leben, vom BFC nicht. Wenn ich mit Union-Fans zu tun hatte, konnte ich ihre unvergleichliche Bindung zum Verein spüren. Ich habe dem Gericht immer erklärt, dass sie einfach eine so große Leidenschaft haben und man da eben leicht mal durchdreht, gerade wenn man jung ist. In der Regel habe ich sie relativ schnell wieder rausbekommen. Union war übrigens der frechste Club in der DDR. Es gab eine Regel, dass Vorbestrafte in der Oberliga nicht mitspielen durften. Union hat das aber nicht interessiert.

Wie wichtig sind Vereine, die sich ihrer Wurzeln bewusst sind?

Ohne sie und ihre Aktivitäten im Kiez, in der Region wäre der Fußball wohl nur noch das reine Geschäft. Wenn man so will, hält der Vereinsgeist die Seele des Fußballs auf der Profiebene aufrecht. Was immer schwerer wird.

Als Politiker der Linken müssten Sie bei den aktuellen Entwicklungen im weltweit profitgierigen Fußballgeschäft die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen.

Ablösesummen, Gehälter, Beraterhonorare, Öl‑Millionen, TV‑Milliarden – das ist schon irre, wohin sich etwas entwickelt, wenn man dem Kommerz alles unterordnet. Wie viel vom Kulturgut Fußball übrig bleiben wird, darüber mag ich gar nicht spekulieren.

Wie in der deutschen Gesellschaft verschieben sich auch in den Stadien politische Grenzen. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Bis auf einzelne Fälle sind die Versuche von rechts, die Fankurven zu übernehmen, bisher gescheitert. Das sehe ich durchaus auch als Verdienst der Ultra-Bewegung an, das beim Umgang mit ihr zu wenig gewürdigt wird.

Dennoch gibt es immer wieder rassistische, homophobe oder antisemitische Ausfälle in den Stadien.

Weil man so etwas in der Anonymität der Masse einfacher herausschreien kann – da anonymisiert der Fanblock, so, wie auch das Internet. Es ist aberwitzig, denn in jeder Profimannschaft spielen heute ausländische Spieler. Die Polizei hat durch Deeskalation in Berlin die alljährliche Randale um den 1. Mai deutlich reduziert, das muss doch auch beim Fußball möglich sein. Und vielleicht sollte man sich bewusst immer mal wieder in die Haut der anderen Seite versetzen.

Wie bereitet sich Gregor Gysi auf ein Spiel vor?

Zunächst dürfen Sie meine erwähnte, in der Männerwelt übliche Unkenntnis nicht vergessen. Das ändert aber nichts daran, dass ich zumindest vor dem Fernseher regelmäßig meine, es besser zu wissen, und zwar immer für die Mannschaft, für die ich hoffe. Oft die schwächere.

Was macht die Fixierung auf einen Fußballclub für Männer so interessant?

Das fängt ja bei nicht wenigen im Kindesalter an, wird von den Vätern quasi übertragen. Da kann ich nur mutmaßen, dass eine solche Identifikation neben dem väterlichen Vorbild eben eine Möglichkeit ist, in großem Gemeinschaftsgefühl ein Ziel zu verfolgen, dabei erfolgreich zu sein oder auch zu scheitern.

Was gefällt Ihnen am Fußball?

Die Unvorhersehbarkeit des Ausgangs, die Schnelligkeit bei einer bleibenden Rarität der Tore. Fußball ist wie das Leben: Du planst einen Weg, einen Schritt, aber ein fremdes Bein kommt dazwischen. Fällst auch mal auf die Nase.

Warum sind die Fans beim Eishockey in der Regel friedlicher?

Das hat mir ein Psychologe erklärt: Die Aggressionen auf den Rängen werden dadurch abgebaut, dass schon die Spieler gegeneinander ordentlich zur Sache gehen. Die Fußballer sollen sich möglichst wenig berühren, was bei Fouls die Aggressionen bei den Fans ansteigen lässt. Fußballer sind aber auch schlechter geschützt als Eishockeyspieler, so dass es im Fußball deutlich schlimmere Verletzungen gibt. Darüber sollte man auch mal nachdenken.

Sind Fußballfans ein Spiegelbild der Gesellschaft?

Ja, speziell des männlichen Teils. Aber Fußballfans sind auch das, was man den gewitzten Volksmund nennt. Beim FC Sankt Pauli – wie schon mal geschildert – war ich eingeladen und stand in der Fankurve. Der Club spielte damals in der 1. Liga. Die Sprüche imponierten mir: »Nie wieder Faschismus, nie wieder 2. Liga!«. Der Torwart hieß Volker, also wurde gerufen: »Volker, hör die Signale!«

Lange Zeit war das Zeigen der deutschen Farben verpönt. Das hat sich spätestens 2006 grundlegend geändert. Sehen Sie das kritisch?

Die Weltmeisterschaft in Deutschland hat eine offene, selbstbewusste und zugleich tolerante Beziehung zum eigenen Land freigesetzt. Als ich in Berlin ein WM‑Spiel besuchte, kamen viele junge Leute mit Fahnen, Kleidung und Schminke in Schwarz-Rot-Gold. Sie sahen mich und sangen: »Gysi ist der Fußballgott«. Da wusste ich, das hat mit rechtsnationalem Gedankengut nichts zu tun.

Von Ihnen mal abgesehen: Gibt es einen Fußballgott?

Ich bin ja kein gläubiger Mensch, aber gerade beim Fußball gibt es Situationen, in denen auch ich geneigt bin, an ein höheres Wesen zu glauben. Übrigens, wenn ich den Zuschauenden trauen darf, haben wir bei Union nur Fußballgötter.