UNRECHTSSTAAT

»Diese elende Begriffsdogmatik«

Herr Gysi, kommen wir heute zum wichtigen Gesinnungstest.

Wie bitte?

Der Test, ob Sie DDR-kritisch genug sind.

Ich fang schon mal an zu essen.

Sie haben immer darauf beharrt, dass die DDR kein Unrechtsstaat war. Warum?

Ehrlich gesagt: Der Streit darüber ist müßig.

Ich frage trotzdem: Warum?

Es gibt keine wissenschaftliche Definition des Unrechtsstaats. Die USA haben Geheimlager in Polen, in Rumänien und Marokko unterhalten. Sie haben dort Menschen aus Afghanistan eingesperrt und mit Genehmigung gefoltert. Menschen, die nicht einmal wussten, wo sie sind, die keinen Kontakt nach draußen hatten, zu niemandem. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass die USA ein Unrechtsstaat sind. Wer sagt, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, der delegitimiert fast alles und alle, auch die Biographien der Menschen, die in der DDR gelebt haben. Das will ich nicht. Was nicht außer Kraft setzt, dass es in der DDR Unrecht gab, das nicht kleinzureden ist und ihre Abschaffung bewirkte.

Unrecht – installiert von einer Partei, die Sie im Dezember 1989 übernahmen.

Sollten die Ideen von Marx und Engels, von Liebknecht und Luxemburg denn untergehen dürfen? Die DDR hatte diese Ideen ziemlich kaputt gemacht, und mein Wunsch war, das zu ändern. Eine neue Partei zu gründen wäre sinnlos gewesen, also entstand in mir und anderen, die ich schätzte und die ich mochte, die Frage, ob man denn die SED so reformieren kann, dass sie dann diesen Idealen einigermaßen entspricht. Marx und Engels wollten vieles, aber die DDR hätten sie so bestimmt nicht gewollt.

Der Begriff des Unrechtsstaates ist wissenschaftlich nicht zu definieren?

Nein, juristisch auch nicht.

Im Gegensatz zur Diktatur?

Diktatur ist ein wissenschaftlicher Begriff, damit kann man umgehen. Die DDR war eine Diktatur, es gab und gibt aber auch andere, anders geartete Diktaturen. Natürlich kann und muss man sie vergleichen, aber man sollte sie nicht pauschal gleichsetzen und damit Unterschiede abwürgen.

Systeme sind nicht miteinander identisch, nur weil sie Diktaturen sind?

Das Regime Pinochets war ein gänzlich anderes als das von Hitler. Unrechtsstaat … Dieser Begriff wurde geprägt vom Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer. Und zwar für den NS‑Staat. Als konsequenter Kämpfer gegen alte und neue Nazis in der Bundesrepublik sagte Bauer den bezeichnenden Satz: »Immer wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland.« Mir ist der Begriff suspekt, wenn er anders verwendet wird. Meine Eltern haben gegen den Unrechtsstaat der Nazis gekämpft. Das Attribut so ohne Weiteres auf die DDR anzuwenden, bedeutet im Klartext: Menschen wie meine Eltern haben den einen Unrechtsstaat bekämpft, um einen gleich gearteten Staat wiederaufzubauen. Das ist für mich inakzeptabel.

Die Ziele der Kommunisten waren edle Ziele, viele ihrer Methoden nicht.

Bei den Nazis dagegen gab es kein edles Ziel, kein einziges.

Standen Sie nach 1989 in Gefahr, die DDR zu verklären?

Ich habe immer kritisiert, wenn Mitglieder meiner Partei die DDR in einem Maße verteidigt haben, wie sie es nicht verdient hat – nur weil sie damit ihre eigene Biographie verteidigen wollten. Aber ich habe das, was gut an der DDR war, nie verleugnet.

Dieser Reflex als eine Art Ehrenrettung für Ihre Eltern?

Unbewusst vielleicht.

Im Herbst 1989 hätten Sie zur Bürgerbewegung gehen können.

Die Leitung des Neuen Forums kam zu mir und sagte, willst du nicht Mitglied werden? Sagte ich, nee. Fragten die: Warum denn nicht? Sage ich, weil ich weiß, wogegen ihr seid, dagegen bin ich auch, aber ich weiß gar nicht, wofür ihr seid. Das ist mir zu wenig. Daraufhin sagten sie, du kannst ja mitbestimmen, wofür wir sind. Dann habe ich gesagt, passt auf, ihr braucht mich nicht mehr. Ich habe euch vertreten, als ihr nicht zugelassen wurdet, als euch Partei-, Staats- und Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen wurde, jetzt seid ihr zugelassen, euch passiert nichts mehr. Jetzt geht es der Partei an den Kragen, der ich seit 1967 angehöre, jetzt muss ich ihr helfen.

Woran scheiterten die Bürgerrechtler bei der ersten freien Volkskammerwahl der DDR im März 1990?

Sie hatten eine solche Sonderrolle in der DDR, dass sie später gar nicht Repräsentanten einer Gesamtbevölkerung hätten sein können. Die meisten wollten das übrigens auch gar nicht. Viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger hatten immer den Eindruck, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler wollten sie als zu angepasst vorführen oder brandmarken. Was ja zum Teil seine Berechtigung hatte. Aber eine Bevölkerung wählt nicht gern ihre Richter.

Zurück zum Unrechtsstaat. Sie haben Ihre SED-Mitgliedschaft nie grundsätzlich in Zweifel gezogen.

Weil ich davon überzeugt war, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Und wenn du in einer Struktur lebst und dich an diese Struktur gewöhnst, dann willst du ja auch nicht permanent im Widerspruch zu ihr stehen. Ich habe dem System manches nachgesehen, weil es unter diesen sehr konkreten historischen Bedingungen existierte. Der Kalte Krieg, die Auseinandersetzung mit dem Westen diktierten ja vieles.

Sie sprachen in Interviews von einer ideologischen Kampfvokabel.

Das ist etwas, das ich überhaupt nicht mag an Deutschland – diese elende Begriffsdogmatik. Da kann einem der Appetit, den Sie mir wünschen, schon mal vergehen. Es genügt öffentlich nicht, dass ich sage, und ich wiederhole es gern tausendmal: In der DDR gab es staatlich angeordnetes Unrecht, das ist unverzeihlich, und zum Glück ist das erledigt – Punkt. Das als klare Aussage genügt aber nicht. Nein, ich soll mich fortwährend verpflichten lassen zu diesem Terminus Unrechtsstaat! Erst dieses Wort ist der Stempel, der mich beglaubigt, der mich moralisch richtig einordnet?

Ist das Druck, der vom Mainstream ausgeht?

Na klar. Menschen, denen unser damaliges System Schaden und Schmerz zufügte, denken anders. Das weiß ich. Aber besagtem Mainstream beuge ich mich nicht. Ich will und werde anderen nicht verwehren, diesen Begriff vom Unrechtsstaat zu verwenden, wenn sie von der DDR reden. Ich selber nehme mir aber das Recht eigener Einordnungen.